Für Russland muss die Frage beantwortet werden, ob es den USA bei der Abrüstung vertrauen kann
Ein Kommentar von Scott Ritter
Vergangene Woche richtete US-Präsident Joe Biden in einer Ansprache bei der 10. Konferenz zur Überprüfung des Vertrags über die Nichtverbreitung von Kernwaffen bezüglich der Notwendigkeit einer Wiederaufnahme von Gesprächen über die Rüstungskontrolle einen eindringlichen Appell an Russland.
"Meine Regierung ist bereit, zügig einen neuen Rahmen für die Rüstungskontrolle auszuhandeln, der die New-START-Vereinbarung von 2011 ersetzen soll, wenn diese 2026 ausläuft", sagte Biden, fügte aber hinzu, dass "Verhandlungen einen willigen Partner erfordern, der in gutem Glauben handelt. Russlands brutale und nicht provozierte Aggression in der Ukraine, hat den Frieden in Europa erschüttert und stellt einen Angriff auf die Grundprinzipien der internationalen Ordnung dar. In diesem Zusammenhang sollte Russland zeigen, dass es bereit ist, mit den Vereinigten Staaten die Arbeit an der nuklearen Rüstungskontrolle wiederaufzunehmen."
Biden hat die Rüstungskontrolle zu einem zentralen Thema bei seinem Umgang mit Russland gemacht. In der Tat war eine seiner ersten großen Amtshandlungen als Präsident die Unterzeichnung einer fünfjährigen Verlängerung der New-START-Vereinbarung, die aus der Ära von Obama stammt und unter der Regierung von Trump vor sich hinsiechen durfte.
"Die Verlängerung der New-START-Vereinbarung", erklärte Außenminister Antony Blinken in einer damals herausgegebenen Pressemitteilung, "stellt sicher, dass wir bis zum 5. Februar 2026 überprüfbare Beschränkungen für russische ballistische Interkontinentalraketen (ICBM), U-Boot-gestützte Raketen (SLBM) und schwere Bomber haben. Der Verifizierungsprozess der New-START-Vereinbarung", bemerkte Blinken, "ermöglicht es uns, die Einhaltung der Vereinbarung durch Russland zu überwachen und verschafft uns einen besseren Einblick in die nukleare Haltung Russlands, unter anderem durch Datenaustausch und Vor-Ort-Inspektionen, die es US-Inspektoren ermöglichen, russische Nuklearstreitkräfte und -anlagen im Auge zu behalten".
Blinken fügte dem eine kritische Bemerkung hinzu. "Die Vereinigten Staaten", erklärte er, "haben die Russische Föderation, seit Inkrafttreten der Vereinbarung im Jahr 2011, jedes Jahr auf die Einhaltung ihrer Verpflichtungen geprüft."
Leider kann Russland aber nicht dasselbe über die USA sagen. Seit dem Jahr 2018 beschuldigt Russland die Vereinigten Staaten, "eine bestimmte Anzahl von Trident-II SLBM-Trägerraketen und schwere В-52Н-Bomber in einer Weise modifiziert zu haben, dass die Russische Föderation nicht bestätigen kann, dass es mit diesen strategischen Waffen nicht möglich ist, SLBM oder Atomwaffen in schweren Bombern einsetzen zu können".
Das Fazit ist, dass die USA diese Umbauten auf eine Weise durchgeführt haben, die leicht rückgängig gemacht werden kann – ein Umstand, von dem Russland glaubt, dass damit die Intention von New-START umgangen wird, die eine dauerhafte Reduzierung der atomaren Arsenale auf beiden Seiten beinhaltet.
Die USA wiesen die russische Behauptung zurück und stellten fest, dass die New-START-Vereinbarung nicht ausdrücklich verlangt, dass die Modifikationen an den Trident-II SLBM-Trägerraketen oder den B-52H-Bombern irreversibel sind. Solange die Vereinbarung in Kraft sei, argumentierten die USA, könne Russland seine Inspektionsrechte dafür nutzen, um zu überprüfen, ob der Zustand dieser "Unmöglichkeit" durchgehend gegeben sei. Die Russen glauben zu Recht, dass die US-Position sowohl den Geist als auch die Absicht der Vereinbarung verletzt, eine Position, die auch bei der Verlängerung von New-START aufrecht gehalten wurde.
