"Gratismentalität"? Dekadente deutsche Obrigkeit zelebriert Armenverachtung
von Susan Bonath
Ginge es nach FDP-Parteichef und Bundesfinanzminister Christian Lindner sowie einigen anderen wohlhabenden Steuergeldabhängigen und Lobbyisten, soll der ärmere Teil der Bevölkerung besser wieder zu Hause bleiben. Dieser verstopfte nämlich mit dem Billigticket für neun Euro den öffentlichen Nahverkehr, sorgte kaum für weniger Autoverkehr, schon gar nicht für eine bessere "Klimabilanz". Ihre "Gratismentalität" habe sie zu Reisen gelockt, die sie sich sonst nicht hätten leisten können, warf Lindner den Ärmeren vor. Das erinnert an jene arrogante Verachtung, wie sie von Feudalherren gegenüber ihren Untertanen überliefert ist.
Lindners Gutsherren-Mentalität
Wie ein feudaler Gutsherr zelebrierte Minister Lindner jedenfalls seine eigene Gratismentalität: Seine Hochzeit auf Sylt haben Steuerzahler – auch Erwerbslose zahlen zum Beispiel Mehrwertsteuer – mitfinanziert. Dafür durfte, wer sich eine Fahrt nach Sylt antun wollte, von der Straße aus zusehen – monarchische Dekadenz statt Demokratie.
Entsprechend hat sein Erguss bei Sozialverbänden und sogar einigen Leitmedien für Empörung gesorgt. Vielleicht war das einkalkuliert. Die FDP, die mit seichter und inkonsequenter Corona-Maßnahmen-Kritik vorübergehend ein paar Stimmen mehr einfangen konnte, stürzt derzeit nämlich wieder ab in der Wählergunst. Für plumpe Armenverachtung gibt es immer ein wenig freundliche Aufmerksamkeit von oben. Man könnte Lindners Phrase als Weckruf an den marktradikalen Teil der Wählerschaft abtun.
Arme sollen draußen bleiben
Leiser und fast zynischer sind jene "Experten", die im Gewand der Wissenschaft daherkommen, wie der Lobbyverband Agora Verkehrswende. Diese Denkfabrik, hinter der die milliardenschweren Stiftungen Mercator und European Climate Foundation stehen, veröffentlichte eine "Schockstudie" zum 9-Euro-Ticket, wie es der Berliner Kurier ausdrückte.
Die Studie, so heißt es, deute darauf hin, dass mit dem Ticket "mehr Verkehr erzeugt und kaum verlagert wird". Es gebe "keinen klaren Klimavorteil", weil viele – wohl auch mangels Vorhandensein von Nahverkehr – ihr Auto trotzdem nicht hätten stehen lassen, bedauerte Agora-Projektleiter Philipp Kosok. Die Bild legte wie gewohnt rhetorisch einen drauf und nannte die Monatsfahrkarte einen "Klima-Rohrkrepierer".
Mit anderen Worten: Der Pöbel verstopft nach Meinung der "reichen und schönen Experten" zusätzlich die Busse und Bahnen, weil er sich endlich auch mal ein paar Ausflüge mit Kind und Kegel leisten kann. Damit verärgert er doch glatt die Ökobewusstsein und politische Treue zelebrierende besserverdienende Mittelschicht. Denn die hat natürlich keine Lust, sich in überfüllte Züge zu quetschen, und holt rasch den SUV aus der Garage. Ja, wie können diese Niedriglöhner und Hartz-IV-Bezieher so etwas nur wagen?
Doch ganz nüchtern betrachtet: Auch für die Oma mit ihrer 800-Euro-Rente, die endlich wieder ihre Enkel besuchen will, ist es sicherlich kein Spaß, sich drei Stunden in rammelvollen Zügen die Beine in den Bauch zu stehen. Da stellt sich eine wesentliche Frage: Warum ist der öffentliche Nahverkehr in so einem miserablen Zustand und derart überteuert, dass er den eigentlichen Bedürfnissen aller Bevölkerungsgruppen gar nicht mehr gerecht wird, wie man sieht? Sollte man ihn vielleicht umbenennen in Ökoverkehr für Reiche?
