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Die Ukraine gewinnt den Kampf auf Twitter – nicht aber in der Realität des Krieges

Behauptungen, die Ukraine stehe auf dem Schlachtfeld vor einem Sieg, sind bestenfalls ein Wunschdenken, das vor allem in Kiew und Washington herrscht. Aber an der Front herrscht eine harte Realität, an der kein Wahrnehmungsmanagement von Wladimir Selenskij oder dessen amerikanischen Partnern etwas ändern kann.
Die Ukraine gewinnt den Kampf auf Twitter – nicht aber in der Realität des KriegesQuelle: www.globallookpress.com © Fernando Gutierrez-Juarez

von Scott Ritter

Die Berichterstattung der westlichen Medien über den Ukraine-Konflikt ist so hysterisch einseitig und  von der Realität dermaßen losgelöst, dass es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit ist, bis der einstige irakische Propagandaminister "Comical Ali" aus dem Ruhestand geholt wird, um darauf zu bestehen, dass keine Russen in Richtung der Frontlinien der ukrainischen Armee vorstoßen. Unterdessen führen die wirklichen Kämpfe am Boden für die angeschlagenen ukrainischen Streitkräfte zu weiteren Niederlagen. Trotz beispielloser Unterstützung durch die USA und deren Verbündeten haben sie bereits die Kontrolle über zwei große Städte verloren.

Während US-amerikanische Offizielle mit der Regierung des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij zusammenarbeiten, um ein Narrativ von Kiews Sieg gegen das russische Militär zu entwickeln, kontert Moskau mit einer harten Dosis Realität.

Nach seinem dramatischen Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew, wo er gemeinsam mit Verteidigungsminister Lloyd Austin den Präsidenten Selenskij traf, gab US-Außenminister Antony Blinken vor dem amerikanischen Kongress zu Protokoll, dass das Ziel der Ukrainer in ihrem zwei Monate währenden Kampf mit Russland gewesen sei, "die Russen aus dem Territorium verdrängen, das sie in der Ostukraine zu besetzen versuchen". Blinken fügte hinzu, dass die Regierung von Joe Biden Kiew "die volle Unterstützung" zugesagt habe, um dieses Ziel zu erreichen.

Der Außenminister ergänzte, Selenskijs Absicht bestehe darin, das russische Militär so zu erodieren, dass es "im nächsten Monat, im nächsten Jahr oder auch in fünf Jahren" nicht in der Lage sein werde, die Ukraine anzugreifen. Damit ging Selenskij auf Schulterschluss mit Lloyd Austin, der erklärt hat, das Ziel der USA sei, "Russland geschwächt zu sehen", damit es nicht mehr "die Dinge tun kann, die es [in der Ukraine] getan hat".

Der Optimismus von Blinken, Austin und Selenskij entspringt der gemeinsamen Umarmung eines Narrativs über die russische Militäroperation gegen die Ukraine, das besagt, dass die Russen dabei sind, eine strategische Niederlage in der Ukraine zu erleiden.

Als Zeichen dafür, dass dieses Narrativ kaum mehr als ein Wunschdenken seitens dieser drei Protagonisten darstellt, vertrat der Vorsitzende des US-Generalstabs, General Mark Milley, eine nuanciertere Sichtweise auf die Dinge, die er als "Aggression gegen die Ukraine" bezeichnete. "Sollte Russland aus dieser Sache rauskommen, ohne einen Preis dafür zu zahlen, dann gefährdet das die globale internationale Sicherheitsordnung, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs besteht." Weit davon entfernt, Optimismus in Bezug auf den Ausgang des russisch-ukrainischen Konflikts auszustrahlen, spiegeln die Äußerungen von Milley ein Gefühl der Dringlichkeit wider, das mit der Erkenntnis einhergeht, dass der Krieg in der Ukraine einen kritischen Punkt erreicht hat.

Die Kluft zwischen Wahrnehmung und Realität bei der Bewertung des russisch-ukrainischen Konflikts ist eine direkte Folge der verwirrenden Natur des Konflikts selbst, in dem eine gut geölte Propagandakampagne seitens der Ukraine, gemeinsam mit ihrer wichtigsten westlichen Partnern, sowohl auf Regierungsebene als auch in den Medien, den Blick verstellte. Diese Maßnahme steht im Gegensatz zu russischen PR-Bemühungen, die zurückhaltend sind und die sich auf die russischen strategische Ziele und Zielsetzungen fokussieren, ganz zu schweigen von den alltäglichen Details der Kämpfe vor Ort. Das Ergebnis ist ein Informationskrieg, in dem zwei konkurrierende Narrative einen ungleichen Konflikt führen und die Wahrnehmung letztendlich von der Realität übertrumpft wird.

