Wie sich die Herrschenden um die "Delegitimierung des Staates" sorgen – und wo das alles enden kann
von Dagmar Henn
Im Verlauf der letzten zwei Jahre tauchte er immer wieder auf, dieser Begriff "Delegitimierung des Staates". Inzwischen gibt es einen eigenen Abschnitt im Verfassungsschutzbericht zu diesem Thema, und auch in den Äußerungen von Regierungsvertretern sind ähnliche Formulierungen nun gang und gäbe.
Ganz abgesehen davon, dass ein Staat sich immer nur selbst delegitimieren kann, nämlich dadurch, dass er seine grundlegenden Aufgaben nicht erfüllt – irgendetwas verursachte dabei Unwohlsein in meinem Hinterkopf.
Betrachten wir doch noch einmal, welche Formulierungen das Bundesamt für Verfassungsschutz in seinem Bericht gebraucht:
"Die Akteure dieses Phänomenbereichs zielen dabei darauf ab, wesentliche Verfassungsgrundsätze außer Geltung zu setzen oder die Funktionsfähigkeit des Staates oder seiner Einrichtungen erheblich zu beeinträchtigen. Sie machen demokratische Entscheidungsprozesse und Institutionen von Legislative, Exekutive und Judikative verächtlich, sprechen ihnen öffentlich die Legitimität ab und rufen zum Ignorieren behördlicher oder gerichtlicher Anordnungen und Entscheidungen auf. Diese Form der Delegitimierung erfolgt meist nicht durch eine unmittelbare Infragestellung der Demokratie als solche, sondern über eine ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen. Hierdurch kann das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert und dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigt werden. Eine derartige Agitation steht im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen wie dem Demokratieprinzip oder dem Rechtsstaatsprinzip."
Der letzte Satz ist natürlich gelogen. Denn die Ausübung der Meinungsfreiheit wie der Versammlungsfreiheit steht grundsätzlich nicht "im Widerspruch zu elementaren Verfassungsgrundsätzen", handelt es sich dabei doch vor allem um die Anwendung ebensolcher. Und das Rechtsstaatsprinzip besagt eben gerade nicht, dass staatliche Entscheidungen unantastbar sind, sondern dass sie jederzeit und immer einer parlamentarischen oder gerichtlichen Überprüfung unterworfen sein müssen. Dass die Gerichte offenkundig derzeit an einer massiven Überprüfungsschwäche leiden, steht auf einem anderen Blatt.
Interessant ist auch die Erklärung, worauf "die Akteure" abzielen. Denn das ist eine durch nichts belegte Behauptung. Wenn jemand zum Boykott der Rundfunkbeiträge oder zum Nichtzahlen der Habeck-Umlage aufruft, ist das erst einmal genau das. Ein Aufruf, einer Anordnung nicht nachzukommen, die als unrechtmäßig angesehen wird. Das ist zunächst mitnichten gleich Bestandteil eines elaborierten Plans zum Umsturz.
Auch hier gilt wieder: es ist der Staat selbst, der als Verursacher die Voraussetzungen dafür geschaffen hat. Nur in einer Situation, in der die gegebene Staatsmacht existentiellen Bedürfnissen der Bevölkerung gegenüber völlig unnachgiebig ist, kann eine Losung wie "Brot, Land, Frieden" eine Wirkung entfalten, wie sie dies im Jahre 1917 in Russland tat. Um eine tatsächlich vorhandene Funktionsfähigkeit zu beeinträchtigen, braucht es wesentlich mehr. Und wie ist es mit einer nicht vorhandenen Funktionsfähigkeit? Bei der Deutschen Bahn AG beispielsweise, bei der mit Mühe noch 60 Prozent der Züge pünktlich sind? Die kann man gar nicht verächtlich machen, weil sie sich selbst verächtlich gemacht hat.
