Wie die US-Macht schwindet: Über Zirkon und ihre Geschwister
von Dagmar Henn
Als der russische Präsident Wladimir Putin am 1. März 2018 Russlands in Entwicklung befindliche neue Waffen vorstellte, herrschte im Westen weithin Unglaube. Alles nur Propaganda, hieß es. Inzwischen ist der Unglaube versiegt, nachdem ausreichend Probestarts der meisten gezeigt wurden und Awangard, Kinschal, Poseidon und nun auch Zirkon ihren Dienst in den russischen Streitkräften angetreten haben. Was aber den Westen noch nicht wirklich erreicht hat, ist die Konsequenz dieser Entwicklungen.
Wenn ich das hier anlässlich der Ankündigung der Auslieferung von Zirkon zusammenfasse, möchte ich mich nicht auf meine eigenen Kenntnisse stützen müssen, sondern nutze ein Buch, das bereits vor drei Jahren erschienen ist, leider bisher nur auf Englisch: "The (Real) Revolution in Military Affairs" von Andrei Martyanov (aus diesem Buch stammen sämtliche Zitate im Text mit Ausnahme des ersten). Er hat damals durchdekliniert, welche Folge die Entwicklung von Hyperschallwaffen durch Russland (und China) haben wird, und nannte eben dies eine militärisch-technische Revolution, die erste des 21. Jahrhunderts. Das 20. habe deren drei gebracht: die Motorisierung, also Panzer und Flugzeug; die Entwicklung ballistischer Raketen und nuklearer Sprengköpfe; die Entwicklung präziser Distanzwaffen wie Lenkflugkörper.
Für seine Definition einer militärisch-technischen Revolution zitiert Martyanov einen Aufsatz aus der Zeitschrift National Interest: "Sie ist, was geschieht, wenn die Anwendung neuer Technologien bei einer signifikanten Zahl militärischer Systeme mit innovativen operationellen Konzepten und organisatorischer Anpassung in einer Weise verbunden wird, die den Charakter und die Führung eines Konflikts grundsätzlich ändert."
Das heißt, die Existenz einer technisch neuen Waffe (das galt auch schon für den Steigbügel, die Armbrust oder die Arkebuse) entfaltet erst in dem Moment ihre volle Wirkung, in dem auch die Art der Kriegsführung an sie angepasst wird; dann aber kann sie ein ungeheurer Vorteil werden. Die Schlacht von Crécy im Jahre 1346 ist ein Beispiel für eine solche Anpassung. Sie leitete das Ende der gepanzerten Reiterei ein, weil die englischen Bogenschützen (deren Langbögen eine den Armbrüsten vergleichbare Durchschlagskraft besaßen) das erste Mal dauerhaft in das Gefecht integriert wurden und so ihre schnelle Schussfrequenz zum Tragen kam.
Die ersten dieser Umbrüche entfalteten sich langsam. Der Weg vom Auftauchen einer neuen Technik bis zu ihrer vollen Integration in das militärische Vorgehen dauerte Jahrhunderte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, bei der oben erwähnten Motorisierung, dauerte es nur Jahrzehnte. Panzer und Flugzeuge tauchten gegen Ende des Ersten Weltkriegs auf; zu Beginn des Zweiten war es genau diese Anpassung des militärischen Vorgehens an diese Technik, die der Nazi-Wehrmacht zu Beginn so große Vorteile verschaffte.
Sind Hyperschallraketen tatsächlich eine neue Stufe? Schließlich sind sie Lenkraketen wie andere zuvor, nur schneller. Was natürlich mehr beeinflusst als nur die Flugzeit; auch die Wirkung eines Treffers erhöht sich schon unabhängig vom Gefechtskopf. Den Grundsatz dafür lernt jeder in der Fahrschule: der Bremsweg verlängert sich im Quadrat zur Erhöhung der Geschwindigkeit. Warum? Weil die kinetische Energie im Quadrat zunimmt, die maximale Bremsleistung aber konstant ist.
