Sanktionen: Die Bundesregierung hat nicht einmal nachdenken lassen – Teil 1
von Dagmar Henn
Manchmal denkt man, es könne einen nichts mehr erschüttern. Ich dachte, ich wäre reichlich abgebrüht, was die Erwartungen an das Berliner politische Personal betrifft; wenn man die Einstellung "nichts Gutes" wählt, ist man immer auf der richtigen Seite. Und ich habe ihnen auch alle möglichen Dummheiten zugetraut und sogar schon zugeschrieben im Zusammenhang mit den Sanktionen. Nur gestern warf ich einen Blick auf ein paar Papiere, die belegen, dass es noch schlimmer ist, als ich gedacht hatte. Die haben nicht nur zu wenig nachgedacht. Die haben gar nicht nachgedacht. Noch schlimmer. Die Papiere, die jetzt erscheinen, haben als – wohlausgeschmückten und über Seiten ausdehnten – Inhalt ein "Wir sollten einmal nachdenken".
Ich rede hier von aktuellen Arbeitspapieren der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Beschrieben wird diese Bundesakademie als "ressortübergreifende Weiterbildungsstätte der Bundesrepublik Deutschland auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Das auftraggebende Kuratorium ist der Bundessicherheitsrat".
Im Bundessicherheitsrat wiederum befindet sich neben dem Bundeskanzler das halbe Kabinett; seine bekannteste Aufgabe ist die Genehmigung von Rüstungsexporten, seine eigentliche Funktion ist aber – ja, genau – das sicherheitspolitische Zusammenwirken der unterschiedlichen betroffenen Fachministerien. Anders gesagt: Wenn vorab Überlegungen stattfanden, welche Auswirkungen die geplanten Sanktionen gegen Russland auf Deutschland, seine Wirtschaft und seine Bürger haben, dann ist der Bundessicherheitsrat das Gremium, von dem eine Bearbeitung dieser Frage ausgeht oder ausgehen sollte.
Die Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist dabei die Denkfabrik, die das nötige wissenschaftliche Personal stellt oder koordiniert, unter anderem durch entsprechende Schulungen für das Personal der Ministerien. Dabei sollte man eines nicht vergessen: Selbst unter einer Außenministerin Annalena Baerbock existiert ein ganzer Apparat, in dem es durchaus Menschen gibt, die imstande sind, einen vollständigen deutschen Satz ohne Unfall auszusprechen oder gar einen komplexeren Gedanken zu haben. Auch wenn ein aktuelles Treffen des Bundessicherheitsrats eher eine Ansammlung von Nullnummern ist, denn erst auf der Ebene der Referatsleitung beginnen die politischen Posten – alles darunter muss sich zumindest irgendwie leistungsmäßig bewährt haben.
Leiter der Bundesakademie für Sicherheitspolitik ist Ekkehard Brose. Dass er im Verlauf seiner Karriere stellvertretender Büroleiter für Genscher und Kinkel war, weist ihn als einen FDP-Mann aus, vermutlich aus dem Kinkel-Tross. Er war unter anderem stellvertretender Botschafter bei der NATO, danach ein Jahr lang bei der Stiftung Wissenschaft und Politik, und zwei Jahre lang Botschafter – im Irak. Dann saß er drei Jahre auf einem Aufbewahrungsposten im Auswärtigen Amt, bis er 2019 die Leitung der Akademie übernahm.
Also ein geheimdienstnaher Karrierediplomat, der, weil Tross Kinkel, mit Sicherheit ein intelligenter Mann ist (und angesichts von Frau Baerbock seine eigene Last an Fremdscham tragen dürfte), aber im Verlauf seiner Karriere auf parteipolitisch ungünstige Entwicklungen stieß, die einen krönenden Abschluss durch einen bedeutenden Botschafterposten verhinderten.
Da er ursprünglich Volkswirtschaft studiert hat, dürfte er über ein gewisses Maß an ökonomischer Bildung verfügen; nachdem er sogar an der Ausarbeitung der NATO-Russland-Grundakte beteiligt war, dürfte er auch ein gewisses Grundwissen über Russland haben, und bei dieser Geschichte und dieser Herkunft wären vier, fünf Sprachen eigentlich das Minimum. Rein technisch gesehen – und das muss man beim Zustand dieser Republik besonders betonen – durchaus eine Person, die geeignet wäre, die erforderlichen Überlegungen in die Wege zu leiten.