Aber da war eben irgendetwas, das im Hinterkopf störte. "Das Vertrauen in das staatliche System erschüttert ... Verächtlichmachung von Repräsentantinnen und Repräsentanten" – die Formulierungen kamen mir bekannt vor. Nicht einfach nur die Sichtweise, dass die staatliche Macht derart fragil sei, dass sie von etwas so Winzigem wie einer Meinungsäußerung gefährdet werden könnte. Sondern die Grundvorstellung, dass kritikloses Vertrauen in das staatliche System die einzig angebrachte Haltung sei.
Noch stehen solche Formulierungen "nur" im Verfassungsschutzbericht und nicht im Strafrecht. Und es wäre sehr angebracht, wenn sich die Verantwortlichen genau damit befassen, in welche Nähe sie sich begeben, sollten sie beabsichtigen, auch diesen Schritt noch zu vollziehen. Die Häufigkeit, mit der solche Vorwürfe der "Delegitimierung" gebraucht werden, und die schrittweise auch juristische Verengung des Meinungskorridors (mit Verboten des Buchstabens "Z" und Strafverfahren wegen Meinungsäußerungen im Internet) ist allerdings bereits ein erkennbarer Schritt in diese Richtung. Nein, man sollte sich nicht einmal rhetorisch in diese Nähe begeben, auch nicht mit amtlichen Schriftstücken wie dem Verfassungsschutzbericht.
Das Folgende sind Zitate aus dem "Gesetz gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei und zum Schutz der Parteiuniformen" vom 20. Dezember 1934 (Hervorhebungen von mir):
"Artikel 1. § 1. (1) Wer vorsätzlich eine unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art aufstellt oder verbreitet, die geeignet ist, das Wohl des Reichs oder das Ansehen der Reichsregierung oder das der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder ihrer Gliederungen schwer zu schädigen, wird, soweit nicht in anderen Vorschriften eine schwerere Strafe angedroht ist, mit Gefängnis bis zu zwei Jahren und, wenn er die Behauptung öffentlich aufstellt oder verbreitet, mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft."
Die aktuellen Wortmarken für Begriffe wie "unwahre oder gröblich entstellte Behauptung tatsächlicher Art" lauten heute wohl "Fake News" oder "Desinformation". Und genau wie im zitierten Paragrafen gibt es dabei eine Unschärfe, und die Festlegung der Wahrheit liegt bei den staatlichen (oder staatlich beauftragten und finanzierten) Stellen. Aber es ist immerhin noch keine Straftat, Aussagen zu tätigen, die nach Meinung dieser Stellen unwahr sind.
Jetzt die Passage, die im Hinterkopf Unwohlsein auslöste:
"§ 2. (1) Wer öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen über leitende Persönlichkeiten des Staates oder der NSDAP, über ihre Anordnungen oder die von ihnen geschaffenen Einrichtungen macht, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben, wird mit Gefängnis bestraft.
(2) Den öffentlichen Äußerungen stehen nicht-öffentliche böswillige Äußerungen gleich, wenn der Täter damit rechnet oder damit rechnen muß, daß die Äußerung in die Öffentlichkeit dringen werde."
"Äußerungen, die geeignet sind, das Vertrauen des Volkes zur politischen Führung zu untergraben", … "ständige Agitation gegen und Verächtlichmachung von demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates", die "das Vertrauen in das staatliche System insgesamt erschüttert" – liest sich das alles nur für mich wie aus derselben Feder stammend? Wie eine Wiederholung eines überwunden geglaubten Leitmotivs – nur mit einer kleinen Variation?
Es mag ja sein, dass die augenblicklich in Deutschland verantwortlichen Politiker den Text eines obskuren Nazigesetzes aus dem Jahr 1934 tatsächlich nicht (mehr) kennen. Es ist auch eher Zufall, dass ich selbst es irgendwann einmal gelesen habe. Aber das reichte, damit da dieses Jucken am Hinterkopf blieb.
