Meinung

Ohne Fleiß kein Preis: Putins Comeback am Schwarzen Meer

Nach dem mutmaßlich vom Westen orchestrierten Angriff auf den russischen Militärhafen in Sewastopol auf der Krim wurde von russischer Seite das sogenannte Getreideabkommen ausgesetzt. Aber Moskau ist mit gestärkter Hand und besseren Bedingungen wieder im Geschäft.
Ohne Fleiß kein Preis: Putins Comeback am Schwarzen MeerQuelle: AFP © Ozan Kose

Ein Kommentar von Pepe Escobar

Also, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan greift zum Telefon und ruft seinen russischen Amtskollegen Wladimir Putin an: "Reden wir über das Getreideabkommen." Putin, wie immer gelassen, ruhig und gefasst, erklärt dem Sultan vom Bosporus die Fakten:

Erstens, der Grund, warum Russland aus dem Getreideabkommen ausgestiegen ist. Zweitens, wie Moskau eine ernsthafte Untersuchung des Angriffs auf die Schwarzmeerflotte anstrebt, mit dem praktisch gegen das Abkommen verstoßen wurde. Und drittens, wie Kiew garantieren muss, dass es das von der Türkei und der UNO vermittelte Abkommen einhält. Erst dann würde Russland erwägen, erneut auf das Getreideabkommen zurückzukommen.

Und dann – am 2. November – der Paukenschlag: Das russische Verteidigungsministerium verkündet, dass Russland zum Getreideabkommen zurückkehrt, nachdem es die notwendigen schriftlichen Garantien von Kiew erhalten hat. Das Verteidigungsministerium lobte ganz diplomatisch die Bemühungen sowohl der Türkei als auch der UN: Kiew habe sich verpflichtet, den "maritimen humanitären Korridor" nicht für Kampfhandlungen zu nutzen, ausschließlich in Übereinstimmung mit den Bestimmungen des Getreideabkommens.

Moskau verkündete, die Garantien aus Kiew seien "vorerst" ausreichend. Was bedeutet, dass sich alles auch wieder ändern kann.

Alle lassen sich vom Sultan überzeugen

Erdoğan muss gegenüber Kiew äußerst überzeugend gewesen sein. Vor dem Telefonat mit Putin hatte das russische Verteidigungsministerium bereits erklärt, dass der Angriff auf die Schwarzmeerflotte von neun Luftdrohnen und sieben maritimen Drohnen durchgeführt wurde, im Zusammenspiel mit einer amerikanischen Aufklärungsdrohne vom Typ RQ-4B Global Hawk, die während der ganzen Zeit des Angriffs über neutralen Gewässern in der Luft rumlungerte. Der Angriff geschah unter Zuhilfenahme von zivilen Schiffen als Deckung und zielte auf russische Kriegsschiffe ab, die den sogenannten "Getreidekorridor" in ihrem operativen Verantwortungsbereich überwachen sowie die Infrastruktur der russischen Basis in Sewastopol schützen.

Das russische Verteidigungsministerium benannte ausdrücklich britische "Fachleute", die in der Marinebasis von Otschakow in der Region Nikolajew stationiert sind, als Planer dieser Militäroperation. Im UN-Sicherheitsrat äußerte sich der Ständige Vertreter Wassili Nebensja "überrascht" darüber, dass die Führung der UN "es nicht nur versäumt hat, die Terroranschläge zu verurteilen, sondern auch ihre Besorgnis darüber zum Ausdruck zu bringen". Nach der Feststellung, dass die von Großbritannien organisierte und von Kiew durchgeführte Operation gegen die Schwarzmeerflotte "der humanitären Dimension der Abkommen von Istanbul ein Ende gesetzt hat", stellte Nebensja fest:

"Nach unserem Verständnis darf das Getreideabkommen, auf das sich Russland, die Türkei und die Ukraine am 22. Juli unter Aufsicht der UN geeinigt haben, nicht ohne Russland umgesetzt werden, und daher betrachten wir Entscheidungen, die ohne unsere Beteiligung getroffen wurden, als nicht bindend."