Bei Raketen ist das nicht anders. Eine Rakete A, die doppelt so schnell ist wie eine Rakete B, hat beim Einschlag die vierfache Wucht. Ist ihre Geschwindigkeit zehnmal so schnell, dann ist ihre kinetische Energie das Hundertfache. Eine Rakete, die mit zehnfacher Schallgeschwindigkeit auftrifft, hat dementsprechend auch die hundertfache kinetische Energie einer anderen, die nur Schallgeschwindigkeit erreicht (die Zirkon soll Mach 9 erreichen).
Mach 9 ist eine Fluggeschwindigkeit von über 11.000 Stundenkilometern. Nachdem die kinetische Energie im Quadrat zur Geschwindigkeit zunimmt, ist der Einfluss dieses Faktors so hoch, dass die bewegte Masse im Verhältnis dazu zurücktritt. Der Sprengkopf wird (bei der konventionellen Variante) sozusagen nur noch zur "Dreingabe", weil die Hauptwirkung schlicht die Übertragung der kinetischen Energie auf das statische Objekt ist. 11.000 Stundenkilometer entsprechen rund 3.056 Metern pro Sekunde (11.000 : 3,6) und damit einem Viertel der Aufprallgeschwindigkeit eines großen Meteoriten.
Genügt das, um von einer militärisch-technischen Revolution zu reden? Martyanovs zentrales Argument ist, dass es keine Möglichkeit gibt, Hyperschallraketen abzufangen. Selbst unter Einsatz des gesamten Potentials der USA an Aufklärung und Vernetzung nicht. Die Geschwindigkeit ist einfach zu hoch.
Dazu kommen zwei weitere Punkte: Zum einen werden durch diese Raketen – gleich, ob Zirkon oder die luftgestützte Kinschal oder ihre chinesischen Geschwister – die Flugzeugträgergruppen der Vereinigten Staaten, die über Jahrzehnte hinweg weitgehend unangreifbar waren, plötzlich extrem verwundbar; noch dazu aus einer Entfernung, die jede Reaktion unmöglich macht. So schreibt Martyanov: "Die wirkliche Revolution in militärischen Dingen beginnt mit modernen Überschallwaffen, die man tatsächlich abfeuern und vergessen kann [d.h. die ihr Ziel am Ende des Fluges selbständig finden] und deren Fähigkeiten vollständig alle Arten vernetzter Kriegsführung dadurch schlagen, dass sie durch alle vorhandenen Mittel nicht aufzuhalten sind."
Aber erst einmal zur Wirkung auf die Flugzeugträgergruppen. Noch einmal Martyanov: "In einem konventionellen Seegefecht – gleich, ob auf der Hochsee, in abgelegenen Meeresgebieten oder in einem Küstengewässer Russlands – würde die Oberflächenflotte der US-Marine schlicht nicht überleben. Von einer Salve aus zwei Zirkon- oder Kinschal-Raketen würde mindestens eine durchdringen, gegen jede Art von Oberflächenziel, und wäre ausreichend, um ein Ziel von der Größe eines modernen Zerstörers zu vernichten. (...) Es ist natürlich viel zu früh, um von einem völligen Wertverlust moderner Oberflächenflotten zu reden, aber für eine um Flugzeugträgergruppen aufgebaute Marine als Flotte, die gegen Gleichrangige oder fast Gleichrangige um die Kontrolle der See kämpft, läuten sie bestimmt das Totenglöckchen."
Die Zirkon hat eine Reichweite von 1.500 Kilometern. Das bedeutet, jedes Schiff, das sie abfeuert, ist außerhalb der Reichweite selbst der Flugzeuge eines Flugzeugträgers und damit für Gegenschläge nicht erreichbar. Es befindet sich auch außerhalb der Wahrnehmung, das heißt, erst die Rakete (oder die Raketen) selbst wird für das angegriffene Ziel sichtbar, allerdings derzeit ohne jede Möglichkeit der Gegenwehr.
