Ein Land zum Frieren – der Focus gibt Tipps für den Kältewinter
von Dagmar Henn
Es wird kälter in Deutschland. Und ich meine das nicht meteorologisch, ich meine das auch nicht heiztechnisch. Ich meine die Gesellschaft. Die ohnehin spätestens seit 2005 halbgefroren ist; um das zu erkennen, reicht ein Blick auf die Zahl der Menschen, die in den deutschen Großstädten inzwischen in Hauseingängen nächtigen.
Zugegeben, der Focus ist kein Blatt für die ärmeren Schichten. Aber früher gehörte es zumindest zur Allgemeinbildung, zu wissen, dass es solche gibt, und es gehörte zum guten Ton, darüber nachzudenken, wie es ihnen ergehen könnte. Das tut man inzwischen gerade noch ein paar Tage vor Ostern und vor Weihnachten, und selbst da wird der Zeitraum kürzer und die vorhandenen Kenntnisse sind geringer. Aber die Tipps, die der Focus gibt, wie man den kommenden Winter überstehen könne, jagten mir einen kalten Schauer über den Rücken. Weil ich mir mich selbst vorstellte, im Herbst 2003, allein mit Zwillingen. Wie es mir erginge, wäre damals heute, und ich bekäme diese tollen Tipps zu lesen.
Übrigens, vorweg, auch das ignoriert der Focus, nur zur Erinnerung: Mieter haben üblicherweise nicht die Wahl, wie geheizt wird. Eine Zeit lang wurden Gasheizungen in Deutschland gefördert, sodass die Hälfte des Landes mit Gas heizt.
Eine Variante der Gasheizung ist die Gasetagenheizung; die war komfortabel in der Hinsicht, dass man auch in einem kalten Sommer selbst die Heizung anwerfen konnte, hat aber den Nachteil, dass die Heizkosten unmittelbar bei der monatlichen Gas-/Stromvorauszahlung aufschlagen. Mit der entsprechenden Konsequenz, dass die Heizung im Falle einer Sperre gleich mit betroffen ist. Momentan hieße das für all jene, die von Hartz IV leben müssen (wie fast die Hälfte der Alleinerziehenden), bei jeder Erhöhung neuen Papierkrieg mit dem Amt zu starten, um die höheren Heizkosten noch vor der Sperre irgendwie finanzieren zu können.
Nein, Menschen in solchen Lagen hat der Focus nicht im Blick. Der erste Rat lautet nämlich: den Notgroschen anzapfen. Den man haben solle, in Höhe von "drei bis vier Nettomonatsgehältern". Ich habe immer nur periodenweise von Sozialleistungen gelebt und viele Jahre gearbeitet, aber war immer alleinziehend. Da war schon kein Urlaub drin; ein Notgroschen, der für drei Monate reicht? So etwas habe ich nie besessen.
Das dürfte allen Niedriglöhnern ähnlich gehen. Die haben noch nicht wenig genug, um aufzahlendes Hartz IV zu beantragen, aber Notgroschen sind da ein Ding aus einer anderen Welt. Und mehr als jeder fünfte Beschäftigte zählt zu den Niedriglöhnern ...
Gut, kommen wir zu Tipp 2: das Geld woanders sparen. Die konkreten Vorschläge: das Abo fürs Fitnessstudio kündigen oder den Streaming-Dienst, oder unnötige Versicherungen. "Schlimmstenfalls müssen Sie beim Lebensmittel-Einkauf jeden Euro zweimal umdrehen und auf günstigere Produkte setzen."
Klar, schafft man, wenn man üblicherweise bei Edeka einkauft. Wenn man schon bei Aldi gelandet ist, bleibt nur noch die Tafel. Und Fitnessstudio? Ach, schön wär's gewesen. Den Euro zweimal umdrehen? Das ist der Normalzustand für viele. Noch einmal, da sind über zwanzig Prozent Niedriglöhner, da sind die ganzen Alleinerziehenden, die oft trotz Arbeit noch Hartz IV brauchen, unter anderem, weil die Mieten so hoch sind, da sind die Rentner mit weniger als 800 Euro im Monat ... wir reden hier von mindestens jedem Vierten im Land, nicht von einer kleinen, zu vernachlässigenden Gruppe. In manchen Gegenden, wie in Städten im Ruhrgebiet, von mindestens jedem Dritten.
Ich weiß noch genau, wie ungeheuer demütigend es war, im Aldi vor dem Angebot von Kinderschuhen zu stehen und genau die fünf Euro je Paar gerade nicht mehr übrig zu haben. Nein, an solche Situationen denkt man beim Focus nicht. Was kein Problem wäre, würde die Politik noch daran denken. Aber es ist in der gesamten politischen Klasse niemand mehr übrig, der solche Momente selbst erlebt hat. Man will sowas gar nicht so genau wissen. Als wäre eine Armut, die Konsequenz politischer Entscheidungen ist, etwas Unanständiges, Anrüchiges. Man kann darüber reden, wie man mehr oder weniger helfen will, oder abstrakt über Ursachen, aber was es wirklich bedeutet, wie es sich anfühlt, welche vielfältigen zusätzlichen Hindernisse daraus erwachsen, das ist kein Thema, das ist zu nah.