Das bedeutet in der Praxis, dass Moskau "keine ungehinderte Durchfahrt von Schiffen ohne eigene Inspektion zulassen kann". Die entscheidende Frage ist, wie und wo diese Inspektionen durchgeführt werden – denn Russland hat die UNO gewarnt, dass es auf jeden Fall Frachtschiffe im Schwarzen Meer inspizieren wird. Die UNO ihrerseits versuchte bestenfalls, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, da sie glaubte, dass Russlands Suspendierung "vorübergehend" sei, und freute sich darauf, "das hochprofessionelle russische Team" wieder im gemeinsamen Koordinierungszentrum willkommen zu heißen.

Laut dem Leiter für humanitäre Hilfe Martin Griffiths erklärt auch die UNO, "bereit zu sein, Bedenken anzusprechen". Aber das muss bald geschehen, denn das Getreideabkommen erreicht am 19. November nach 120 Tagen sein Ablaufdatum. Nun, "Bedenken ansprechen" ist nicht genau der Fall, der eingetreten ist. Der stellvertretende russische UN-Botschafter Dmitri Poljanski sagte, dass westliche Nationen bei der Sitzung des UN-Sicherheitsrates ihre Beteiligung an dem Angriff auf Sewastopol einfach nicht leugnen konnten; stattdessen beschuldigten sie einfach Russland.

Der Weg nach Odessa

Putin hatte bereits vor dem Telefonat mit Erdoğan darauf hingewiesen, dass "34 Prozent des im Rahmen des Abkommens exportierten Getreides in die Türkei gehen, 35 Prozent in EU-Länder und nur drei bis vier Prozent in die ärmsten Länder dieser Welt. Ist es das, wofür wir dieses Abkommen erzielt haben?"

Putin hat recht. So gingen beispielsweise 1,8 Millionen Tonnen Getreide nach Spanien, 1,3 Millionen Tonnen in die Türkei und 0,86 Millionen Tonnen nach Italien. Im Gegensatz dazu gingen nur 0,067 Tonnen an den hungernden Jemen und 0,04 Tonnen an das hungernde Afghanistan.

Putin machte auch unmissverständlich klar, dass Moskau sich nicht aus dem Getreideabkommen zurückziehe, sondern seine Teilnahme daran nur ausgesetzt habe. Und als weitere Geste des guten Willens kündigte Moskau an, 500.000 Tonnen Getreide kostenlos an ärmere Länder zu liefern, um jene Menge an Getreide zu ersetzen, die die Ukraine hätte exportieren können.

Während dieser ganzen Zeit manövrierte Erdoğan geschickt, um den Eindruck zu erwecken, er befinde sich auf einer höheren Ebene: Auch wenn Russland sich "unentschlossen" verhält, wie er es definierte, würde das Getreideabkommen weiter in Kraft bleiben.

Es scheint also, als sei Moskau auf die Probe gestellt worden – von der UNO und von Ankara, das zufällig der Hauptnutznießer des Getreideabkommens ist und eindeutig von diesem Transportkorridor im Schwarzen Meer profitiert. Frachtschiffe stechen weiterhin von Odessa aus in See Richtung türkische Häfen – hauptsächlich Istanbul – ohne Moskaus Zustimmung. Und es wird erwartet, dass sie bei ihrer Rückkehr nach Odessa von der russischen Marine "gefilzt" werden. Das unmittelbare russische Druckmittel war im Handumdrehen entfesselt: verhindern, dass Odessa zu einem terroristischen Knotenpunkt für terroristische Infrastruktur wird. Dies bedeutet ständige Besuche von Marschflugkörpern. Nun, die Russen haben bereits die von Kiew und den britischen "Fachleuten" betriebene Marinebasis in Otschakow "besucht". Otschakow, dass zwischen Nikolajew und Odessa liegt, wurde bereits 2017 unter Aufsicht amerikanischer "Fachleute" errichtet und ausgebaut.

Die britischen Einheiten, die mutmaßlich an der Sabotage der Nord-Stream-Pipelines beteiligt waren – so die Anschuldigung aus Moskau –, sind dieselben, die die Operation in Sewastopol geplant haben. Otschakow wird ständig ausspioniert und manchmal von Positionen aus beschossen, die die Russen vergangenen Monat nur acht Kilometer südlich, am äußersten Ende der Kinburn-Halbinsel, geräumt haben. Und dennoch ist die Basis nicht vollständig zerstört worden.

Um die "Botschaft" noch zusätzlich zu unterstreichen: Die wirkliche Reaktion auf den Angriff auf Sewastopol waren diese Woche die unerbittlichen "Besuche" durch Marschflugkörper bei der ukrainischen elektrischen Infrastruktur. Wenn diese "Besuche" aufrechterhalten werden, wird praktisch die gesamte Ukraine bald in Dunkelheit getaucht sein.

