Meinung

Winnetous zweiter Tod

Die Aufregung um Winnetou ist mehr als eine lächerliche Posse. Es handelt sich um einen wiederholten Versuch, die Geschichte neu zu schreiben.
Winnetous zweiter TodQuelle: www.globallookpress.com © imago stock&people

Von Tom J. Wellbrock

Als Winnetou gemeinsam mit Old Shatterhand und Sam Hawkens gegen Banditen kämpfte, schlich sich unbemerkt der Bösewicht Rollins von hinten heran. Der Schuss von Rollins galt Old Shatterhand, aber Winnetou warf sich mutig in die Schusslinie. Und so traf die Kugel ihn selbst anstatt seinen Blutsbruder. Bei dieser Filmszene hoffte damals die an den Nägeln knabbernde Fan-Gemeinde, dass der netteste Kerl mit Stirnband, den die Welt bis dahin gesehen hatte, vielleicht überleben würde. Doch Winnetou starb.

Die Gefahr, die Winnetou heute bedroht, ist keine einzelne Patrone, sondern ein regelrechter Kugelhagel, dem auszuweichen schier unmöglich ist. Und während der Filmtod der freundlichen Rothaut diese Figur zumindest in den Gedanken der Fans weiterleben ließ, läuft es jetzt auf die vollständige Auslöschung des Häuptlings hinaus.

Wo liegt der Fehler?

Der Ravensburger Verlag steht unter Druck. Er habe mit den Winnetou-Titeln "die Gefühle anderer verletzt", so die selbstkritische Anmerkung des Verlages, der eigentlich Kinderbücher mit dem Titel "Der junge Winnetou" veröffentlichen wollte. Die Bücher werden nun nicht mehr in den Regalen von Buchhandlungen zu finden sein.

Die Bücher, so der Tenor eines neuzeitlichen "Shitstorms", würden "rassistische Stereotype" bedienen, was natürlich überhaupt nicht tolerierbar sei. Dieser Sturm brauchte nicht lange, um seine Wirkung zu entfalten, der Ravensburger Verlag zog unverzüglich den Schwanz ein, die "woken" Aufpasser konnten mal wieder einen Erfolg vermelden. Es wäre doch gelacht, wenn man nicht nach und nach sämtliche Literatur aus der Wirklichkeit verbannen könnte, die nicht in das erwachte Weltbild auserwählter Moralwächter passt.

Was dabei – abgesehen vom moralischen Größenwahn der Shitstormer – auffällt, ist die faszinierend schnelle Reaktion mit begleitender Kritik auf die Bücher. Und damit sind wir an einem interessanten Punkt. Denn ich behaupte, dass nur ein Bruchteil der Leute, die sich mit vollem Herzen ereiferten, die Kinderbücher auch tatsächlich gelesen haben. Habe ich übrigens auch nicht, aber sei’s drum, ich fordere ja auch nicht, sie in die Ewigen Jagdgründe zu verbannen.

So gesehen wäre es in dieser ganzen unsäglichen Debatte eigentlich wichtig, von belesenen Experten zu erfahren, was genau diese Literatur "verletzt" habe oder welche "rassistischen Stereotype" sie bediene. Bis mir diese Informationen vorliegen, muss ich davon ausgehen, dass die Basis des Shitstorms nicht mehr und nicht weniger als das Kreischen eines woken Mobs ist, der bei genauerer Betrachtung überhaupt keine Ahnung davon hat, was ihm nicht passt.

Märchenerzähler versus Märchenerzähler

Winnetou ist ein Märchen, eine fiktive Geschichte. Die Figur hat Karl May erfunden, der auch selbst angeblich nie im Wilden Westen gewesen sein soll. Gut möglich, dass das stimmt, aber wir können davon ausgehen, dass Stephen King auch nicht persönlich den "Friedhof der Kuscheltiere" besucht hat. Von den Marvel-Comics wollen wir gar nicht erst anfangen.

Karl May hat mit Winnetou ein Märchen erzählt, das meine Kindheit begleitet hat. Winnetou hat mich durchaus geprägt, ebenso wie seine weißen Blutsbrüder, die heute nach dem Geritze am Unterarm erst einmal einen HIV-Test machen müssten (Lauterbach würde sicherlich einen zusätzlichen PCR-Test empfehlen). Es mag an meiner defizitären Persönlichkeit liegen, aber ich habe nach den Büchern und Filmen über Winnetou keine Abneigung gegen Indianer entwickelt (oder wie auch immer diese Indigenen heute politisch korrekt und freigesprochen von moralischen Angriffen genannt werden dürfen). Im Gegenteil, Winnetous Friedfertigkeit und die Bereitschaft, sogar mit diesem widerwärtigen Ölprinzen und anderen weißen Figuren zu reden, die sowieso nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind, hat mich schwer beeindruckt. Man könnte sagen: Winnetou hat aus mir einen friedlicheren Menschen gemacht.