Dabei erschließen sich die verborgenen Bosheiten erst im Detail. Das deutsche Sozialsystem ist darauf ausgelegt, möglichst große Hindernisse aufzubauen, und an vielen Stellen zwar von einem Anspruch zu reden, aber dann die Erlangung der Leistung so mühsam wie möglich zu machen. Wie mit den Wohngeldanträgen, die in der Bearbeitung ewig brauchen. Oder ein anderes schönes Beispiel: als ich mit meinen Zwillingen damals aus der Klinik kam, stellte mir meine Gynäkologin ein Rezept über eine Haushaltshilfe aus. Das brauchen Sie jetzt, meinte sie. Ich bin mit dem Rezept zur Krankenkasse. Das war nicht einfach; die Zwillinge waren noch klein, unter 3.000 Gramm, und es war ein sehr kalter Herbst mit Schnee schon Anfang Oktober; sie sollten nicht nach draußen kommen, bis sie wenigstens die 3.000 Gramm überschritten hatten ... also musste jemand auf die Zwillinge aufpassen, damit ich zur Frauenärztin konnte, und noch einmal für den Weg zur Krankenkasse.
Dort wurde ein Blick auf das Rezept geworfen, und dann erklärt: "Das ist das falsche Formular. Da müssen sie noch einmal hin und es neu ausstellen lassen." Nicht, dass auf dem anderen Formular andere Daten gestanden hätten. Aber es hatte eine andere Farbe. Das Ergebnis? Ich ließ es bleiben, weil der Aufwand so groß war. Und genau das ist das Ziel solcher Konstruktionen: dafür zu sorgen, dass die Menschen etwas, das ihnen zusteht, nicht in Anspruch nehmen, weil die bürokratischen Anforderungen zu groß sind.
Womit wir übergangslos beim nächsten Tipp wären. "Die höheren Gaspreise bezahlen Sie über die Nebenkostenabrechnung." Stimmt für den Fall, dass es sich um eine Gaszentralheizung handelt. Stimmt nicht bei Gasetagenheizungen (siehe oben). Aber wie auch immer. Bei einer Nachzahlung hängt Wohl und Wehe bei all jenen, die die Kosten alleine nicht stemmen können, an den Behörden. Wohngeld, war das nicht der Vorschlag der Bundesregierung für all jene, die für Hartz IV ein bisschen zu viel haben? Dann muss der gute Vermieter schon ein halbes Jahr warten. Wenn er es denn tut. Das, was zuletzt kursierte, die hundert Euro pro Nase und Monat (die ohnehin an Lindner scheitern werden), die decken gerade mal die Habeck-Umlage (oder sollte man sie nicht besser Selenskij-Umlage nennen?).
Auch die nächste Idee ist hübsch. "Die Altersvorsorge anzapfen." Da fällt mir dann sofort wieder die Riesterrente ein, dieser bizarre Versuch, Leute zum Sparen zu nötigen, die nichts zum Sparen übrig haben. Man kann es mit einiger Zuversicht ohne weitere Überprüfung aus dem Ärmel schütteln: das untere Drittel der Deutschen hat keine Altersvorsorge außer der gesetzlichen Rentenversicherung, und in vielen Fällen auch da nur minimale Ansprüche. Da ist nichts zu verkaufen oder aufzulösen. Ich habe den Ton der Verwunderung noch im Ohr, mit dem damals in den Nachrichten verkündet wurde, dass gerade Menschen mit niedrigen Einkommen keine Riesterverträge hätten. Ja, was haben sie denn gedacht? Wer legt sich denn sowas zu, wenn man den Euro sowieso schon dreimal umdreht?
Der richtige Bringer ist allerdings der vorletzte Tipp. "Kredite aufnehmen." Solange es in der Gesellschaft noch nicht erlaubt ist, sich für transfinanziell zu erklären (ein Reicher im Körper eines Armen), bleibt das für viele Utopie. Banken haben die unangenehme Eigenschaft, nur denen Geld zu geben, die schon welches haben. Und über Armut wird genau Buch geführt; das nennt sich Schufa. Übrigens, einer der häufigsten Gründe für Schufa-Einträge sind nicht gezahlte Strom- und Gasrechnungen. Schufa-Einträge wiederum machen es sehr schwer, eine Wohnung zu finden. Die dürften im kommenden Winter auch eine Blütezeit erleben.