Einige raue Tatsachen

Während die russische Militäroperation in der Ukraine in den dritten Monat geht, sind einige raue und harte Tatsachen ans Licht gekommen, die künftige Bewertungen verändern werden, sowohl über die russischen Streitkräfte als auch bezüglich der Sicht auf die moderne Kriegsführung. Nur wenige Analysten – einschließlich der Autor dieser Zeilen – haben erwartet, dass ein ernsthafter ukrainischer Widerstand länger als einen Monat andauern wird. Tatsächlich hatte General Milley den Kongress Anfang Februar während einer Anhörung hinter verschlossenen Türen darüber informiert, dass eine umfassende russische Invasion in der Ukraine innerhalb von 72 Stunden zum Fall von Kiew führen könnte.

Für eine solche Einschätzung gab es mehrere Gründe. An erster Stelle standen die umfangreichen Vorbereitungen Russlands im Vorfeld des militärischen Einmarsches. Die Verlegung von Hunderttausenden von Truppen, zusammen mit Ausrüstung und den logistischen Mitteln, um sowohl Mannschaften als auch Material im Kampf zu halten, ist keine triviale Übung. Russland war mit militärischen Übungen beschäftigt, die sich über mehrere Monate erstreckten, um damit diese Logistik zu perfektionieren. Das russische Militär wird von Offizieren geführt, die sich durch Stabsarbeit und Stabsvorbereitung auszeichnen. Und anzunehmen, dass sie jede Situation geplant hatten, die auf dem Schlachtfeld auftreten könnte, ist keine abwegige Vorstellung.

Dogmatisch wurde das russische Militär für jene Art der Kriegsführung zusammengestellt, auf die man sich vorbereitet hatte. Ihre überwältigenden Vorteile in Masse und Feuerkraft wurden optimiert, um genau die Ergebnisse auf dem Schlachtfeld zu erzielen, die von den meisten Beobachtern erwartet wurden: Die Zerstörung der feindlichen Verteidigung in der Tiefe durch massive Feuerkraft der Artillerie, gefolgt von einem aggressiven Panzerangriff, der weit in die rückwärtigen Bereiche des Feindes eindringt und Verwirrung und Zerrüttung stiftet, was zu einem raschen Verlust der Kampfkraft des Angegriffenen führen soll.

Ein russisch-ukrainischer Krieg würde immer in erster Linie ein Bodenkrieg sein. Weder von der ukrainischen Luftwaffe noch von ihrer Marine wurde erwartet, dass sie ihrem russischen Gegner einen dauerhaften, überlebensfähigen Widerstand leisten könnten. Während die ukrainische Armee seit dem Jahr 2015 als de facto Stellvertretertruppe der NATO ausgebildet und ausgerüstet wurde, war die Realität die, dass sie seit dem Jahr 2014, als sie lediglich rund 6.000 kampfbereite Truppen aufstellen konnte, schnell auf eine operationelle Zusammensetzung ausgeweitet worden war, die rund 150.000 Soldaten in 24 Brigaden organisieren sollte. Die Erwartung, dass die Ukraine in der Lage sein würde, mehr als einfache kombinierte Waffenoperationen auf Bataillonsebene zu perfektionieren, das heißt den koordinierten Einsatz von Feldkräften in Zusammenarbeit mit Artillerie und Luftunterstützung blieb reines Wunschdenken.

Und obwohl die Ukraine große Anstrengungen unternommen hatte, um von einem reinen Militär aus Wehrpflichtigen zu einem Militär überzugehen, in dem etwa 60 Prozent seines Personals von professionellen Vertragssoldaten gestellt wurde, geführt von erfahrenen Unteroffizieren, kann man eine solche Truppe nicht in so kurzer Zeit aufbauen. Die ukrainische Armee hatte einfach nicht genug Zeit, damit sich eine schmale Führungsebene bilden und reifen konnte, eine von der Art, die eine militärische Streitmacht unter der Belastung und den Zwängen eines anhaltenden Kampfes zusammenhält, was viele zu der Einschätzung verleitete, dass die ukrainische Armee zusammenbrechen wird, sobald sie unter den Druck einer russischen Kriegsführung gerate.

