Türkei am Scheideweg: Terroranschlag in Istanbul und NATO-Norderweiterung
von Seyed Alireza Mousavi
Der Anschlag auf der Istanbuler İstiklal-Allee mit sechs Toten und 83 Verletzten am Sonntagnachmittag weckte Erinnerungen an die Terrorserie in den Jahren 2015 und 2016. Zuletzt war die Türkei in diesen Jahren Zielscheibe einer blutigen Anschlagsserie gewesen, für die überwiegend der sogenannte Islamische Staat (IS) und kurdische Aktivisten verantwortlich gemacht wurden. Die türkische Polizei hat mittlerweile eine Tatverdächtige gefasst. Wie die Polizei am Montag mitteilte, erhielt die syrischstämmige Ahlam Albashir die Anweisungen zum Terroranschlag nach eigenen Angaben aus dem Zentrum der Terrororganisation PKK/YPG/PYD im syrischen Ain al-Arab.
Die Türkei wirft den USA vor, die YPG, den syrischen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK, zu unterstützen. Genau diese Gruppe wurde auch nun für den Terroranschlag verantwortlich gemacht. Die Türkei hat ihre Zustimmung zu einem NATO-Beitritt Finnlands und Schwedens bereits an Bedingungen geknüpft. Ankara will der geplanten NATO-Norderweiterung nur dann zustimmen, wenn Finnland und Schweden noch deutlicher als bislang auf Abstand zur YPG gehen. In dem Memorandum, auf dessen Grundlage die drei Staaten verhandeln, wird die PKK als Terrororganisation bezeichnet, nicht aber die YPG, die Organisation der syrischen Kurden. Darauf hat die Türkei jedoch gedrängt.
Zwischen den USA und der Türkei sorgt das Thema immer wieder für Zündstoff, da YPG-Milizen als US-Verbündete mehrere Gebiete in Nordsyrien illegal besetzt haben. Die Plünderung der syrischen Ölreserven durch die USA wurde im Juli 2020 bekannt. Die kurdische Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens hatte bereits im August 2020 ein Ölabkommen mit den USA geschlossen, und seither werden die syrischen Ölvorkommen durch die USA und die kurdischen Milizen in Nordsyrien geplündert.
Der türkische Innenminister Süleyman Soylu kritisierte deswegen kurz nach dem Anschlag in Istanbul die Haltung der US-Regierung mit Blick auf die kurdischen Gruppen. Er bemängelte die "Unaufrichtigkeit ... unserer sogenannten Verbündeten". "Der Befehl für den Anschlag ist aus der nordsyrischen Stadt Kobanê gekommen", sagte er. Beileidsbekundungen aus den USA verglich Soylu in einer scharfen Formulierung mit einem "Mörder, der als einer der Ersten am Tatort eintrifft". Dabei ist zudem anzumerken, dass der türkische Innenminister auch das benachbarte Griechenland kritisiert: "Hätten wir die Terroristen nicht geschnappt, hätten sie sich nach Griechenland abgesetzt."
Vor diesem Hintergrund betrachtet die Türkei den jüngsten Anschlag nicht nur als weiteren Racheschlag aus den Reihen kurdischer Milizen, sondern als einen Hebel, der in der geopolitischen Gemengelage gegen die Türkei zur Destabilisierung des Landes eingesetzt wird. Durch den Ukraine-Krieg ist es dem Westen gelungen, jegliche Annäherung zwischen Europa und Russland in absehbarer Zukunft zu kippen. Der Westen zielt auch darauf ab, die Beziehungen zwischen Russland und der Türkei zu sabotieren. Washington spielt nun sehr kalkuliert mit der Griechenland-Karte, um die Türkei zur Änderung ihres Kurses gegenüber Russland zu bewegen.
Parallel zu dem Anschlag in der Türkei griff Iran am Montag Ziele im Nordirak an. Teheran zielte mit diesen Luftschlägen auf kurdische Gruppen, die im Nordirak aktiv sind, und beschuldigte sie, die jüngsten Unruhen in Iran angezettelt zu haben. Der Tod einer 22-jährigen Iranerin namens Mahsa Amini löste in Iran Mitte September eine Welle an Protesten aus, die in kurzer Zeit in Unruhen und Mob-Gewalt aufgrund der orchestrierten Kampagne des Westens bezüglich des Vorfalls umschlugen. Westliche Medien haben in den letzten Wochen versucht, aufgrund der kurdischen Herkunft der Verstorbenen "Mahsa" separatistische Aktivisten in ihrer Berichterstattung aufzuwerten.
Die Explosion in einer belebten Fußgängerzone in Istanbul ist ein Warnsignal für die Türkei. Der Anschlag zielt letztlich auf den türkischen Tourismussektor ab und sollte als Ankündigung verstanden werden, drastischen ökonomischen Schaden zuzufügen.
Der jüngste Terroranschlag könnte nicht nur Folgen für das Verhältnis zwischen Ankara und Washington haben, sondern auch für die Beziehungen zu den NATO-Beitrittskandidaten Schweden und Finnland. Es ist nun höchste Zeit für die Türkei, ihre Schaukelpolitik zwischen Ost und West zu überdenken. Auf die Türkei warten allerdings turbulente Zeiten, sollte das Land ins Eurasien-Lager wechseln.
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