Meinung

30 Tonnen Plutonium – Wie gefährlich war die Ukraine?

Es ist in der Öffentlichkeit ein wenig untergegangen, dass Wladimir Selenskij im Februar mit ukrainischen Atombomben gedroht hatte. Jetzt gab es eine Bestätigung, wie konkret diese Gefahr war. Zig Tonnen verwendbaren Materials lagern in Saporoschje.
30 Tonnen Plutonium – Wie gefährlich war die Ukraine?Quelle: Gettyimages.ru © Don Farrall

Von Dagmar Henn

Das iranische Atomprogramm liefert wieder einmal Schlagzeilen. 18-mal mehr angereichertes Uran als erlaubt besitze Iran, behauptet zum Beispiel die Welt in einem aktuellen Artikel. Bis zur Einführung des letzten Sanktionspakets gegen Russland war Iran das meistsanktionierte Land der Welt: Hauptbegründung dafür war sein Atomprogramm, weil iranische Atomraketen eine unmittelbare Bedrohung für Israel wären.

Zurzeit laufen wieder Gespräche zu diesen Iran-Sanktionen. Dabei dient die iranische Anreicherungstechnik dem Betrieb ziviler Atomkraftwerke, was vom seit 1968 bestehenden Atomwaffensperrvertrag ausdrücklich ausgenommen ist. Dieser Vertrag sollte die Zahl der Staaten, die Atomwaffen besitzen, auf die damals bereits damit ausgerüsteten beschränken: die USA, Großbritannien, Frankreich, China und die Sowjetunion.

Allerdings hat seitdem eine ganze Reihe weiterer Staaten Atomwaffen entwickelt: Israel, Indien, Pakistan und Nordkorea. Das ursprünglich angestrebte Ziel, eine Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, wurde also nicht erreicht; und auch die Verringerung des Arsenals der fünf ursprünglichen Staaten fand nie so statt, wie das Abkommen es vorsah. Der einzige Staat, der sich auf dem Weg zur Entwicklung von Atomwaffen befand und dies nicht weiter verfolgte, war Südafrika.

Dennoch – 191 Staaten haben dieses Abkommen unterzeichnet. Daraus kann man schließen, dass es immer noch als völkerrechtlich verbindliches Ziel gilt, eine Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern.

Warum das alles wichtig ist? Gonzalo Lira hat in einem Video vor wenigen Tagen auf eine Aussage aufmerksam gemacht, die Rafael Mariano Grossi, der Generaldirektor der IAEA, der Internationalen Atomenergiebehörde, die für die Überwachung des Atomwaffensperrvertrags zuständig ist, auf dem WEF in Davos gemacht hatte. Sie findet sich in der Aufnahme der Veranstaltung bei Minute 6:50.

"Und insbesondere jetzt, wie Sie vielleicht wissen, versuchen wir, in das Atomkraftwerk in Saporoschje zurückzukommen, die größte Kernkraftanlage in Europa. Sechs Atomreaktoren, 30.000 Kilo Plutonium, 40.000 Kilo angereichertes Uran, und meine Inspektoren haben keinen Zugang."

Nun denn, könnte man sagen, das Gebiet ist unter russischer Kontrolle, und Russland hat ausreichend Atomsprengköpfe und nukleares Material. Aber damit hat die Brisanz dieser Aussage auch nichts zu tun. Brisant ist sie in Bezug auf die Ukraine, oder, um genauer zu sein, in Bezug auf die Legitimität des russischen Militäreinsatzes.

In der Sowjetunion befanden sich Atomwaffen in allen Landesteilen, auch in der ukrainischen Sowjetrepublik. Nach dem Ende der Sowjetunion waren es interessanterweise die US-Amerikaner, die auf eine Regelung drängten, die nicht mehrere, sondern nur eine Atommacht zurückließe. Irgendwie war ihnen das doch unheimlich, politisch noch absolut unberechenbare neue Staaten mit Atomwaffen ausgerüstet zu sehen. Die Ukraine besaß plötzlich das drittgrößte Nukleararsenal der Welt.

Am 5. Dezember 1994 wurde das Budapester Memorandum unterzeichnet, in dem sich Weißrussland, die Ukraine und Kasachstan verpflichteten, die auf ihrem Gebiet vorhandenen Atomwaffen nach Russland zu bringen. Das geschah auch. Gleichzeitig unterzeichneten sie, auch künftig keinen Besitz von Atomwaffen anzustreben.