Die folgende Analyse setzt sich zusammen aus öffentlich zugänglichen Berichten von Journalisten, die in das russische Militär und die Streitkräfte der Volksrepublik Donezk eingebettet sind, sowie aus den täglichen Lageberichten des russischen Verteidigungsministeriums sowie den Erklärungen der ukrainischen Seite.

Die erste Phase des Krieges

Innerhalb der ersten Woche nach Beginn der russischen Operation wurde den meisten klar, dass viele der getroffenen Annahmen fehlerhaft und/oder falsch waren. Als Erstes hatte sich Moskau dafür entschieden, seine Streitkräfte nicht gemäß der Standarddoktrin einzusetzen, sondern einen leichten Ansatz gewählt, der aus einer konzertierten Anstrengung zur Minimierung ziviler Opfer und Schäden an der zivilen Infrastruktur hervorgegangen zu sein scheint. Diese Entscheidung basierte auf einem grundlegenden Missverständnis der Realität der Situation vor Ort in der Ukraine.

Die Entlassung von 150 Beamten der 5. Abteilung des Russischen Föderalen Sicherheitsdienstes (FSB), die für Operationen im sogenannten "nahen Ausland", was die Ukraine mit einschließt, verantwortlich waren, fiel zusammen mit der Verhaftung von Sergei Beseda, dem ehemaligen Leiter des russischen Sicherheitsdienstes. Beides deutet darauf hin, dass Russland ein Geheimdienstversagen erlitten hat, wie es seit dem israelischen Versagen während des Jom-Kippur-Krieges im Oktober 1973, die Überquerung des Suezkanals durch ägyptische Truppen vorherzusagen, nicht mehr gesehen wurde.

Während sich die russische Regierung vor Beginn der Militäroperation wegen möglicher Mängel in Bezug auf die Arbeit der 5. Abteilung wie üblich in Schweigen hüllte, deuten die Erklärungen der russischen Führung darauf hin, dass das ukrainische Militär in seinen Kasernen bleiben und die zivile Führung in den Städten die Militäroperationen Russlands nicht stören würden. Es liegt nahe, dass diese Annahmen auf der Grundlage von Informationen der 5. Abteilung getroffen wurden.

Dass diese Annahmen, falls sie tatsächlich gemacht wurden, sich in Kombination mit der Bereitschaft des ukrainischen Militärs, die ersten Stoßtrupps der russischen Streitkräfte anzugreifen, als so grundlegend falsch erwiesen haben, deutet darauf hin, dass die Arbeit der 5. Abteilung durch ukrainische Sicherheitskräfte sabotiert wurde, denen es wohl gelungen war, die Kontrolle über russische Geheimdienstquellen in der Ukraine zu unterwandern um dadurch Falschinformationen an die russische Führung weiterzugeben.

Tatsache ist, dass die ersten russischen Stoßtrupps, die kühn in die Ukraine vordrangen, was normalerweise mit einer Offensivoperation einhergeht, dies ohne jegliche Art von Aufmerksamkeit für die Sicherung des Vorstoßes oder den Flankenschutz taten, und von gut vorbereiteten ukrainischen Hinterhalten überfallen und vernichtet wurden. Anstatt sich dem russischen Druck zu beugen, behauptete sich die ukrainische Armee – sowohl die reguläre als auch die Territorialstreitkräfte – und kämpfte mit großer Wirkung, indem sie Waffen zur Panzerabwehr einsetzte, hauptsächlich in den USA und Großbritannien hergestellte Javelin und NLAW. Es war, um eine amerikanische Umgangssprache zu verwenden, das reinste Truthahnschießen. Und die ukrainische Regierung nutzte mit großer Wirkung die Videos, die aus solchen Kämpfen an die Öffentlichkeit kamen, um weltweit die öffentliche Meinung über die Wirksamkeit der ukrainischen Verteidigung zu formen.

