Obduktionen zu Butscha: Kein Massaker, keine Russen ...
von Dagmar Henn
Langsam scheint sich die Geschichte von Butscha aufzulösen. Zumindest so weit, dass die Eindeutigkeit, mit der zum einen ein Verbrechen und zum anderen eine russische Verantwortung dafür behauptet wurde, nicht haltbar ist.
Zwei der zentraleren westlichen Medien, der britische Guardian und die Washington Post, veröffentlichten jetzt Obduktionsergebnisse von Toten aus Butscha, die ergaben, dass sie Flechette-Munition zum Opfer gefallen seien. Flechette sind Schrapnelle in Gestalt von kleinen Metallpfeilen. Sie benennen sogar die Munition, aus der diese Pfeile stammen – 3Sh-1, abgefeuert aus einer 122-mm-Haubitze des Typs D-30.
Damit handelt es sich also um Opfer von Artilleriebeschuss. Aber auch wenn natürlich beide Zeitungen weiter erklären, es handele sich um russische Artillerie, ganz so einfach ist die Lage nicht. Schließlich gebrauchen beide Seiten in der Ukraine, wenn auch zu unterschiedlichem Grad, alte sowjetische Rüstung, wozu die Haubitze D-30 ebenso gehört wie die auf ihr beruhende selbstfahrende Haubitze "Nelke". Und 122 mm war ein Standardkaliber der sowjetischen Armee.
Mehr noch, erst vor wenigen Wochen wollte Estland genau solche Haubitzen an die Ukraine liefern, und die Bundesregierung blockierte diese Lieferung, weil sie aus alten NVA-Beständen stammen und daher ihre Zustimmung erforderlich ist. Der Grund dafür, diese alten Geschütze zu liefern, besteht natürlich darin, dass diese Waffe bereits in Gebrauch und daher vertraut ist. Es ist also unmöglich abzustreiten, dass ein Geschoss aus einer D-30 ebenso gut ein ukrainisches sein kann.
Der Spiegel hat die Meldung der beiden englischsprachigen Medien aufgegriffen und noch ein wenig ausgeschmückt. "Nach Recherchen mehrerer Medien sind in Butscha zahlreiche Zivilisten Opfer sogenannter Flechette-Artillerie geworden. Die archaische Waffengattung kam schon im Ersten Weltkrieg zum Einsatz – und tötet besonders grausam." Das klingt natürlich passend gruselig und lässt sich gut mit dem stetig gepflegten Bild des animalischen, blutrünstigen Russen kombinieren. Allerdings ist die Behauptung, diese Munition "tötet besonders grausam", schon kühn.
Letztlich dürfte es den Opfern, die durch Splitter gleich welcher Munition ums Leben kommen, herzlich egal sein, ob es sich dabei um altertümlichere Varianten wie Flechette-Pfeile oder um neuere Varianten handelt, bei denen weißglühende Metallfetzen durch die Luft fliegen. Das Ergebnis ist letztlich das gleiche, wie man bei der auf Donezk abgeschossenen Totschka-U sehen konnte. Der größte Unterschied besteht in der deutlich höheren kinetischen Energie der Schrapnelle aus später entwickelter Munition, weshalb sich keine erkennbaren Formen mehr finden.
Und das Ziel des Einsatzes von Artillerie besteht immer darin, entweder Geräte oder Personal des jeweiligen Gegners zu zerstören. Nette Munition gibt es nicht, Kanonen schießen nie mit Plüschbären (wobei selbst ein Plüschbär bei entsprechender kinetischer Energie ein tödliches Geschoss sein könnte).
Wenn es sich aber um einen Einsatz von Artillerie handelt, ist es deutlich schwieriger, ein Kriegsverbrechen zu belegen. Artillerie schießt aus der Entfernung; die D-30 hat eine Reichweite von 15 Kilometern. Das heißt normalerweise, der Richtschütze erhält Koordinaten für ein Ziel, das er selbst nicht mehr sehen kann; und ein Verbrechen wäre ein Artilleriebeschuss nur, wenn sich an dem beschossenen Ort kein militärisches Ziel befand, dies der Person, die den Befehl erteilte, bewusst war, und es sich um keinen Fehler des Artilleristen handelte.
Zurück zur D-30. Diese Haubitze wurde außer in der UdSSR auch im Irak, in Ägypten, in Jugoslawien und in China hergestellt. 1978 wurde die ursprüngliche Version in der Sowjetunion durch die modifizierte Variante D-30A ersetzt. Nach Angaben der russischen Wikipedia wurden diese in der russischen Armee ab Februar 2013 außer Dienst gestellt und durch modernere Geschütze ersetzt; weiter in Gebrauch blieben sie demnach nur bei einzelnen Einheiten: den Luftlandetruppen, der 30. motorisierten Schützenbrigade und dem 22. Marineinfanteriekorps auf der Krim.