Klar kann man nicht in solche Strukturen hineinsehen, aber weil für die Ergebnisse eine größere Reichweite erforderlich ist, sind die regelmäßig erscheinenden Arbeitspapiere durchaus ein valider Hinweis darauf, was in diesem Apparat vor sich geht. Es ist noch nicht einmal anzunehmen, dass diese Papiere über den Stand der Debatte täuschen sollen, dass also in Wirklichkeit der Apparat viel, viel weiter ist; dazu sind die Veröffentlichungen zu rudimentär, viel zu weit am Anfang und viel zu deutlich darauf ausgerichtet, ein Nachdenken überhaupt erst einmal auszulösen.
Nebenbei – wenn man an Stoltenbergs acht Jahre Vorbereitung denkt und sieht, wie NATO-nah die Tätigkeiten von Brose verliefen, kann man davon ausgehen, dass der deutsche Teil dieser Vorbereitungen, sofern es ressortübergreifende Konsequenzen anging, ebenfalls auf seinem Schreibtisch landete. Anders gesagt: Wenn es ein deutsches Nachdenken über die Frage "Seppuku: Ja oder Nein?" gegeben haben sollte, dann müssten sich die Spuren unter anderem in diesen Arbeitspapieren finden lassen. Alle Indizien deuten aber darauf hin, dass nicht gedacht wurde; und der Sinn dieser langen Vorrede besteht in der Aufforderung, man möge selbst diese Papiere betrachten und überprüfen, was darin zu finden ist.
Das erste dieser Papiere stammt aus dem März und trägt den Titel "Ein Kompass für die Zeitenwende". Verfasst wurde es von einem Politikwissenschaftler und Unternehmensberater namens Jan Fuhrmann. Es beginnt schon mit dem üblichen Narrativ, man müsse nun "nach dem russischen Angriff auf die Ukraine" Konsequenzen ziehen, was die unvermeidliche Frage aufwirft, worin denn nun die acht Jahre Vorbereitung der NATO bestanden haben, neben der regelmäßigen Vergabe von Streicheleinheiten an die Kiewer Regierenden.
Eine nationale Sicherheitsstrategie besteht nicht. Das stellt dieser Text fest, und führt dann aus, dass es eine solche doch geben sollte: "Schon vor der viel beschriebenen Zeitenwende gab es viel zu tun für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik. Der russische Angriff auf die Ukraine verschärft zahlreiche Probleme und hat abermals Lücken offengelegt. Die nationale Sicherheitsstrategie – und insbesondere ihr Erstellungsprozess – bietet die Chance, den Blick für die eigenen Prioritäten zu schärfen."
Klingt das normal? Nur, wenn man einen etwas abgehobenen Blick auf die Aufgaben des Regierens hat. "Nationale Sicherheitsstrategie" – das ist etwas, da geht es nicht, oder nicht primär, um die Produktion von Kriegsgerät. Da geht es um Nahrungssicherheit, gesicherte Energieversorgung, um ökonomische Abhängigkeiten. Eine nationale Sicherheitsstrategie ist die Grundlage der Souveränität; und ich bin mir ziemlich sicher, der andere deutsche Staat existierte keinen Tag lang ohne, und die Regierungsverantwortlichen wären imstande gewesen, die Kernpunkte wiederzugeben, wenn sie nachts um drei aus dem Schlaf gerissen wurden. Durch die ungünstige Verteilung der industriellen Zentren war die Lage der DDR in dieser Hinsicht nämlich lange sehr schwierig, und es sind eigentlich die ersten Punkte, die eine Regierung im Blick haben sollte: Wie gewährleiste ich das sichere Überleben der eigenen Bevölkerung? Was ist erforderlich, damit die Industrie funktioniert, zumindest im Bereich lebensnotwendiger Produkte? Welche Importe könnten kritisch werden? Welche müssen möglicherweise ersetzt werden?