Im Verfassungsschutzbericht wird über "demokratische Entscheidungsprozesse" und die "demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sowie Institutionen des Staates und ihrer Entscheidungen" geschrieben. Das ist selbstverständlich gemogelt, denn das Demokratische an einer Legitimation ist ihre Begrenztheit und ihre Widerrufbarkeit. Eine Selbstpreisgabe eines Parlaments, wie sie unlängst erst im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes geschah, ist in ihrer demokratischen Legitimität äußerst fraglich; das gilt in allen Grenzsituationen, die weit über das hinausgehen, was zum Zeitpunkt der Wahl zur Debatte stand, also dem Bürger als Grundlage der Wahlentscheidung dienen konnte. Die Wahl im Herbst 2021 war eben keine unter der Überschrift "Wollt ihr frieren?" – und auch öffentlicher Unmut bis zur Erzwingung von Neuwahlen ist legitimer Teil einer demokratischen Verfasstheit. Wenn das die deutschen Vertreter nicht glauben wollen, können sie sich gerne über die französische oder die italienische Geschichte informieren.
Die Institutionen des Staates sind übrigens nicht automatisch demokratisch legitimiert, nur weil das Gremium das war, welches über deren Einrichtung entschieden hatte. Ganz zu schweigen davon, dass andernfalls damit auch noch die Entscheidungen dieser Institutionen gleich sämtlich mitlegitimiert werden würden.
Es ist unübersehbar, dass die Vorstellung, was "demokratisch" ist, in den Köpfen schrittweise verzwergt. Protest auf der Straße gilt mittlerweile, so zumindest jüngst in einer Darstellung der Tagesschau, nicht mehr als demokratisch, höchstens noch kleine "Diskussionsrunden" halbamtlicher Art, etwa so wie Beiräte. Damit ist das Stückchen Demokratie, das beim Souverän verbleibt, tatsächlich bis auf das Kreuzchen auf dem Zettel geschrumpft, und danach habe der eigentliche Souverän dann blind zu vertrauen.
Gleichzeitig zeigen solche Aussagen diesem Souverän gegenüber ein tiefes Misstrauen, das schon kein Volk mehr kennt, sondern nur noch den Pöbel. So, wie dann der vorübergehende Auftrag der Interessensvertretung, der Abgeordneten erteilt wird, als Ermächtigung gesehen wird, ohne Begrenzung Herrschaft auszuüben.
Der Vorteil einer demokratischen Verfassung aber liegt darin, durch Rückholbarkeit eine gewisse Fehlerbegrenzung zu erzielen. Es ist genau die Möglichkeit öffentlichen Unmuts, die Tatsache, dass der Souverän auch direkt politische Forderungen stellen kann, die diese Rückholbarkeit garantiert. Wer aktives Handeln des Souveräns nur unter dem Gesichtspunkt von "Delegitimierung" wahrzunehmen bereit ist, hat offenbar das Gespür dafür verloren, was demokratische Prozesse eigentlich sind.
Noch besteht die Möglichkeit, auf das demokratische Spielfeld zurückzukehren und wahrzunehmen, dass sich vielleicht in dem Unmut über steigende Energiekosten, über die angekündigte Verelendung der Souverän artikuliert. Und die Möglichkeit, eine demokratische Demut wieder zu erlernen, die darin besteht, anzuerkennen, wenn der Souverän Entscheidungen nicht mitträgt oder sie gar ablehnt. Noch ist nicht die ganze Strecke bis zu jenem Gesetz aus dem Jahr 1934 zurückgelegt.
Es ließe sich ganz leicht erkennen, sollten die demokratisch legitimierten Repräsentantinnen und Repräsentanten sehen, auf welchen Weg sie sich begeben haben. Das Gerede über Delegitimation würde aufhören – so, wie die vorab getätigten Bewertungen von Protesten, die noch gar nicht begonnen haben. Die stetige Verengung des geduldeten Meinungskorridors würde sich umkehren können. Dann wäre die deutsche Demokratie noch zu retten.
Andernfalls aber würde sie genau da enden: bei den Paragrafen des "Gesetzes gegen heimtückische Angriffe auf Staat und Partei ..."
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