Markt sieht kein Gemeinwohl vor
Schaut man sich zum Beispiel in ländlichen Gebieten Ostdeutschlands um, entdeckt man unzählige Überreste längst stillgelegter Bahnstrecken und Bahnhofsgebäude. In vielen Dörfern kommt man ohne Auto nicht mal mehr zum nächsten Supermarkt, weil dort gar nichts fährt – geschweige denn zur Arbeit. Und allgemein zeigt sich ein desaströses Bild: Züge fallen einfach aus, auf Pünktlichkeit hofft man schon gar nicht mehr. Und ein paar Schneeflocken brachten schon mal den gesamten Bahnverkehr zum Erliegen.
Nun, der von Lindner stets hochgepriesene Markt fordert eben Opfer. Zwar krümmen sich die kleinen Lohnabhängigen schon jetzt unter der wachsenden Last aus Steuern und Abgaben aller Art. Doch die Rendite der Profiteure muss schließlich hoch bleiben. Da heißt es sparen: an Instandhaltung, Personal und Löhnen. Und die Preise müssen rauf. So wird sich die Bahn bald selbst überflüssig machen. Der freie Markt sieht Gemeinwohl ohnehin nicht vor. Da geht es um Profit.
Überbezahlte Wichtigtuer
Man könnte sich noch eine andere Frage stellen. Auf wen könnte die Gesellschaft eigentlich eher verzichten: auf Pizzabäcker, Paketfahrer, Postzusteller, Altenpfleger und Leiharbeiter in der Produktion – also jene, die das 9-Euro-Ticket vermutlich genutzt haben – oder auf die derzeitige Bundesregierung, das Parlament, deren gesamten Hofstaat und diverse Lobbyisten für die Interessen irgendwelcher Oligarchen?
Man könnte inzwischen gar meinen, selbst jeder erwerbslose Hartz-IV-Bezieher tut oft mehr Sinnvolles für die Gesellschaft als die aktuell in Deutschland politisch Verantwortlichen, selbst wenn er gar nichts täte. Zumindest stürzt so ein Hartz-IV-Bedürftiger das Land nicht in eine Energiekrise, droht nicht Millionen Menschen mit kalten Wohnungen, treibt nicht die Preise in die Höhe und nötigt auch niemanden zu medizinischen Behandlungen mit fragwürdigem Nutzen. Und vielleicht kümmert er sich sogar auch um den alten Nachbarn, damit der nichts Pflegeheim muss. Das steht dann allerdings nicht in der Zeitung.
Voll sind die Titelseiten der Leitmedien indes mit Phrasen von politisch korrekten, meist überbezahlten Wichtigtuern aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Selbst für anmaßende Häme bekommen sie dort kraft ihres Postens, Gehalts oder akademischen Grades ihr Podium.
Man erinnere sich an ständige Forderungen nach einer Rente ab 70. Man denke an Lindners Parteikollegen Henner Schmidt, der einst Hartz-IV-Bezieher zum Rattenjagen verpflichten wollte, oder an den verstorbenen Ex-FDP-Chef Guido Westerwelle. Letzterer behauptete einst, Hartz IV lade Erwerbslose zu "spätrömischer Dekadenz" ein. Die Hungerbezüge könnten Betroffene nämlich davon abhalten, sich mit anderen Erwerbslosen um Hungerlohn-Jobs zu kloppen.
Lindners aktueller Erguss entspringt der gleichen abgehobenen Denkweise. Ja, was denkt er sich eigentlich? Meint er etwa, das gemeine Volk solle arbeiten, den Oberen zu Diensten sein und sich ansonsten – rechtlos – aus der Öffentlichkeit fern halten und die Klappe halten? Vielleicht sollte der Finanzminister – und nicht nur er – nach einer Zeitmaschine Ausschau halten, um sich einige Jahrhunderte zurückzubeamen – und bis dahin einfach einmal still sein. Zumal Kompetenz und Weisheit sicherlich nicht die Hauptkriterien sind, um in Deutschland auf hohen politischen Posten zu landen.
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