Für Regierungen, die mit westlichen Sanktionen beglückt werden, und für Regierungen ärmerer Länder ist so etwas das tägliche Brot. Der Spielraum eigenen Handelns muss ständig gegen diese Notwendigkeiten errungen und oft genug gegen äußere Versuche, ihn zu nehmen, verteidigt werden.
Da geht diese Bundesrepublik also her und brütet über Jahre hinweg an einem Konflikt mit einer der größeren Mächte, nämlich Russland, unternimmt belegbar selbst das ihr Mögliche nicht, um diesen Konflikt zu vermeiden, und hat – keine nationale Sicherheitsstrategie. Was bedeutet, sie haben im besten Falle einmal ihre Panzer durchgezählt (schon das Ergebnis hätte sie vor Schreck zur Salzsäule erstarren lassen müssen), sich aber keinerlei Gedanken gemacht, welche Konsequenzen ein solcher Konflikt für die Sicherheit Deutschlands hat, oder anders herum, ob die Führung eines solchen Konflikts tatsächlich im deutschen Interesse liegt.
Wobei das Interesse in einem solchen Fall keine Frage von Vorlieben, geschweige denn von den vielbeschworenen "Werten" ist, sondern eine Fortführung dessen, was man mit einfachen Blicken auf die Rohstoffkarten in einem gewöhnlichen Schulatlas zu erkennen lernt (oder zu erkennen lernen könnte): Dass die allermeisten Länder bestimmte Materialien haben, andere aber nicht. Auf Handel angewiesen zu sein ist ein völlig normaler Zustand. Russland ist in dieser Hinsicht der Ausnahme von der Regel sehr nahe, aber gänzlich ist das selbst dort nicht der Fall. Man kann auf Karten auch Verkehrswege sehen und erkennen, wo diese Verkehrswege verwundbar sind. Man kann auch sehen, woher die Dinge, die möglicherweise fehlen, bezogen werden können.
Anders gesagt: Wenn man erfassen will, wo die nationalen Interessen liegen, fängt man mit solchen Fragen an. Welche Nahrungsmittel werden produziert und welche müssen eingeführt werden? (Übrigens, die tollen Pläne der niederländischen Regierung, der dortigen Landwirtschaft den Stickstoffeinsatz zu verbieten, werden in Deutschland, im Falle ihrer Umsetzung, zum einen das Gemüseangebot deutlich verknappen und zum anderen die Preise weiter in die Höhe treiben; nur als kleines Beispiel von Wechselwirkungen). Welche Industrien benötigen welche Rohstoffe? Welche davon sind gegebenenfalls ersetzbar und welche nicht? Mit welchen Mitteln ist eine kontinuierliche Energieversorgung sicherzustellen?
In diesem Bereich geschehen die allerwitzigsten Dinge. Der DDR wurde ja immer vorgehalten, sie nutze die "schmutzige", weil besonders schwefelhaltige, Braunkohle. Die DDR konnte aber nichts dafür, weil auf ihrem Staatsgebiet schlicht keine Steinkohlevorkommen lagen, und die Belieferung mit Erdöl wurde erst mit Fertigstellung der Druschba-Pipeline stabil. Die heutige Bundesrepublik greift jetzt auch wieder zur Braunkohle. Zur Steinkohle kann sie nämlich nicht einfach greifen, da die Steinkohlebergwerke, die es einmal dutzendweise im Ruhrgebiet gab, nicht einfach geflutet, sondern zubetoniert wurden. Dies bedeutet, wollte man wieder Steinkohle fördern, müssten völlig neue Schächte gegraben werden ... So viel zu einer nationalen Sicherheitsstrategie. Normalerweise hat man die, ehe man Grundsatzentscheidungen über die Energieversorgung trifft, und hält sich an das, was die Entwicklung dieser Strategie ergeben hat, und nicht an irgendwelche ideologischen Wünsche. Wie praktisch, dass es eine solche Strategie offenkundig gar nicht gibt.
Mehr zum Thema - Die NATO hat sich seit 2014 darauf vorbereitet, in der Ukraine Krieg gegen Russland zu führen
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