Die Beschränkungen der ukrainischen Streitkräfte erlaubten es ihr jedoch nicht, ihre beeindruckenden taktischen Siege in erfolgreiche operative und strategische Ergebnisse umzuwandeln. Trotz anfänglicher kostspieliger Rückschläge drängte die russische Armee mit ihren Angriffen erfolgreich nach vorne und erzielte beeindruckende Gewinne im Süden, wo russische Streitkräfte, die von der Krim aus operierten, die strategische Stadt Cherson sicherten und auf die ebenso wichtige Stadt Mariupol vorrückten. Dort schlossen sie sich mit russischen und alliierten Streitkräften aus der Republik Donezk zusammen, um die ukrainischen Streitkräfte in Mariupol zu umzingeln. Schließlich kesselten sie die Überreste der ukrainischen Verteidiger, die mehrere Tausend Mann zählten, in der Unterwelt aus Stahl und Beton der Stahlfabrik Asowstal ein.

Weiter nördlich rückten die russischen Streitkräfte zusammen mit den Streitkräften der Republiken Donezk und Lugansk nach Westen vor, um die ukrainischen Streitkräfte aus ihren befestigten Verteidigungsanlagen zu vertreiben und die Kontrolle über das gesamte Territorium zu erlangen, das die Region Donbass umfasst.

Die "Schlacht um Kiew"

Während die Sicherung der territorialen Integrität der Donbass-Region eines der Hauptziele der russischen Militäroperation war, führte Russland umfangreiche Unterstützungsoperationen durch, um diese Ziele zu erreichen, einschließlich eines Vormarschs zu Ablenkung in Richtung Kiew, um die ukrainischen Streitkräfte dort an Ort und Stelle zu binden und zu verhindern, dass Verstärkungen von dort an die Front im Osten verlegt werden konnten. Eine ähnliche amphibische Finte vor der Küste von Odessa hatte denselben Zweck. Damit ein Ablenkungsangriff und/oder eine Finte operativ durchführbar ist, muss sie glaubwürdig sein, was bedeutet, dass die Einsatzkräfte bei der Ausführung der Ablenkung – auch unter ungünstigen Bedingungen – aggressiv sein müssen.

Der russische Vormarsch auf Kiew wurde von einer Truppe von etwa 40.000 Mann durchgeführt, die auf zwei Achsen operierten, von denen eine nach Süden und die andere aus Richtung Tschernihiw nach Südwesten vordrang. Den Bodenangriffen gingen mehrere Luftangriffe auf Flugplätze in der Nähe von Kiew voraus. Unabhängig davon, ob der russische Geheimdienst angezeigt hatte, dass Kiew reif für einen Staatsstreich sei oder ob die russischen Fallschirmjäger und Spezialeinheiten den Angriff zu aggressiv angingen oder eine Kombination aus beidem, die Realität war, dass Kiew gut verteidigt wurde von einer Mischung aus regulären Armee- und Territorialstreitkräften, die nicht gewillt waren, die ukrainische Hauptstadt kampflos aufzugeben.

Über einen Monat lang rückten die russischen Streitkräfte auf Kiew vor und starteten Angriffe zur Sondierung der Verteidigungslinien, drangen in die nördlichen Vororte ein und drohten, die Stadt sowohl von Osten als auch von Westen zu umzingeln. Tatsache bleibt jedoch, dass eine Streitmacht von 40.000 Mann, egal wie aggressiv sie eingesetzt wird, eine Stadt mit etwa drei Millionen Einwohnern, die von 60.000 Berufs-, Reserve- und Territorialsoldaten verteidigt wird, nicht erobern und halten kann. Aber das war auch nie das Vorhaben.

Während eines Briefings am 26. März verkündete Generaloberst Sergei Rudskoi, der erste stellvertretende Chef des russischen Generalstabs: "Diese Aktionen, das heißt der Vormarsch auf Kiew, werden mit dem Ziel durchgeführt, der militärischen Infrastruktur, der Ausrüstung und dem Personal der Streitkräfte der Ukraine Schaden zuzufügen. Im Ergebnis ermöglicht uns dies, die ukrainischen Streitkräfte zu binden und sie daran zu hindern, ihre Gruppierung im Donbass zu verstärken. Und wir werden ihnen dies auch solange nicht ermöglichen, bis die russische Armee die Gebiete der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk vollständig befreit hat."