Und in der Familie borgen, wie der Focus ebenfalls vorschlägt? Eine der wenig bekannten Nebenwirkungen von Hartz IV ist, dass meist die Familie versucht, den ewigen Mangel irgendwie zu lindern; mit dem Ergebnis, dass nicht nur die selbst Betroffenen kein Vermögen mehr haben, sondern ganze familiäre Netzwerke ausbluten. Dazu kommt noch die starke Stratifizierung der deutschen Gesellschaft – arm und reich heiraten nicht miteinander, selbst Akademiker heiraten meist Akademiker. Sprich, es gibt Familien, in denen es nur Arme gibt, und in anderen gibt es nur Reiche. Die einen können nichts borgen, die anderen brauchen nichts. Dass tatsächlich jemand, bei dem es knapp werden wird, auf jemanden zurückgreifen kann, bei dem das nicht der Fall ist, ist in der deutschen Gesellschaft eine statistische Ausnahme.
Kommen wir zum letzten Punkt. "Den Lebenswandel komplett überdenken." Da ist dann die Rede von "schwierigen Fragen": "Müssen Sie in einer Wohnung wohnen, die so viel Gas verbraucht? Wäre es woanders nicht auch langfristig günstiger?" Vermutlich haben Focus-Leser alle so tolle Jobs, dass sie mühelos den Arbeitsplatz wechseln können, leben aber nicht in Großstädten, in denen man selbst mit Geld und ohne Schufa-Eintrag mitnichten mal eben eine Wohnung findet. Und da rede ich von überhaupt einer Wohnung, einem Dach über dem Kopf, nicht von einer Wohnung, die günstig ist und noch niedrige Heizkosten hat. Da hilft selbst ein gutes Einkommen nicht mehr. Da muss es schon so gut sein, dass man eine Wohnung kaufen kann. Die ist dann allerdings vermutlich bestens gedämmt und mit modernster Heiztechnik ausgestattet.
Natürlich irrt sich der Focus, wenn er meint, er würde nur von Menschen mit höheren Einkommen gelesen. Seine Tipps jedenfalls sind nur für das obere Fünftel realisierbar.
Was aber, wenn der Vermieter die Heizung herunterdreht? Man also thermisch zwangsbespart wird? Ich versuche mir vorzustellen, was das im Herbst 2003 für mich bedeutet hätte (und ja, es dürfte doch einige Tausend alleinerziehende Zwillingsmütter geben, jeden Monat). Eine Wohnung, die eigentlich für Neugeborene mit Untergewicht zu kalt ist. Zurück in die Klinik? Für einen ganzen Monat? Oder Heizlüfter kaufen, damit es für die Kleinen nicht zu kalt wird?
Das ist schon auffällig. Nie, nirgends wird bei all den Aufforderungen, doch weniger zu heizen, von den Kindern gesprochen. Es war schon grässlich genug, dass zwei Winter lang die Klassenzimmer kalt waren. Staatlich verordnete Kindsmisshandlung war das. Aber jetzt sollen das die Eltern selbst ihren Kindern antun. Denn ja, es gibt Menschen mit Kindern, auch in Deutschland. Die Heizung herunterdrehen? Nur noch schnell duschen? Wie ist das mit dem abendlichen Bad für Dreijährige, die sich tagsüber ordnungsgemäß im Schlamm ausgetobt haben?
An dieser Stelle kann man merken, dass sich die Norm geändert hat und Familien nicht mehr dazuzählen, gleich, ob mit einem oder zwei Elternteilen. Sonst hätte irgendjemand inzwischen gefragt, wie das denn gehen soll, dass Eltern ihre Kinder frieren lassen. Und nein, Bewegung ist in einer Mietwohnung keine Lösung. Draußen herumlaufen lassen in einer Großstadt meist auch nicht.
Dass Alleinerziehende aus der Wahrnehmung verschwunden sind, war die Folge von Hartz IV. Das passierte genau zu jenem Moment, an dem die Öffentlichkeit gerade mal wahrgenommen hatte, dass da ein Problem ist. Inzwischen spricht man nur noch von "Kinderarmut", dabei ist das meistens die Armut der Mütter, die nicht nur von den Vätern, sondern auch von der Gesellschaft allein gelassen werden, also doppelt alleinerziehend sind.
Aber jetzt, und dazu dürfte die Corona-Erzählung von den infektiösen Kleinen gut beigetragen haben, sind alle Eltern unsichtbar geworden. Es ist eine Sache, den Erwachsenen den Alltag zu verleiden. Nicht einmal darüber nachzudenken, was das für die Kinder heißt, das passiert nur einer Gesellschaft, die keinerlei soziales Empfinden mehr hat. Kinder vor Not zu bewahren ist nicht die Aufgabe der Eltern, sondern der gesamten Gesellschaft. Schließlich sind es auch nicht die Eltern, sondern die gesamte Gesellschaft, die einen Nutzen davon hat, wenn diese Kinder zu verantwortlichen, bewussten und nützlichen Menschen heranwachsen.
Tipps gibt es nur für die, die sie eigentlich nicht brauchen. Den Rest lässt man stehen, im Regen wie im Schnee. Und das alles wegen idiotischer Sanktionen, die man bleiben lassen könnte. Ein Land zum Frieren.
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