Es ist nicht ganz einfach, an das Material für Atomwaffen zu kommen. Deshalb, weil die dafür erforderlichen Elemente, entweder Uran-235 (U-235) oder Plutonium-239 (Pu-239), die in der Natur  nur in winzigsten Spuren in Pechblende zu finden sind. Im Falle des Urans muss das bombentaugliche Isotop von den anderen unter Ausnutzung der leicht unterschiedlichen Massen getrennt und angereichert werden. Im Falle von Plutonium, dessen langlebigstes, in der Natur in Sedimenten am Meeresgrund auffindbares Isotop (Pu-244) eine Halbwertszeit von 80 Millionen Jahren hat, müssen die übrigen Isotope (auch in nennenswerten Mengen das bombentaugliche Pu-239) fast ausschließlich erst durch einen kerntechnischen Prozess erzeugt und dann nach Isotopen getrennt werden.

Die Anreicherung ist auch für das Betreiben eines normalen Kernreaktors zur Energiegewinnung nötig. Schließlich muss genug Uran auf einem Haufen sein, um eine Kettenreaktion auszulösen. Allerdings ist für den Betrieb eines Reaktors eine langsamere Kettenreaktion ausreichend, während Atomwaffen darauf beruhen, dass die "kritische Masse" zu einer sehr plötzlich verlaufenden Kettenreaktion führt, die die gesamte Energie dieses Prozesses auf einen Schlag freisetzt. Sie erfordern also eine hohe Reinheit des Materials. Es ist aber nicht viel davon erforderlich. Bei Uran-235 liegt die kritische Masse bei 49 Kilogramm, bei Plutonium-239 nur bei 10 Kilogramm. Das sind die Zahlen, die man mit den 30.000 und 40.000 Kilogramm in Saporoschje in Verbindung setzen muss.

Lira erinnert in seinem Video an das Scharmützel, das es in der Nähe der Saporoschjer Anlage gab, und vermutet nun, der Zweck dieser Aktion, bei der ukrainische Diversanten ein Verwaltungsgebäude des Werks in Brand schossen, habe darin bestanden, auswärtige Unterstützung zu veranlassen, um das Gelände wieder unter ukrainische Kontrolle zu bringen; vor allem, um den Zugang zu dem erwähnten Material zu haben.

Um das zu verstehen, muss man noch ein wenig weiter zurückgehen. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar dieses Jahres hielt Selenskij eine Rede, in der er erklärte, die Ukraine fühle sich durch das Budapester Memorandum nicht mehr gebunden. Die einzige Zeitung, die in Deutschland über diese nicht ganz unwichtige Aussage berichtete, war die Berliner Zeitung. Selenskij sagte in Bezug auf Konsultationen, die die Ukraine gefordert hatte, sollten diese nicht "stattfinden oder zu keinen konkreten Gewährleistungen der Sicherheit unseres Staates führen, wird die Ukraine mit Recht glauben, dass das Budapester Memorandum nicht funktioniert und alle Beschlüsse des Pakets von 1994 in Frage gestellt wurden".

Die Konsultationen, von denen er sprach, hätten Großbritannien, die USA und Russland einbezogen, aber es war in diesem Moment schon klar, dass solche nicht stattfinden würden, was sowohl Selenskij als auch seinen Zuhörern bewusst war. Die Aussage war also nichts anderes als die Ankündigung, die Ukraine werde sich Atomwaffen beschaffen. Und diese Aussage wurde nicht nur nicht in den Medien berichtet, sie führte auch zu keinerlei Reaktionen bei den anwesenden westlichen Politikern. Die allesamt aus Staaten kamen, die den Atomwaffensperrvertrag unterzeichnet hatten.

Irgendwie hätten sie reagieren müssen, oder? Schließlich gibt es zwar Stimmen, die die Vertragsqualität des Budapester Memorandums in Frage stellen, aber der volle Titel dieses Dokuments lautet "Memorandum bezüglich Sicherheitsgarantien in Verbindung mit dem Beitritt der Ukraine zum Atomwaffensperrvertrag." Die Ukraine ist dem Atomwaffensperrvertrag beigetreten; die Aussage Selenskijs war also ebenso die Ankündigung, diesen Vertrag zu brechen, dessen Qualität nirgends in Frage gestellt wird. Andere Länder, wie der Iran, werden mit Sanktionen überzogen, wenn sie noch nicht einmal in die Nähe eines Bruchs kommen.