Ein Hinweis sowohl auf die Intensität des Gefechts bei der Kiewer Finte als auch auf die Bedeutung der zugewiesenen Mission ist die Verleihung des Ehrentitels "Garde" durch den russischen Präsidenten Wladimir Putin an die 64. separate motorisierte Schützenbrigade für ihre "listigen und kühnen Aktionen" während der Kiewer Kämpfe. "Die Soldaten der Einheit wurden zu einem Vorbild bei der Erfüllung militärischer Pflicht, Tapferkeit, Hingabe und Professionalität", bemerkte Putin in der begleitenden Laudatio. Die ukrainische Regierung hingegen hat die 64. Brigade beschuldigt, Kriegsverbrechen in der Stadt Butscha nördlich von Kiew begangen zu haben, eine Anschuldigung, die von der russischen Regierung vehement zurückgewiesen wird.

Die sogenannte "Schlacht um Kiew" ist ein deutliches Beispiel für den Unterschied zwischen Wahrnehmung und Realität. Die ukrainische Position ist, dass ihre Streitkräfte das russische Militär bei der Annäherung an Kiew entscheidend besiegten und nicht nur einen Rückzug erzwangen, sondern auch eine vollständige Neugestaltung der strategischen Ziele der militärischen Spezialoperation. Dieser Standpunkt wurde von den gefügigen westlichen Medien fraglos aufgegriffen und von politischen und militärischen Führern in Europa, Kanada und den USA als Tatsache angenommen.

Eines der wichtigsten Ergebnisse dieses ukrainischen "Sieges" war die Fähigkeit des ukrainischen Präsidenten Wladimir Selenskij, diese Wahrnehmung als Hebelwirkung zu nutzen, um ein grundlegendes Umdenken bei seinen Anhängern im Westen auszulösen. Dies führte zu einer Erhöhung der finanziellen Beihilfen und Lieferungen von Waffen an die Ukraine, sowohl in der Menge als auch in der Qualität der Waffen selbst, da der Westen seinen Schwerpunkt von "leichten Waffen zur Panzerabwehr" auf konventionellere Rüstung und Artillerie verlagerte. Unausgesprochen blieb jedoch die Notwendigkeit dieser dramatischen Änderung bei der Auswahl der gelieferten Waffen angesichts dessen, dass die Ukraine – nach eigenen Behauptungen – Russland mit eben diesen "leichten Waffen zur Panzerabwehr" entscheidend besiegt hatte.

Die Realität war jedoch, dass die russischen Operationen in der Phase Eins dem ukrainischen Militär fast tödlichen Schaden zugefügt haben. Zehntausende von Soldaten wurden getötet und verwundet. Der Großteil der schweren Waffen der Ukraine wurde zerstört – Artillerie, Panzer und gepanzerte Kampffahrzeuge, alles entscheidend für die Führung eines modernen kombinierten Waffengangs. Der Grund, warum die Ukraine mehr Panzer, gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie von ihren westlichen Partnern anfordert, ist, dass sich ihre eigenen verfügbaren Bestände erschöpft haben.

Aber Ausrüstung ist die geringste Sorge der Ukraine. Eine Armee ist nur so gut wie ihre Fähigkeit, die eigenen Streitkräfte im Kampf logistisch zu unterstützen. Und eines der Hauptziele der russischen Operation in der ersten Phase war die Zerstörung der ukrainischen Treibstoff- und Munitionslager und die Dezimierung der ukrainischen Führungs- und Gefechtskontrolle. Als Ergebnis konnte die Ukraine zwar an Kiew festhalten, musste dafür jedoch den enormen Preis vom Verlust der allgemeinen Kampfeffektivität zahlen. Und während die russischen Streitkräfte sich von der Kiewer Front zurückziehen und eine Phase der Ruhe, Nachrüstung und Neuorientierung durchlaufen konnten, – ein logisches Vorgehen für Militäreinheiten, die einen Monat lang praktisch ununterbrochen in Kampfhandlungen verwickelt waren –, blieb die ukrainische Armee unter Druck durch unaufhörliche russische Luftangriffe und Bombardierungen mittels präzisionsgelenkter Marschflugkörper und russischer Artillerie.

Wahrnehmung, wenn sie dem grellen Licht der Realität ausgesetzt wird, entpuppt sich als wenig mehr als Wunschdenken. Dies ist insbesondere bei der sogenannten "Schlacht um Kiew" der Fall, bei der sich das ukrainische Militär gezwungen sah, Gebiete zu halten, die für die Russen keinen nützlichen Zweck mehr erfüllten. Russland war in der Lage, seine Streitkräfte zu verlegen, um das eigentliche Hauptziel zu unterstützen – die Eroberung des Donbass – und ließ die ukrainischen Streitkräfte in Kiew an Ort und Stelle einfrieren.

