An der Schwelle zu einer neuen Welt – wagen wir den ersten Schritt?
von Alexei Sensinow
In der schwedischen Stadt Uppsala, berühmt für die älteste Universität Skandinaviens, wurde das Konzert einer Gruppe abgesagt. Die Musiker wollten es zur Unterstützung der Ukraine veranstalten, aber leider berücksichtigten sie nicht die subtilen seelischen Feinheiten von Malorossija. Immerhin spielen einige der Interpreten Balalaikas, und die bloße Präsenz dieser Instrumente auf der Bühne ist angeblich ein symbolischer Akt zur Unterstützung des "russischen Aggressors". Weiter – es kommt noch besser.
Die in Genf ansässige "World Federation of International Music Competitions" (WFIMC) hat den internationalen Wettbewerb "The International Tchaikovsky Competition" von ihrer Mitgliedschaft ausgeschlossen. Die Leiter der Organisation sind der Meinung, dass das russische "Regime" diesen Wettbewerb "als Instrument der Propaganda" einsetzt.
Eine harsche Erklärung erteilte die Direktion der "Filmfestspiele von Cannes", die im Mai 2022 stattfinden sollen: "Wir werden keine offiziellen russischen Delegationen willkommen heißen und die Anwesenheit von Personen nicht zulassen, die mit der russischen Regierung in Verbindung stehen." Allerdings gibt es noch eine kleine, fast unbedeutende Chance für Russland: Das Verbot werde aufgehoben, "wenn die militärische Operation unter solchen Bedingungen endet, die das ukrainische Volk zufriedenstellen".
Bereits vor Beginn der "speziellen militärischen Operation" haben besonders weitsichtige Israelis die Tour des "Staatlichen Akademischen Wachtangow-Theaters Moskau" abgesagt. Das Theater hätte zweimal das Stück "Krieg und Frieden" nach dem Roman von Leo Tolstoi zeigen wollen und sollen. Aber kann es erlaubt sein, in der aktuellen geopolitischen Situation einen solchen Titel auf ein Plakat zu setzen, und dazu noch mit dem russischen Nachnamen des Autors? Ohne Resultat blieben die Verhandlungen über eine geplante Tournee des Bolschoi-Balletts im Theater "Drury Lane" in Covent Garden, London. Einbußen gibt es auch in der heimischen Kulturszene: Das russische Publikum hat die Premiere "Die Kunst der Fuge" zur Musik von Johann Sebastian Bach im Bolschoi-Theater letzten März nicht sehen können – der Choreograph Alexei Ratmansky hat Russland verlassen.
Auch die Primaballerina Olga Smirnowa verabschiedete sich vom Bolschoi-Theater. Es gibt zwei Gründe, und beide sind gewichtig: Erstens der Wechsel in die Truppe des niederländischen Nationalballetts und zweitens ihre nun empfundene "Scham für Russland". Olga Smirnowa ist nach eigenen Angaben zu einem Viertel Ukrainerin, doch sie schämte sich nicht für Mütterchen-Ukraine, als man auch Kinder von Donezk und Lugansk mordete.
Dann gibt es noch Fernreisende ohne Abschied. Sie schämen sich auch, doch sie haben es nicht so eilig, damit in die Öffentlichkeit zu gehen. Viele sind nicht unbedingt Stars des Showbusiness, die in Scharen in wärmere Gegenden aufbrachen und sich erst später erinnerten, wo eigentlich die lebensspendende Quelle sei, die sowohl Inspiration als auch Nahrung gibt – im ungeliebten und doch unbeschwerten und vor allem grosszügigen Russland.
Auch Operndiven neigen zum ständigen Hin und Her. Die Starsopranistin Anna Netrebko war zunächst nicht in der Lage, eine Verurteilung des russischen Militärs aus sich herauszupressen, und als die richtigen Worte gefunden waren, meinte der Direktor der Metropolitan Opera Peter Gelb, der den Vertrag mit Netrebko kündigte, sie habe sich noch nicht stark genug von Putin distanziert. In Russland nahm man an, sie habe so oder so einen falschen Ton erwischt – jedenfalls hat das Opern- und Ballett-Theater Nowosibirsk ihr für den 2. Juni geplantes Konzert abgesagt.
Musik, Ballett, Oper, Schauspiel, Kino – wer nimmt noch Platz im Schützengraben? Ausländische Autoren lehnen die Zusammenarbeit mit russischen Verlagen ab. Bisher ist es von den berühmtesten Schriftstellern nur Stephen King, der die Rechte zur Veröffentlichung eines neuen Romans nicht nach Russland übertragen wird. Und es besteht kein Zweifel, dass sehr bald auch von allen Schriftstellern, deren Bücher in unserem Land bekannt sind und gelesen werden, verlangt wird, Position zu beziehen. Insbesondere wird sich das auf die Kinderliteratur auswirken – sie legt den Charakter und die Überzeugungen in einer Person fest. Diese Gattung zu sanktionieren ist von unseren Gegnern zu erwarten, weil das nicht weniger wichtig ist, als die Industrie zerstören oder Banken ruinieren zu wollen.
Was wird als nächstes geschehen? Wie lange ist der Westen bereit, seinem Weg des Wahnsinns und der Schande zu folgen? Die Spezialoperation wird enden, aber die Sanktionen werden bestehen bleiben – schon allein deshalb, weil die USA und seine Satellitenverbündeten nicht in der Lage sein werden, sich mit dem Sieg Russlands abzufinden. Und die Spaltung zwischen uns und ihnen wird nicht nur militärisch-politisch, finanziell-ökonomisch oder kulturell bestehen bleiben. Wir divergieren zivilisatorisch, und das bedingt die Notwendigkeit, internationale Organisationen von Grund auf neu zu bilden und eine neue Weltwährung zu schaffen (wenn auch nur für einen Teil der Welt), aber auch neue Medien und Regeln für ihre Arbeit, eine neue Diplomatie, neue internationale Wettbewerbe, Festivals und Wettkämpfe – kreative, technische, sportliche werden entstehen. Anstelle des Nobelpreises, der auch zuvor oft nur Misstrauen hinsichtlich seiner angeblichen Unvoreingenommenheit weckte, sollten neue prestigeträchtige Auszeichnung entstehen, deren Erhalt von den maßgeblichsten Wissenschaftlern, Schriftstellern und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens als Ehre angesehen und empfunden wird.
Zunächst wird Russland mit wenigen Verbündete weiterleben, doch je unhöflicher und törichter sich die Herrschenden in Washington, London und Brüssel uns gegenüber benehmen, desto öfter werden wir die Unterstützung der einfachen Bürger und danach der Regierungen verschiedenster anderer Staaten erhalten. Selbstverständlich ist das keine Wandlung innerhalb von ein oder zwei Jahren und vielleicht nicht einmal in zehn Jahren zu erleben. Wohlgemerkt können wir jedoch feststellen, wie schnell heute Veränderungen stattfinden, die früher viel länger gedauert hätten. Und man kann davon ausgehen, dass wir bereits an der Schwelle zu einer neuen Welt stehen. Wir wagen nur noch nicht, den ersten Schritt zu gehen.
Übersetzt aus dem Russischen.
Alexei Sensinow ist ein russischer Bühnenautor und Dramaturg.
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