Russlands Zweifel an der US-Regelkonformität sind aber nur eines der Probleme, bei denen es darum geht zu beurteilen, ob es Washington in Sachen Rüstungskontrolle insgesamt vertrauen kann. Die USA haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten aus drei grundlegenden Verträgen zurückgezogen – dem Vertrag über die Abwehr ballistischer Raketen (ABM) im Jahr 2002, dem Vertrag über nukleare Mittelstreckenwaffen (INF) im Jahr 2019 und dem Open-Skies-Vertrag im Jahr 2020, der Inspektionsflüge über das jeweilige andere Land regelte. Die US-Unnachgiebigkeit, den Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) fair anzupassen, um die Realitäten nach dem Kalten Krieg widerzuspiegeln, führte zu seinem Untergang. New-START ist der "letzte Überlebende", wenn es um Abkommen zur Rüstungskontrolle zwischen Russland und den USA geht.
Biden versuchte, die strategische Rüstungskontrolle mit Russland voranzutreiben, und besprach die Angelegenheit mit Präsident Wladimir Putin während eines Gipfeltreffens in Genf im Juni 2021. Die beiden Staats- und Regierungschefs einigten sich darauf, "einen integrierten bilateralen Dialog über strategische Stabilität" zu führen, der "darauf abzielen soll, die Grundlagen für künftige Waffenkontrollen und Maßnahmen zur Risikominderung zu legen". Tatsächlich fanden am 28. Juli und am 30. September 2021 zwei solcher Treffen statt. Nach Abschluss der zweiten Gesprächsrunde einigte man sich darauf, "zwei behördenübergreifende Arbeitsgruppen von Experten zu bilden", die sich mit "den Grundsätzen und Zielen für die künftige Rüstungskontrolle" und "den Fähigkeiten und Handlungen mit strategischer Wirkung" befassen.
Doch dann kam die Krise in der Ukraine und die Gespräche drehten sich von nun an um die von Russland geforderten Sicherheitsgarantien angesichts der NATO-Erweiterung, die die Gefahr mit sich brachte, die Ukraine in den Schoß der transatlantischen Militärallianz zu ziehen.
In direkten Gesprächen mit den USA, der NATO und der OSZE im Januar 2022, wurden Russlands Bemühungen, einen neue europäische Sicherheitsarchitektur auszuhandeln, in der die russischen nationalen Sicherheitsinteressen berücksichtigt werden, wiederholt zurückgewiesen. Dies mündete in eine Situation, die dazu führte, dass Russland seine Militäroperation in der Ukraine einleitete, was Präsident Biden wiederum dazu veranlasste, den strategischen Stabilitätsdialog zu beenden; eine Aktion, mit der die US-amerikanisch-russischen Beziehungen im Wesentlichen eingefroren wurden – zumindest im Bereich der Rüstungskontrolle.
Bidens Ankündigung, die Gespräche mit Moskau wieder aufnehmen zu wollen, kam daher für den russischen Außenminister Sergei Lawrow recht überraschend. "Es wurden keine Anträge auf Wiederaufnahme dieses Verhandlungsprozesses gestellt", gab Lawrow während einer Pressekonferenz in Myanmar zu Protokoll und fügte hinzu, dass der Westen "eine Angewohnheit entwickelt hat, Ankündigungen über irgendein Mikrofon zu machen und sie dann zu vergessen".
Ungeachtet der fehlenden Vorankündigung seitens der USA gab Russland jedoch zu verstehen, jederzeit zu Gesprächen über die Rüstungskontrolle bereit zu sein – je früher, umso besser. Der Sprecher des Kremls, Dmitri Peskow, erklärte bei einer Telefonkonferenz mit Medienvertretern, dass "Moskau wiederholt über die Notwendigkeit gesprochen hat, solche Gespräche so schnell wie möglich aufzunehmen, da nur noch wenig Zeit bleibt". Sollte die New-START-Vereinbarung ersatzlos auslaufen, so Peskow, "wird sich dies negativ auf die globale Sicherheit und Stabilität auswirken, vor allem im Bereich der Rüstungskontrolle. Aus diesem Grund hat Russland einen baldigen Beginn von Gesprächen gefordert. Aber bis zu diesem Moment waren es die USA, die kein Interesse an substanziellen Kontakten zu diesem Thema gezeigt haben." Peskow betonte zudem, dass Verhandlungen über einen neuen Pakt in der Rüstungskontrolle nur "auf der Grundlage gegenseitigen Respekts und unter Berücksichtigung gegenseitiger Anliegen" geführt werden können.