Mariupol und der Kampf um den Donbass

Der Kampf um Mariupol ist ein weiteres Beispiel dafür, wie Wahrnehmungsmanagement mit der Realität der Wahrheit kollidiert. Das Narrativ, das das gegenwärtige Schicksal von Mariupol umgibt, ist die Geschichte zweier Städte.

Aus ukrainischer Sicht wird die Stadt weiterhin von einem heldenhaften Kader von Kämpfern gehalten, die Zehntausende russischer Streitkräfte binden, die andernfalls anderswo eingesetzt werden könnten, um die russischen Hauptziele im Donbass zu unterstützen. Solange diese Verteidiger durchhalten, so behaupten die Ukrainer, wird die lebenswichtige Landbrücke zwischen der Krim und der Russischen Föderation in Gefahr sein. Ebenso dient ein fortgesetzter Widerstand einem wichtigen Propagandazweck, indem er Russland die Möglichkeit nimmt, den Sieg über die Stadt, noch vor der Feier am 9. Mai, zum Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg, zu verkünden.

Russland auf der anderen Seite hat in Mariupol bereits den Sieg erklärt. Russland räumt zwar ein, dass einige Tausend Verteidiger in den Bunkern unter der Stahlfabrik Asowstal verschanzt bleiben, sagt aber, dass diese Streitkräfte keinen bedeutenden militärischen Wert mehr haben. Anstatt russische Truppen zu opfern, um diese ukrainischen Streitkräfte aus ihren unterirdischen Bunkern herauszuzerren, wies Präsident Putin die Streitkräfte an, die Asow-Anlage abzuriegeln und auf diese Verteidiger zu warten.

Es besteht kein Zweifel, dass die Anwesenheit von Ukrainern in der Asowstal-Fabrik einen Propagandasieg für die Ukraine darstellt. Aber die Realität ist, dass die Stadt Mariupol an Russland gefallen ist. Während die ukrainischen Verteidiger, möglicherweise begleitet von Tausenden von Zivilisten, dezimiert werden, während ihre Nahrungs- und Wasservorräte schwinden, beginnt der Rest von Mariupol mit der Aufgabe, eine zerstörte Stadt wieder aufzubauen, in der schätzungsweise 90 Prozent der Gebäude durch brutale Straßenkämpfe beschädigt oder zerstört wurden. Die russische Landbrücke zur Krim ist intakt und die russische Offensive im Donbass geht ohne Verzögerung weiter.

Die Erklärungen von Antony Blinken und Lloyd Austin in Kiew sind ein Nebenprodukt der Wahrnehmung des ukrainischen Sieges, die durch die beiden ukrainischen "Siege" in Kiew und Mariupol geprägt wurde. Die Realität ist jedoch, dass die Operation bei Kiew eine meisterhafte russische Finte war, durch welche die strategische Gesamtsituation in der Ukraine zugunsten Russlands geformt wurde. In Bezug auf die strategischen Auswirkungen auf die Gesamtkampagne ist die Schlacht um Mariupol ebenfalls beendet. Was übrig bleibt, ist die harte Wahrheit der einfachen "Militärmathematik", die, wenn sie auf eine Karte projiziert wird, die Art von unnachgiebigen faktenbasierten Beweisen dafür liefert, dass die Ukraine den Krieg mit Russland verliert.

Tatsache ist, dass die Militärhilfen des Westens für die Ukraine keine erkennbaren Auswirkungen auf einem Schlachtfeld haben werden, auf dem Russland seine Dominanz von Tag zu Tag behauptet. Es wird nicht nur zu wenig Ausrüstung zur Verfügung gestellt. Ein paar hundert gepanzerte Fahrzeuge können die mehr als 2.580 Militärvehikel nicht ersetzen, die auf Seiten der Ukraine bisher verloren gingen. Noch können Dutzende von Artilleriegeschütze, die mehr als 1.410 vom russischen Militär zerstörten Artilleriegeschütze und Raketenwerfer ausgleichen.

