Volksaufstände oder Unterwerfung – wie werden die Deutschen im Herbst reagieren?
von Tom J. Wellbrock
Wann es anfing, ist schwer zu sagen, wann wir also unsere Freiheit bereitwillig abgegeben haben. Ganz sicher allerdings hatte der Beginn des Neoliberalismus unter Gerhard Schröder (SPD) erheblichen Einfluss auf die Bereitschaft, die eigene Freiheit in die Hände anderer zu legen. Dabei mag widersprüchlich wirken, dass ausgerechnet die Denkrichtung, laut derer jeder seines Glückes Schmied sei, die Unterwerfung fördere, muss man es doch als Freiheit bezeichnen, sein Glück selbst in der Hand zu haben. Doch die neoliberale Denkweise ist ein grundsätzlicher Widerspruch zur Freiheit, es sei denn, sie betrifft einige wenige Auserkorene.
Konstruierte Freiheit
Freiheit hat viele Gesichter, ihr Fehlen ebenso. Machen wir uns aber an dieser Stelle ein konkretes Bild der Freiheit anhand der Arbeit:
Ein Lagerarbeiter in den 1970er Jahren war in der Lage, seine Familie zu ernähren, inklusive eines Urlaubs einmal im Jahr. Er besetzte in aller Regel eine unbefristete Stelle, Kündigungen kamen in solchen Konstellationen nur selten vor, es sei denn, der Arbeiter ließ sich etwas zuschulden kommen. Vielfach wurde bis zur Rente im selben Unternehmen gearbeitet.
Ein Lagerarbeiter im Jahr 2022 kann üblicherweise keine Familie ernähren, er muss bereits kämpfen, um als Alleinstehender über die Runden zu kommen. Je nachdem, wo er lebt, können allein die Kosten für die Miete schmerzliche Folgen haben. Unbefristete Arbeitsverträge sind eine Seltenheit, die Wahrscheinlichkeit, nicht lange im Unternehmen zu bleiben, ist hoch.
Die Unterschiede zwischen diesen Konstellationen liegen auf der Hand. Die Antwort auf die Frage der Qualität der jeweiligen Freiheit ist eklatant. Heute haben kaum Menschen ihr Glück in der eigenen Hand, vielmehr sind sie darauf angewiesen, auf dem Arbeitsmarkt einen Platz zu ergattern, der jedoch nur zeitlich begrenzt so etwas wie Sicherheit vermittelt. Von der Unterschicht bis in die mittlere Oberschicht breitet sich Unsicherheit aus, Zukunftsplanungen werden immer schwieriger, Gedanken etwa an ein Eigenheim sind für immer mehr Menschen unrealistisch, weil a) das Einkommen zu gering ist und b) die beruflichen Rahmenbedingungen eine Finanzierung nahezu unmöglich machen.
Seit dem Beginn der Corona-Episode sind zahlreiche weitere Freiheiten eingeschränkt, zuweilen sogar vollständig aufgehoben worden. Und auch im Zuge der Energiekrise, ausgelöst durch die Reaktionen deutscher Politik auf die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine, wird die Freiheit weiter beschnitten. Steigende Preise, stagnierende oder sinkende Löhne, Renten und Sozialleistungen, die weit hinter den Steigerungen der Lebenshaltungskosten zurückbleiben, führen zu immer weniger Freiheit und zu immer mehr Druck auf die Bevölkerung.
Die Frage, die Politik, Medien und zahlreiche wissenschaftliche Fachrichtungen umtreibt, ist verständlicherweise die nach der Antwort der Bevölkerung. Hatte Baerbock recht mit ihrer Furcht vor Volksaufständen?
Sind Aufstände zu befürchten?
Je nachdem, wie die Politik weitermacht und wie hart die Konsequenzen für die Bevölkerung sein werden, muss man sagen, dass die Möglichkeit von Volksaufständen oder ähnlichen Erscheinungen durchaus nicht von der Hand zu weisen ist. Ist der Leidensdruck erst groß genug und die Erkenntnis, nichts mehr zu verlieren zu haben, im Menschen gewachsen, sind Unruhen nicht auszuschließen.
Doch man darf die deutsche Mentalität nicht außer Acht lassen, und man darf nicht vergessen, dass der Neoliberalismus viel potenziellen Widerstandswillen in der Bevölkerung eliminiert hat. Die Corona-Episode zeigt das sehr deutlich. Immer, wenn man denken konnte, dass die nächste Eskalationsstufe das sprichwörtliche Fass zum Überlaufen bringen müsste, reagierte die Bevölkerung anders als gedacht. Selbst die absurdesten Maßnahmen wurden akzeptiert, teilweise steigerten Teile der Bevölkerung sie in vorauseilendem Gehorsam sogar von sich aus. Noch heute sieht man – und das gar nicht so selten – Menschen auf Fahrrädern oder im Wald einsam und allein Masken tragen, die "ganz Harten" gehen sogar mit Maske schwimmen.