Die Sperrung des Schwarzen Meeres

Der Angriff auf Sewastopol könnte jener Katalysator gewesen sein, der die Russen veranlassen könnte, das Schwarze Meer zu sperren – mit der gleichzeitigen Designation von Odessa als eine absolute Priorität für die russische Armee. In ganz Russland gibt es ernsthafte Diskussionen darüber, warum das russischsprachige Odessa nicht bereits zuvor Gegenstand gezielter Angriffe war.

Modernste Infrastruktur für ukrainische Spezialeinheiten und britische "Fachleute" sind in Odessa und Nikolajew stationiert. Aber jetzt steht außer Frage, dass diese Einrichtungen zerstört werden.

Selbst wenn das Getreideabkommen theoretisch wieder auf Kurs ist, ist es hoffnungslos zu erwarten, dass Kiew sich an irgendwelche Vereinbarungen hält. Schließlich wird jede wichtige Entscheidung entweder in Washington oder von den Briten in der NATO getroffen. Genau wie die Bombardierung der Brücke von Kertsch und der Nord-Stream-Pipelines war der Angriff auf die Schwarzmeerflotte als ernsthafte Provokation konzipiert. Die brillanten Planer dieser Operationen scheinen jedoch Intelligenzquotienten zu haben, die niedriger liegen als die Temperatur in Kühlschränken: Jede russische Antwort stürzt die Ukraine immer tiefer in ein unausweichliches – und jetzt buchstäblich – schwarzes Loch.

Das Getreideabkommen schien eine Art Win-win-Situation zu sein. Kiew würde die Häfen am Schwarzen Meer nach der Beseitigung der Seeminen nicht erneut mit solchen kontaminieren. Die Türkei würde zu einem Knotenpunkt für den weltweiten Getreidehandel für die ärmsten Nationen dieser Welt –  obwohl das eigentlich nicht passiert ist, Hauptnutznießer war die EU. Und die Sanktionen gegen Russland würden beim Export von Agrarprodukten und Düngemitteln gelockert. Dies wäre im Prinzip ein Schub für die russische Exportwirtschaft gewesen. Am Ende hat es aber nicht geklappt, weil viele Spieler in diesem Spiel Angst vor möglichen Sekundärsanktionen hatten.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass es sich beim Getreideabkommen eigentlich um zwei Abkommen handelt: Kiew unterzeichnete ein Abkommen mit der Türkei und der UNO, während Russland ein separates Abkommen mit der Türkei unterzeichnete. Der Korridor für die Frachtschiffe ist nur zwei Kilometer breit. Minensuchboote begleiten sie parallel entlang des Korridors. Die Frachtschiffe werden von Ankara inspiziert. Der Deal zwischen Kiew, Ankara und den Vereinten Nationen bleibt also bestehen. Das hat alles nichts mit Russland zu tun, das die Schiffsladungen bisher nicht eskortiert und/oder inspiziert hat.

Was sich ändert, nachdem Russland sein Abkommen mit Ankara und den Vereinten Nationen "ausgesetzt" hat, ist, dass Moskau von nun an so vorgehen kann, wie es es für angemessen hält, um terroristische Bedrohungen zu neutralisieren und sogar in ukrainische Häfen einzudringen und sie zu übernehmen. Das wird keine Verletzung des Abkommens mit Ankara und der UNO darstellen.

In dieser Hinsicht ist es also eine Spielwende, während neue Karten im Spiel sind.

Es scheint so, als hätte Erdoğan verstanden, was auf dem Spiel steht, und Kiew unmissverständlich aufgefordert, sich zu benehmen. Es gibt jedoch keine Garantie dafür, dass die westlichen Mächte nicht mit einer weiteren Provokation im Schwarzen Meer aufwarten werden. Was bedeutet, dass "General Weltuntergang" früher oder später – vielleicht bis zum Frühjahr 2023 – mit seinen eigenen Spielkarten aufwarten und den ganzen Weg nach Odessa vorrücken muss.

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Aus dem Englischen erschienen bei thecradle.com.

Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Er wurde von Facebook und Twitter aus politischen Gründen verbannt aber man kann ihm auf Telegram folgen.

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

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