Wenn zwei militärische Streitmächte mit vergleichbarer Größe und vergleichbaren Fähigkeiten gegeneinander antreten, versuchen sie durch Zermürbung der Fähigkeiten des Gegners, einen operativen Vorteil zu erlangen, der in Kombination mit effektivem Manövrieren der eigenen Streitkräfte den Gegner in eine unhaltbare Situation bringt. Der Übergang von einem Kampf auf Augenhöhe zu einem entscheidenden militärischen Sieg ist oft schnell und stellt den Höhepunkt der erworbenen Vorherrschaft in Form von Feuerkraft und Manövrierfähigkeit dar, die synchron zusammengeführt werden und für den Gegner eine Reihe taktischer und operativer Dilemmata schafft, für die er keine brauchbare Lösung hat.

Dies ist die aktuelle Situation, in der das ukrainische Militär heute im Donbass gegen die Russen antritt. Die Ukrainer, denen jede sinnvolle eigene Artillerieunterstützung fehlt, sind der Gnade der russischen Artillerie und der Raketenwerfer ausgeliefert, die Tag für Tag ohne Unterlass ihre Stellungen unter Beschuss nehmen. Die russischen Truppen haben einen sehr bewussten Ansatz gewählt, um sich mit ihren ukrainischen Gegnern auseinanderzusetzen. Vorbei sind die schnellen Vorstöße ungeschützter Kolonnen und Konvois. Jetzt isolieren die Russen die ukrainischen Verteidiger, schlagen mit Artillerie auf sie ein und zerstören dann mit Infanterie, was übrig geblieben ist, unterstützt von Panzern und gepanzerten Kampffahrzeugen.

Die Opferquote bei diesen Kämpfen ist für die Ukraine unerbittlich, mit Hunderten von Soldaten, die jeden Tag in Form von Gefallenen, Verwundeten oder durch Kapitulation verloren gehen, während die russischen Opfer in Dutzenden zu zählen sind.

Russland kann sich nicht nur praktisch nach Belieben entlang der Front bewegen, während es die ukrainischen Verteidiger einkesselt und zerstört. Russische Truppen können auch mit absoluter Freiheit in der Tiefe operieren, was bedeutet, dass sie sich ohne Angst vor ukrainischer Artillerie oder Gegenangriffe zurückziehen können, um umzurüsten, aufzurüsten und auszuruhen. Die Ukrainer bleiben unterdessen festgenagelt, unfähig, sich zu bewegen, in ständiger Angst, von der russischen Luftwaffe entdeckt und zerstört zu werden, und als solche gleichzeitig dazu verdammt, zu gegebener Zeit von russischen Truppen isoliert und zerstört zu werden.

Es gibt praktisch keine Hoffnung auf Verstärkung oder Entlastung für die an der Front operierenden ukrainischen Streitkräfte. Russland hat die Eisenbahnlinien, die als Versorgungslinien dienen entweder im Auge oder bereits zerstört. Die Wahrscheinlichkeit, dass die ukrainische Streitkräfte die vom Westen bereitgestellten schweren Waffen erhalten und die Front in erkennbarer Stärke erreichen werden, ist praktisch null. Die Schlacht um den Donbass erreicht ihren Höhepunkt, bei dem das ukrainische Militär rasch von einer Streitmacht, die den Anschein von Widerstand erwecken konnte, zu einer Streitmacht wird, die alle bedeutenden Fähigkeiten zum Kampf verloren hat.

Dies ist der Stand der Dinge im dritten Monat der russischen Militäroperation in der Ukraine. Während die Beendigung eines Konflikts immer eine politische Frage ist, ist eines sicher: Wenn sich die Operation über einen vierten Monat erstreckt, wird das Schlachtfeld ganz anders aussehen als das, was die Welt derzeit sieht. Der Kampf um den Donbass und um die Ostukraine ist so gut wie vorbei. Das ist die harte Realität. Und kein Wunschdenken oder Wahrnehmungsmanagement von Selenskij oder dessen amerikanischen Partnern kann daran etwas ändern.

Scott Ritter ist ein ehemaliger Geheimdienstoffizier des US Marine Corps. Er diente in der Sowjetunion als Inspektor bei der Umsetzung des INF-Vertrags, im Stab von General Schwarzkopf während des Golfkriegs und von 1991-1998 als UN-Waffeninspektor. Man kann ihm auf Telegram folgen.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.