Washingtons Drang nach Gesprächen mit Moskau scheint jedoch kaum mehr als ein Versuch zu sein, Russlands Vorteil bei strategischen Nuklearwaffen-Trägersystemen weg zu verhandeln. Diesen Vorteil hat sich Russland in den vergangenen Jahren durch die Entwicklung von neuartigen Waffensystemen erworben, wie die schwere interkontinentale ballistische Rakete Sarmat oder die Hyperschall-Rakete Awangard. Auf diese Weise würden die USA Russland dazu bringen, sich von seinen neuen Systemen zu trennen, während die USA nur aufgefordert wären, eine Handvoll Waffensysteme aufzugeben, die noch nicht vollständig getestet und bislang nie eingesetzt wurden.
Die USA haben erklärt, in den kommenden Jahren Hunderte Milliarden Dollar aufzuwenden, um die Interkontinentalrakete Minuteman III, die B-2-Bomber und die U-Boote der Ohio-Klasse durch neue Systeme zu ersetzen – und zwar durch die Interkontinentalrakete Sentinel, den Bomber B-21 und einen neuen U-Boot-Typ der Columbia-Klasse. Die hohen Kosten dieser neuen Waffen dürften in einem sich verschärfenden wirtschaftlichen Umfeld zu einem Problem werden, was Bidens Bestreben nach neuen Verhandlungen erklären könnte.
Der derzeitige US-Ansatz bei den Verhandlungen über die Rüstungskontrolle scheint von Natur aus einseitig zu sein und setzt voraus, dass bestehende russische Systeme für zukünftige US-amerikanische Systeme geopfert werden, die sich derzeit noch in der Entwicklung befinden. Darüber hinaus haben die USA eine schlechte Erfolgsbilanz, wenn es um die Einhaltung von Verträgen geht.
Der US-Ansatz ignoriert die grundlegende Auffassung Russlands in Bezug auf Rüstungskontrolle – dass solche Verhandlungen als Teil einer umfassenden Umstrukturierung bestehender Sicherheitsrahmen stattfinden müssen, die Moskaus legitime nationale Sicherheitsbedenken vollständig integrieren. Dazu gehören Fragen im Zusammenhang mit der Raketenabwehr – einschließlich der beiden bestehenden US-Einrichtungen in Polen und Rumänien –, Fragen über die nuklearen Mittelstreckenwaffen und ein Verbot der Stationierung solcher Systeme auf europäischem Boden sowie Fragen über nicht strategische Nuklearwaffen wie die B-61, von denen die USA derzeit eine Anzahl in Europa eingelagert hat und die im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" bei einem Konflikt auch an nichtnukleare NATO-Mitglieder abgegeben werden können.
Das Weiße Haus hat die Spielregeln auf den Kopf gestellt, wenn es darum geht, die Sache der Rüstungskontrolle voranzubringen. Der ehemalige US-Präsident Ronald Reagan hatte sich eine russische Weisheit zu eigen gemacht – "Vertrauen, aber immer auch verifizieren" –, als er 1987 über seinen Ansatz bei der Umsetzung des bahnbrechenden INF-Vertrags sprach. Damals wurde das "Vertrauen" vorausgesetzt und der Fokus lag auf dem Aufbau eines geeigneten Verifikationsprozesses, um die Einhaltung der Vertragsbedingungen zu gewährleisten.
Heute besteht kein Vertrauen mehr zwischen Russland und den USA, vor allem wegen der abweisenden Art und Weise, mit der die Regierung von Biden die Moskauer Bedenken hinsichtlich der europäischen Sicherheit behandelt hat, und die untrennbar mit der aggressiven Osterweiterung der NATO verbunden sind. Aber auch die miserable Erfolgsbilanz der USA im Rahmen bestehender und früherer Abkommen der Rüstungskontrolle muss berücksichtigt werden. Selbst wenn Biden bereit wäre, die Bedenken Russlands zu berücksichtigen, muss für Russland zuvor die Frage beantwortet werden, ob den USA als Partner bei der Abrüstung uneingeschränkt vertraut werden kann.
Übersetzt aus dem Englischen
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Scott Ritter ist ein ehemaliger Offizier für Aufklärung der US-Marineinfanterie und Autor von "SCORPION KING: America's Suicidal Embrace of Nuclear Weapons from FDR to Trump". Er diente den USA in der Sowjetunion als Inspektor für die Umsetzung der Auflagen des INF-Vertrags, während des Zweiten Golfkriegs im Stab von General Norman Schwarzkopf und war danach von 1991 bis 1998 als Waffen-Chefinspekteur bei der UNO im Irak tätig. Derzeit schreibt Ritter über Themen, die die internationale Sicherheit, militärische Angelegenheiten, Russland und den Nahen Osten sowie Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung betreffen. Man kann ihm auf Telegram folgen.
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