Der Bestand an D-30 auf Seiten der Ukraine lag 2020, wieder laut russischer Wikipedia, bei etwa 125, und bei der selbstfahrenden Version bei etwa 250 bis 300. Noch etwa 340 "Nelken" sind bei der russischen Armee im Einsatz. Ein Teil des ursprünglichen ukrainischen Bestandes dürfte sich seit 2014/15 im Besitz der beiden Donbass-Republiken befinden, aber die Ukraine dürfte aus Polen und anderen Ländern in jüngerer Zeit noch weitere Exemplare geliefert bekommen haben. Rein rechnerisch unterscheiden sich die Arsenale nicht. Allerdings ist nur ein Teil der russischen Armee in der Ukraine im Einsatz, was dann, ganz abstrakt, ein ukrainisches Geschütz wahrscheinlicher macht (wenn man die vorhandenen Exemplare gleichmäßig verteilt).
Nun hat Der Spiegel die Einheit benannt, der er ein Verbrechen in Butscha vorwirft: die 64. motorisierte Infanteriebrigade. Sollte die Angabe der russischen Wikipedia zutreffen, ist das allerdings eine Einheit, die keine D-30 mehr in Gebrauch hat. Nun, das ist noch keine vollständig verlässliche Information; aber es lässt sich bei Wikipedia feststellen, dass die Aussagen zu den Einheiten, die noch D-30 besitzen, nicht in jüngster Zeit geändert wurden.
Die nächste zu klärende Frage wäre also: Hat die Ukraine im Verlauf der letzten acht Jahre diese spezifische Munition eingesetzt? Ja, hat sie; es gibt aus dem Donbass Belege über ihren Einsatz sowohl in Slawjansk als auch auf dem Gebiet der Lugansker Volksrepublik. Wobei es sich dabei um Einsätze gegen die Zivilbevölkerung handelte. Man kann also davon ausgehen, dass nicht nur das entsprechende Geschütz, sondern auch die Munition auf ukrainischer Seite vorhanden ist.
So lieferten russische Blogger noch im Jahr 2014 Bilder von einer verlassenen ukrainischen Artilleriestellung bei Slawjansk mit in den Gräben verstreuten D-30 Geschossen und deren Füllmaterial:
Auch später sammelten die Augenzeugen in den beiden Donbass-Republiken immer wieder pfeilartige Splitter an den der ukrainischen Streitkräften beschossenen Orten und stellen sie ins Netz:
Und nun gibt es in dem Artikel der Washington Post eine seltsame Aussage, mit der eine Anwohnerin zitiert wird. Besagte Frau hat einen Haufen solcher Metallpfeile in ihrem Garten liegen. "Sie durchkämmte ihren ummauerten Garten nach ihnen, sagte sie, nachdem eine russische Artilleriegranate, die sie brachte, irgendwo über ihr explodierte, Tage, ehe sich die Russen Ende letzten Monats zurückzogen."
Die Washington Post sprach also mit einer Zeugin, die von einem Beschuss spricht, als die Stadt noch unter Kontrolle der russischen Armee war. Das klingt nun doch etwas eigenartig, und es verwundert, dass der Autor nicht darüber stolpert. Wenn das russische Militär in der Stadt ist, warum sollte dieses russische Militär sie dann mit Granaten beschießen? Selbst wenn man davon ausgeht, die Angaben in der russischen Wikipedia wären falsch, macht solch ein Beschuss schlicht keinen Sinn. Üblicherweise schießen diejenigen in einen Ort hinein, die hinein wollen, und die, die drin sind, schießen heraus. Warum sollte es also zu diesem Zeitpunkt eine russische Granate sein?
Was übrig bleibt, sind also nicht weniger, sondern mehr Fragezeichen hinter der Version, die ursprünglich verbreitet wurde. Die Frage der weißen Armbinden wurde nach wie vor nicht geklärt; die vorgetragenen Obduktionsergebnisse sprechen für eine Artilleriegranate, aber verstärken die Zweifel daran, dass sie von der russischen Armee stammte, und ob es zum Zeitpunkt dieses Beschusses dort ein legitimes militärisches Ziel gab, ist ebenfalls nicht klar, weil "Tage, ehe sich die Russen zurückzogen", dafür eine viel zu ungenaue Zeitangabe ist, selbst wenn alle Satellitenbilder öffentlich wären. Aus Geschütz und Munition lassen sich nur Wahrscheinlichkeiten ableiten, und die sprechen eher gegen eine russische Verantwortung.
Nun aber zu hoffen, die hiesigen Medien mögen daraus eine Lehre ziehen und künftig etwas weniger voreilig von "russischen Massakern" schreiben, ist wohl vergeblich. Wie die Darstellung dieser neuen Details belegt, sorgen nicht einmal die dadurch entstandenen Widersprüche für eine Korrektur; zur Not redet man eben von einer Munition, die "besonders grausam tötet", wie Der Spiegel, und übergeht die aufgeworfenen Fragen völlig. Schließlich soll nichts die Emotionen trüben, wenn schon Ursula von der Leyen sich vor den Leichensäcken fotografieren ließ.
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