Konferenz zu Russlands "Dekolonisierung": Wer ist hier eigentlich der Kolonialist?
von Roman Antonowski
Am 23. Juni verlief in Helsinki eine wundersame Konferenz: "Dekolonisierung Russlands. Ein moralischer und strategischer Imperativ". Organisiert wurde sie - wer hätte es erwartet - von einem US-Organ, der Commission on Security and Cooperation in Europe (auch: Helsinki Commission), und Leiter waren Gurus wie die Senatoren Mark Rubio und Ben Cardin. Anlauf genommen wurde bei dieser Konferenz natürlich olympiamäßig:
Russland, hieß es, sei ein böses Imperium, das in der Ukraine einen "barbarischen Krieg" führe. Davor griff es Syrien an (von Russlands Sieg über das US-Ziehkind, die Terrormiliz Islamischer Staat, natürlich kein Wort), davor Georgien (wo es in Wirklichkeit die Osseten vor einem Völkermord rettete) und noch weiter davor – Trommelwirbel – ausgerechnet Libyen (wo es in Wirklichkeit der Westen selbst war, der einen souveränen Staat überfiel).
Harter Stoff, keine Frage. Doch neben Russlands externem Imperialismus gebe es auch noch einen internen Imperialismus. Es seien nämlich die Russen (naturgemäß), die die anderen einheimischen Völker Russlands unterdrücken.
Um darüber zu berichten, wurden irgendwelche unbekannten Persönlichkeiten aus den Reihen dieser Völker zur Konferenz eingefahren: Darunter war etwa die tscherkessisch-stämmige Journalistin aus den USA, Fatima Tlisowa, oder eine Dozentin an der Universität Basel, die Kasachin Botagos Kassimbekowa (seit wann sind Kasachen eigentlich ein einheimisches Volk in der Russischen Föderation?).
Aber die Hauptredner sind natürlich Angelsachsen wie der Journalist Casey Michel (aber bitte "PRONOUNCED LIKE 'MICHELLE'"), der seit langem schreibt, dass Russland in unabhängige Staaten entlang ethnischer Linien zerlegt werden solle, um allen nationalen Minderheiten "Freiheit" zu geben.
"Es ist schon amüsant, wenn Russland von US-Amerikanern und Westeuropäern Kolonialismus vorgeworfen wird. Schließlich erwuchs der Begriff des Kolonialismus als solcher aus den barbarischen Handlungen der Weststaaten in den von ihnen unterworfenen Regionen Afrikas, Asiens und Lateinamerikas."
Erinnern wir uns zum Beispiel an den Völkermord an den nord- und südamerikanischen Indigenen durch die Spanier und Angelsachsen. An den Sklavenhandel, das Abpumpen natürlicher Ressourcen, daran, wie andere Völker und Rassen wie Tiere oder schlimmer behandelt wurden. Selbst das kleine Belgien schikanierte, folterte und ermordete jahrelang die Bewohner des "Belgisch"-Kongo, und der Freiheitskämpfer dieses Landes, Patrice Lumumba, wurde von den Belgiern gefoltert und dann in Säure aufgelöst. Von Patrice blieb ein Goldzahn übrig, den sie kürzlich in einer zynisch-verachtenden Geste an seine Familie zurückgaben.
Das Russische Reich stand im Gegensatz zum britischen oder spanischen Reich: Es brach ja nur deswegen nicht unter den Auswirkungen nationaler Befreiungskämpfe auseinander, weil es schon seit seiner Entstehungszeit anderen Völkern sozialen Aufschwung und eine bessere Lebensqualität bot – unter Bestehenlassen ihrer Kultur und meist auch ihrer eigenen sozialen Struktur.
Viele Völker, die der russischen Krone die Treue schworen, starben nicht bloß nicht aus – sie erlebten sogar eine Bevölkerungsexplosion, und viele Völker mit zuvor oraler Kultur erhielten ein an ihre Sprachen angepasstes Alphabet. Und die erste steinerne Moschee in der tatarischen Stadt Kasan wurde eigens im Auftrag der Zarin Katharina der Großen errichtet.
Zu Sowjetzeiten wurde allen nationalen Minderheiten weitgehende Autonomie gewährt. Und im Ausland unterstützte die Sowjetunion die nationalen Befreiungsbewegungen in Asien, Afrika und der Neuen Welt, die gegen den westlichen Imperialismus ankämpften.
Auch Russlands militärische Intervention in den Ukraine-Konflikt ist ein Befreiungskampf gegen die jüngsten Versuche des Westens, Russland und seine Nachbarn zu kolonisieren.
Und über die heutige neokolonialistische Natur der Weststaaten sollten Sie sich nicht von Bewegungen wie Black Lives Matter hinwegtäuschen lassen: Letztlich wurde diese Bewegung von Rassisten aus den Reihen weißer Angelsachsen erfunden, um Straßenproteste von Afroamerikanern und Linken in eine für das System ungefährliche Bahn zu lenken. In der Außenpolitik ist der Westen so imperialistisch geblieben wie eh und je.
In Russland machten vor gar nicht allzu langer Zeit tscherkessische Nationalisten in Sotschi damit auf sich aufmerksam, dass sie den Abriss des dortigen Denkmals für die russischen Kosaken erwirkten – und dies mit antikolonialer Rhetorik begründeten. Ob sie wohl Verbindungen zu ähnlichen westlichen, antirussischen Organisationen wie der Commission on Security and Cooperation in Europe haben, oder der USAID, oder oder oder... Vernünftige Tscherkessen erinnern hingegen daran, dass der Tscherkessenfürst Sergei Ulagaj selbst ein bekannter Kosakengeneral war. Russland muss indes Gegenmaßnahmen ergreifen. Sollten diese etwa symmetrisch ausfallen?
Übersetzt aus dem Russischen.
Roman Antonowski ist ein russischer Blogger, Publizist und Politikwissenschaftler, der u.a. für TASS, Russia Today, Readus und Glamour schreibt beziehungsweise schrieb. Er ist der Autor des russischen rechtskonservativen Telegram-Kanals Sons of Monarchy mit über 9.000 Abonnenten.
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