Aber ich habe die Rechnung ohne die Märchenerzähler von heute gemacht. Sie sind weder friedfertig noch gesprächsbereit, sie sind aggressiv, wollen zerstören, Historisches geraderücken, und zwar nur in ihrem Sinne, und sie sind verletzt, immerzu sind sie verletzt. Vielleicht sind es diese tief verwurzelten Verletzungen, die die heutigen Märchenerzähler dazu ermuntern, andere zu verletzen, wo immer es möglich ist. Therapeutisch ist das eigentlich keine gute Idee, denn mit der Verletzung anderer, mit der moralischen Panzerfaust, erreichen sie zwar das Ausradieren bestimmter Begriffe oder eben von Märchenfiguren. Glücklich macht sie das aber nicht, vielmehr werden sie immer durchtriebener und verhärmter.

Was dabei herauskommt, hat schon Karl May an anderer Stelle treffend auf den Punkt gebracht:

"Wir dürfen nie vergessen, dass wir nicht auf der Erde, sondern in der Hölle leben, und an der Aufgabe zu arbeiten haben, aus den Teufeln Menschen zu machen!"

Hätte er gewusst, mit was für Monstern wir es inzwischen zu tun haben, hätte May womöglich den Versuch, aus Teufeln Menschen zu machen, noch einmal in aller Ruhe durchdacht oder die Unmöglichkeit seines Anliegens eingesehen.

An den Marterpfahl mit ihm!

Die deutsche Empörungsgemeinde braucht nicht lange, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Innerhalb weniger Tage entbrannte eine Debatte, die so unsäglich ist, dass ich am liebsten sämtliche Schaufenster in meiner Stadt mit Winnetou-Zitaten zukleistern würde. Es geht schon längst nicht mehr um die Kinderbücher, sondern um etwas Grundsätzliches, auch wenn die meisten Bedenkenträger sicher gar nicht wissen, was genau das sein könnte. Aber "rassistische Stereotype", das klingt schon heftig, damit will man lieber nichts zu tun haben.

Das ZDF beispielsweise hat ein Facebook-Posting abgesetzt, in dem es darum bat, das "I-Wort" möglichst nicht mehr zu verwenden, um keine Rassisten anzulocken. Klar, dass auch Leute, die sich als Kind gern mal auf Geburtstagen als Indianer verkleidet haben, höchst verdächtig sind, sicher waren sie schon damals ganz üble Gestalten, die die Zeichen der Zeit und der Toleranz und des intellektuellen Wahnsinns nicht erkennen wollten.

Die ARD macht Nägeln mit Köpfen und hat entschieden, künftig keine Winnetou-Filme mehr zu zeigen.

Der Bayerische Rundfunk sowie das ZDF denken darüber nach, solche "Filmklassiker" auch weiterhin zu senden, aber zuvor genauestens zu prüfen, ob es auch in den jeweiligen Kontext passe.

Ich frage mich, wie ein solcher passender Kontext aussehen müsste. Winnetou-Filme nur, wenn zuvor eine ARTE-Doku über die Verbrechen an den amerikanischen Ureinwohnern gezeigt wurde? Und ist "amerikanische Ureinwohner" eigentlich korrekt? Indigene Bevölkerung? Vielleicht. Rothäute wohl eher nicht, aber man weiß so wenig.

Adolf Hitler und Karl May

Das aber wohl größte Fass, das derzeit zu finden ist, macht ein Hamburger Kolonialismus-Forscher in der Berliner Zeitung auf. Jürgen Zimmerer meint:

"Es ist kein Zufall, dass Adolf Hitler und SS-Chef Himmler große Karl-May-Fans waren."

Und die Sachsen – das geht heute immer – kriegen auch gleich noch ihr Fett von Zimmerer weg: Karl May übertrage

"seine sächsischen Erfahrungen auf Nordamerika".

Doch damit nicht genug. Zimmerer erkennt noch viel mehr in der Literatur von Karl May und offenbar auch in den neuen Kinderbüchern, um die es ja irgendwie irgendwann mal ging. Er erkennt nämlich auch eine gefährliche Frauenfeindlichkeit und sieht im Umfeld von May Leute am Werk, die "die gute alte Gesellschaft" verteidigen wollen und der Meinung sind, dass früher ohnehin alles besser und die Ehe noch eine "richtige Ehe" gewesen wäre.