Noch einmal Martyanov: "Selbst wenn wir annehmen, dass die Zirkon nicht die ganze Zeit auf Hyperschallgeschwindigkeit fliegt, sondern erst auf Mach 9 beschleunigt, wenn sie die Raketenabwehrzone der Oberflächenflotte erreicht, wird es absolut klar, dass sie es bei Mach 4 über 600 Kilometer in 8 Minuten bis in die Zone der maximalen Beschleunigung schaffen würde, während sie die letzten 200-300 Kilometer in etwa eineinhalb Minuten zurücklegt. In diesem Fall weniger als zehn Minuten."
Außerdem, und das ist womöglich auf der Ebene der strategischen Integration der wichtigste Punkt: Moderne Hyperschallraketen machen erstmals Ziele selbst tief in den USA auch konventionell wirkungsvoll erreichbar, und auch das aus sicherer Entfernung.
Das ist gewissermaßen die Wiederholung eines Vorgangs, den es während des Zweiten Weltkriegs bereits einmal gab, als das sich unverwundbar glaubende Großbritannien auf einmal für Gegner erreichbar war. Diesmal ist es die Insellage der Vereinigten Staaten, die ihre Wirksamkeit verliert. Bisher konnten sie davon ausgehen, im eigenen Land keine Schäden erleiden zu müssen, gleich, was sie im Rest der Welt taten, weil sie nur mit Atomraketen erreichbar waren, und jeder versuchen würde, einen nuklearen Konflikt zu vermeiden. Mit den Hyperschallraketen (die allerdings auch Nuklearsprengköpfe tragen können) ist das auch für konventionelle Waffen vorbei.
Während die Angreifbarkeit der Flugzeugträgergruppen die Vereinigten Staaten ihres wichtigsten Mittels zur Machtprojektion beraubt, versetzt die Reichweite von Raketen wie Zirkon sie erstmalig in den Zustand, konventionelle Angriffe auf eigene Machtzentren fürchten zu müssen. Die Mitteilung, dass die Zirkon in Serienproduktion ist (das ist die Voraussetzung dafür, dass sie ausgeliefert werden kann), dürfte im Pentagon für Panik gesorgt haben. Und das sogar unmittelbar; schließlich ist das Pentagon selbst ein erstrangiges Ziel für solche Raketen. Die Veröffentlichung der neuen russischen Marinedoktrin, die die Vereinigten Staaten erstmalig als Gegner klassifiziert und die Hauptbedrohung für den Weltfrieden nennt, war da eine passende Ergänzung.
Dazu kommt noch die symbolische Bedeutung des Schiffes, das mit diesen Raketen ausgerüstet wird. Der sowjetische Admiral Sergei Georgijewitsch Gorschkow war derjenige, der die sowjetische Marine von einer Küstenschutzmarine zu einer global einsetzbaren entwickelte. Ein Ziel, das ebenfalls Bestandteil der neuen Marinedoktrin ist. Die Ankündigung, die Kontrolle der USA über die Weltmeere infrage zu stellen, erfolgte also gleich dreifach.
Und nur zur aktuellen Ergänzung: Im Vorlauf zum Jahrestag der Volksbefreiungsarmee und sicher auch mit Bezug auf den möglichen Besuch von Nancy Pelosi in Taiwan hat der chinesische Staatssender ein Video veröffentlicht, das gegen Ende den Start einer DF-17-Rakete zeigen soll, von einer landgestützten, mobilen Abschusseinheit. Die DF-17 ist eine chinesische Hyperschallrakete mit einer Reichweite von 2.500 Kilometern; sie beruht aber auf der "einfacheren" Hyperschalltechnologie der Gleitflugrakete und erreicht das Ziel nur noch mit Mach 5. Bezogen auf Flugzeugträgergruppen ist das aber immer noch schnell genug. Umgerechnet ist das eine Aufprallgeschwindigkeit von fast 6.000 Stundenkilometern. Das ist natürlich nur ein Viertel der kinetischen Energie der Zirkon, aber bei einer ausreichenden Anzahl von Raketen immer noch genug, um von einer Flugzeugträgergruppe nicht viel übrig zu lassen.
Ob dies tatsächlich zu einer militärisch-technischen Revolution führt, wird sich zeigen. Eines jedenfalls ist klar: Das Kräfteverhältnis verändert sich durch diese Waffen an entscheidenden Punkten.
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