Im Westen wird da gern ein wenig herumgeeiert. Das Budapester Memorandum sei durch die Wiedervereinigung der Krim mit Russland ohnehin gebrochen worden, weil dort ja die Sicherheit der Grenzen der Ukraine garantiert wird. Allerdings – dieser Schritt der Krim war die Folge eines innen-, keines außenpolitischen Prozesses. Keine externe Garantie kann einen Staat daran hindern, selbst Teile seines Gebiets zu verspielen, und die Vorstellung, von außen könne man eine solche Entwicklung umkehren, ist absolut illusorisch. Wenn, dann wäre sie nur durch die Ukraine selbst umkehrbar gewesen, durch eine entsprechende Änderung der Politik. Aber am Umgang mit den Minsker Vereinbarungen konnte man deutlich genug erkennen, dass die heutige Ukraine dazu völlig außerstande ist.

Was aber bedeutete diese Ankündigung? Auf jeden Fall etwas völlig anderes, als sie bedeutet hätte, hätten beispielsweise Tansania oder Indonesien angekündigt, den Atomwaffensperrvertrag brechen zu wollen. Der Unterschied liegt zum einen in dem Material, dessen Vorhandensein Grossi bestätigt hat, und zum anderen im Zugang zu den erforderlichen Raketen bzw. entsprechender Technologie.

Im Falle der Ukraine wäre die Entwicklung eigener Atomwaffen, weil das Material ebenso vorhanden war wie Erfahrung in Raketentechnologie, keine Frage von 25 Jahren gewesen (so lange brauchte Pakistan, bis es mit der Entwicklung der indischen Atomwaffen gleichzog), sondern höchstens von Monaten. Und mehr noch – es gibt die Möglichkeit "schmutziger" Bomben; das sind Bomben, die keine Kettenreaktion auslösen, sondern nur auf konventionellem Wege nukleares Material verteilen; im Falle von Plutonium eine Substanz, die nicht nur Strahlenschäden verursacht, sondern zudem hochgiftig ist. Eine schmutzige Bombe zu produzieren, die Donezk oder auch Belgorod erreichen könnte, wäre eine Frage von Tagen.

Bliebe als letzte Frage für die Bewertung der Gefahr, die von dieser Ankündigung ausgeht, die, ob es der gegenwärtigen ukrainischen Regierung zuzutrauen wäre, eine solche Bombe auch einzusetzen. Auf einer Totschka-U-Rakete als Träger beispielsweise.

Wenn man die ukrainische Kriegsführung im Donbass in den letzten acht Jahren betrachtet, kann man es jedenfalls nicht mit Sicherheit ausschließen. Wer Menschen, die er angeblich in den eigenen Staat zurückholen will, mit solcher Ausdauer bombardiert, dem ist auch zuzutrauen, für ein solches Bombardement eine schmutzige Bombe zu nutzen. Selbst wenn sie das Gebiet, in dem sie aufschlägt, langfristig verseucht.

Selenskij hatte im Februar zu erkennen gegeben, dass er aufgehalten werden muss. Er strebte nach genau dem, was selbst die USA noch Mitte der 1990er zu verhindern suchten – atomare Waffen in einer politisch instabilen Situation in den Händen von unberechenbaren Personen. Das ist eine Lage, wie sie drohen mag, wenn die USA als Staat zerfallen, oder wie sie in den 2000ern in Russland hätte drohen können, hätte der Staat sich nicht wieder stabilisiert. Eigentlich etwas, das alle Nationen dieser Erde gleichermaßen zu verhindern suchen müssten.

Selbst wenn Selenskij es nicht so gemeint hätte, wenn er nur hätte provozieren wollen, die technischen Gegebenheiten sind so, dass es auf keinen Fall ignoriert werden durfte. Aber der Westen hat dazu geschwiegen. Es gab später nicht einmal Nachfragen, ob er sich dessen bewusst sei, welches Risiko er damit heraufbeschwöre. Wie soll man dieses Schweigen anders deuten denn als stillschweigende Billigung?

Und welche andere Konsequenz wäre möglich gewesen als jene, die Russland dann tatsächlich gezogen hat? Die Ukraine sanktionieren? Das hätte geschmerzt, wäre es aus dem Westen gekommen. Den Gashahn abdrehen? Das geht wegen der Kunden am anderen Ende der Leitung nicht. Abwarten und Zusehen?

Es ist gut, dass die Aussage Grossis wieder ins Gedächtnis gerufen hat, wie konkret diese Gefahr war. Es gibt Drohungen, die kann man nicht ignorieren.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.