Nun ist die Bereitschaft, Maßnahmen mitzutragen, deren Sinnlosigkeit längst belegt ist, zum einen eine Sache der Informationen. Wer sich einseitig informiert und ausschließlich auf die Überbringung der Nachrichten durch die Mainstreammedien setzt, erhält ein unvollständiges, ein verzerrtes Bild, das viele Aspekte, die wichtig wären, ausblendet bzw. nicht zulässt oder gleich als "Fake News" und "Verschwörungstheorie" diffamiert. Hier ist – da das Versagen der etablierten Medien breitflächig und offensichtlich ist – die Medienkompetenz der Nutzer gefragt. Wer sich auf die großen, bekannten Quellen verlässt, findet sich in einer Wüste aus Manipulation, Lügen, Lobbyismus und einem massiven Weglassen wieder.
Neben der Information spielt jedoch zum anderen die individuelle Angst eine entscheidende Rolle. Sie wurde im Zuge der Corona-Politik massiv ausgebaut, unter der Frage nach Leben und Tod ging gar nichts, man musste sich für eines von beidem entscheiden, und wer den vermeintlichen "Tod" wählte, war in jeder Hinsicht auf der falschen Seite. Zum einen erhielt er die Aussicht auf einen baldigen Tod, qualvoll und allein. Zum anderen wurde die Angst geschürt, mit der falschen Ansicht nicht mehr vollwertiges Mitglied der Gesellschaft zu sein, einer Gesellschaft, in der Solidarität zu einem Kampfbegriff geworden ist, der missbraucht wird, um unsolidarische Politik zu rechtfertigen.
Die Angst, die im Zuge der Corona-Episode in der Bevölkerung aufgebaut wurde, ist nicht zu unterschätzen, zumal sie rücksichtslos und ohne Empathie mit jedem Tag gesteigert wird. Schon jetzt, im Sommer, vermischen sich bereits die Ängste vor den Folgen der Russland-Politik mit denen der schon jetzt kommunizierten aufkommenden Corona-Maßnahmen. Der Bürger kann sich drehen und wenden, wie er will, er sieht überall nur Schlimmes, Beängstigendes, das seinen psychischen Zustand bestimmt. Das führt nicht nur zu einer Schwächung des Immunsystems, das auf derlei Angsterzeugung mit reduzierter Widerstandskraft reagiert. Es bläht das Gefühl der Unsicherheit, der Angst und der kontinuierlichen Sorge vor dem, was folgen wird, auf ein nur schwer zu ertragendes Maß auf.
Unterwerfung als letzter Versuch
Wie oben schon erwähnt, hängt es von der Politik ab, ob Aufstände eine realistische Option sind, mit denen man rechnen muss. Sollte es nicht irgendeine Form des politischen Gegensteuerns geben und die Verzweiflung der Bürger eine kritische Größe erreichen, werden Volksaufstände kaum zu vermeiden sein. Es hängt also von der Eskalationsbereitschaft der Bundesregierung ab, ob ab einem gewissen Leidenspunkt bürgerkriegsähnliche Zustände noch vermeidbar sind oder nicht. Aufgrund der gefährlichen Selbstsicherheit führender Politiker muss man ernsthafte Zweifel daran haben, dass sie die Gefahr sinnvoll und weitsichtig einschätzen.
Davon ausgehend, dass die Politik ihrer Verantwortung nicht nachkommt und die weitere Eskalation in Form eines wirtschaftlichen Desasters zulässt, das einen Großteil deutscher Privathaushalte und Unternehmen in den Zustand existenzieller Bedrohung versetzt, wird sich Widerstand formieren. Die Frage wird dann sein, wie schnell er entstehen und wie schnell er wachsen wird.
Ist dieser Punkt erreicht, wird es zu einem Wettlauf kommen. Die Politik wird in diesem Falle so schnell und so drastisch wie möglich den Widerstand im Keim ersticken müssen. Dies wird vermutlich durch massive und gewalttätige Einsätze der Polizei (und womöglich der Bundeswehr) geschehen, um weitere potenzielle Teilnehmer abzuschrecken. Es wird aber in noch viel größerem Maße mit Hilfe der Medien organisiert werden, die beim Diffamieren, dem Aufbau von Feindbildern und der Verfälschung von Fakten bereits jede Menge Übung haben.
Kommen wir zum Schluss noch einmal auf die Mischung aus Ängsten und der deutschen Mentalität zurück. Beides zusammen kann und wird die Widerstandskraft wohl erheblich schwächen. Eine standhafte Menge von Bürgern wird den Druck aushalten, wird sich am Widerstand nicht hindern lassen und/oder erhebliche Repressionen über sich ergehen lassen (müssen).
Für den Rest – und die alles entscheidende Frage ist, wie zahlreich dieser sein wird – wird die Unterwerfung die einzige Möglichkeit sein, mit der Krise umzugehen. Um Widerstand leisten zu können, ist mehr als nur Leidensdruck notwendig. Es gehört auch eine gewisse Persönlichkeit dazu, eine, die innere Kampfeslust entwickelt und daran glaubt, für eine gute Sache zu kämpfen. Diese zwingend nötige innere Überzeugung ist bei vielen Menschen im Laufe der letzten Jahrzehnte verlorengegangen.
Es bleibt zu hoffen, dass es weder zu Volksaufständen noch zur Unterwerfung kommen wird.
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