Michail Gorbatschow – Nachruf auf eine idealistische Selbsttäuschung, Täuschung, Enttäuschung
Von Fjodor Lukjanow
Michail Gorbatschow ist tot. Der letzte sowjetische Generalsekretär starb, als von seinem politischen Vermächtnis, dessen Hauptinhalt er in der Beendigung des Kalten Krieges sah, nichts mehr übrig war. Nicht einmal eine Erinnerung in gutem Geiste und Worte. Denn beleidigt und verbittert – zuweilen bis hin zur völligen Bestialität – waren am Ende alle. Sogar diejenigen, die ihm für den Rest ihres Lebens dankbar sein sollten.
Gorbatschow ist eine geeignete Figur, auf die man wörtlich alles schieben kann. Sowohl das, was vor ihm war, als auch das, was nach ihm wurde. Vor allem jetzt, wo ein bluttrunkener Rausch im Gange ist, dessen unmittelbare Wurzeln in genau diese Zeit zurückreichen – den Zusammenbruch der UdSSR als ein vereinigtes Land und systembildenden Teil der Welt. Die Geschichte kümmert sich nicht darum, was ein Staatsmann wollte oder was er anstrebte. Sie beurteilt ihn nach dem praktischen Ergebnis seines Wirkens.
Wer sich an die Atmosphäre vor dem Amtsantritt Gorbatschows erinnert, weiß, wie sehr zu diesem Zeitpunkt das Vorhandene anzuwidern vermochte und wie sehr etwas Anderes ersehnt wurde. Vielleicht galt das nicht für alle, aber doch für sehr, sehr viele. Gorbatschow ist also nicht aus außerirdischen Sphären und dem Reagenzglas der CIA hervorgegangen, sondern aus der Gesamtheit der Gedanken einer müden Gesellschaft. Und sein Versuch, diese Gesellschaft anzusprechen, fand großen Anklang, sodass Gorbatschow in der ersten Phase seiner Reformen enorme Beliebtheit erlangte.
Die Fehler der Perestroika, die von den Mitstreitern verschärft und von den Gegnern ausgenutzt wurden (oder vielleicht auch umgekehrt, von den Mitstreitern ausgenutzt und von den Gegnern verschärft), führten zum krachenden Fiasko des politischen Kurses von Gorbatschow. Aber gerade dieser Appell an die Gesellschaft, der eine Zeit lang aufmunternd wirkte und geistigen Anstoß zur Veränderung gab, blieb unwiederholbar – und wurde auch nicht wiederholt. Diejenigen, die an seine Stelle traten, wandelten diesen Impuls eifrig in Macht und Besitz für sich selbst um und kamen recht schnell zu dem Schluss, dass ebendiese Gesellschaft besser im persönlichen manuellen Modus verwaltet werden sollte, bevor noch etwas Übles passiert.
Das Pendel der russischen Geschichte schwingt gleichmäßig von einem Extrem zum anderen. Die lichterfüllten, naiv überzogenen, oft bis zur völligen Ignoranz idealistischen, aber aufrichtigen Träume der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre schlugen alle in die grimmige Misanthropie des heutigen sozialen und politischen Hyperrealismus um, der aus der Erfahrung des von Verrat enttäuschten Vertrauens klug geworden ist und diesen Verrat jetzt zurückzahlen will. In vollem Umfang, mit Zins und Zinseszins.
Damals atmete es sich zweifellos leichter. Allerdings ist auch das, was wir heute haben, ebenso ein entfernter Hauch der Luft, die damals geatmet wurde.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs, Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsclubs Waldai.
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