Womit er elegant noch die Frauenrechte und die ganze bunter LGBT-Gemeinde in sein Boot geholt hat. Nun könnte man einwerfen, dass "die gute alte Gesellschaft" doch auch eines der Lieblingskonstrukte von Konservativen ist. Und man könnte naiv fragen, was denn so schlimm daran ist, an bestimmten Dingen festzuhalten, wenn man sie liebgewonnen hat. Konservative Politiker müssten darüber stundenlange Vorträge halten können.

Jedenfalls sollte jetzt auch dem letzten Zweifler klargeworden sein, dass Karl May der Hofschreiberling von Hitler und Himmler gewesen sein muss. Und spätestens an diesem Punkt ist es dann wenigstens auch mit Toleranz und gegenseitigem Verständnis vorbei. Davon gibt es ja sowieso insgesamt viel zu viel, also weg damit!

Was sagt eigentlich "Alter Elch" dazu?

Vergessen wir einmal für einen Moment die vielen verletzten weißen Seelen, die es nicht ertragen können, dass Winnetou-Kinderbücher herausgebracht werden und lesen, was Kendall Old Elk (Alter Elch) dazu sagt:

"Ich glaube, das ist eine Überreaktion. Dass der Verlag die Bücher vom Markt genommen hat – warum? Das ist etwas zu viel des Guten. Warum müssen wir jede Person mit einem Etikett versehen? Wir sind doch alles Menschen."

Ein anderer Indianer, Robert Alan Packard vom Stamm der Sioux, meint:

"Ich bin auf Winnetous Seite. Ich unterstütze seine Geschichten und bin verärgert, dass man versucht, ihn auszuradieren."

Packard fühle sich auch nicht diskriminiert und kann an Winnetou nichts Rassistisches erkennen.

Schweig stille, roter Mann! Was Winnetou ist oder nicht ist, ob Karl May ein Rassist oder gleich ein Nazi war, das entscheiden andere! Also: Setzen, sechs!

Und die Moral von der Geschicht'

Gerade wird die Welt neu geordnet. Deutschland führt einen Wirtschaftskrieg gegen Russland, unsere Außenministerin will das Land am liebsten ruinieren. Wir ächzen noch immer unter den unzähligen Einschränkungen und Verletzungen der Corona-Politik. Die Menschheit ist gefährdet, so real gefährdet wie schon lange nicht mehr, vielleicht so gefährdet wie noch nie zuvor. Das Klima fliegt uns um die Ohren, Korruption, Machtmissbrauch und die extreme Zunahme von Armut haben sich zu festen Bestandteilen unserer Gesellschaft entwickelt.

Doch als wäre all das so etwas wie der Streit um Eimerchen und Schäufelchen im Sandkasten, beschäftigen wir uns mit der Frage, was für ein übler Geselle Karl May gewesen sein soll. Die Verhältnismäßigkeit geht hier völlig verloren und gibt Raum für aggressive Erziehung unliebsamer Menschen und ihrer Meinungen, einer Erziehung, die keine Gnade kennt und gegen die Karl Mays "Ölprinz" wie ein lustiger Pfadfinder wirkt.

Insofern würde ich normalerweise dazu neigen, diese ganze Geschichte nicht ernst zu nehmen und sie unter der Rubrik "Woke Clownerie" einzuordnen. Aber das geht nicht, denn das Ganze ist doch ernster als es auf den ersten Blick scheint.

Denn hier soll nicht nur eine Kunstfigur neu be- und abgewertet werden. Es geht um seine Auslöschung, also um das Neuschreiben, das Umschreiben von tatsächlicher Geschichte. Es ist die Verneinung historischer Fakten, mit der hier hantiert wird. Und wir erleben sie an allen möglichen Stellen und immer wieder neu. Geneigte Leser mögen einwenden, dass nichts so heiß gegessen wird wie es gekocht wird. Ich solle womöglich mal einen Gang zurückschalten und mich nicht so anstellen.

Doch dagegen wende ich den Versuch der anderen neuen Geschichtsschreibung – im Zusammenhang mit der Befreiung der Deutschen von den Nationalsozialisten durch die Russen ein. Es war schon vor längerer Zeit unser vormaliger Außenminister Heiko Maas (SPD), der diese Befreiung kurzerhand den USA zuschreiben wollte. Seit dem 24. Februar 2022 gab es noch weit mehr solcher Versuche – alle mit dem Ziel, die Rolle der Sowjets im Kampf gegen die Nazibarbarei abzuschwächen. Der billigste und wohl unverschämteste Vorstoß stammt vom damaligen ukrainischen Botschafter Andrei Melnyk, der beim Einsteigen in ein Auto auf die zugerufene Frage eines Journalisten, wer denn die Deutschen von den Nazis befreit hätte, prompt antwortete: die Ukraine.

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