Meinung

Anti-Lockdown-Demonstranten: Im Westen böse, in China gut

Westliche Politiker und Medien sind voll des Lobes für die "freiheitsliebenden" Chinesen, nachdem man in den eigenen Ländern diejenigen dämonisiert hat, die sich gegen ihre eigenen erzwungenen Lockdowns zur Wehr gesetzt hatten.
Anti-Lockdown-Demonstranten: Im Westen böse, in China gut© Felicitas Rabe

Von Rachel Marsden

Es sei wichtig, dass Bürger sich Gehör verschaffen können, dass sie gegen ein bestimmtes Thema protestieren dürfen, das so viele bewegt. Und man stehe natürlich hinter diesen Demonstranten, sagte der kanadische Premierminister Justin Trudeau vergangene Woche als Reaktion auf die anhaltenden Proteste in China gegen die Null-COVID-Politik der Regierung.

Aber wo war die Unterstützung von Trudeau, als diejenigen von uns, die im März 2020 in Frankreich lebten, für über zwei Monate unter Androhung hoher Geldstrafen in die eigenen vier Wände befohlen wurden und diese nur mit einer Bescheinigung verlassen durften?

Entweder man übte eine berufliche Tätigkeit aus, die nicht aus der Ferne erledigt werden konnte, war auf dem Weg in ein Lebensmittelgeschäft, wo sich draußen schier endlose Warteschlangen bildeten, um die soziale Distanzierung im Inneren zu gewährleisten, oder man musste zum Arzt oder sich um eine dringende Familienangelegenheit kümmern. Man durfte sich einmal pro Tag für eine Stunde draußen bewegen, musste innerhalb eines Radius von einem Kilometer vom eigenen Zuhause bleiben.

Trudeau und seine westlichen Kollegen haben in unterschiedlichem Maße ihre eigenen Null-COVID-Maßnahmen verabschiedet. Keiner von ihnen verurteilte den anderen als autoritär, weil sie Menschen effektiv unter Hausarrest gestellt und ihnen die Freiheit genommen haben, sich zu bewegen, zu versammeln, zu protestieren, zu arbeiten und Entscheidungen über ihre eigene Gesundheit und Wohlergehen zu treffen, ohne den Staat mit einzubeziehen.

Trudeau selbst ging so weit, ein Notstandsgesetz in Kraft zu setzen, das sich gegen Anti-Lockdown-Demonstranten des "Freedom Convoy" und ihre Unterstützer richtete, die eine Gleichbehandlung und Zugang zu Arbeit und Reise- und Bewegungsfreiheit sowohl für Geimpfte als auch für Ungeimpfte forderten. Sie wurden in der Folge wie Terroristen behandelt, und die Sperrung ihrer Bankkonten wurde angeordnet. Aber jetzt, da die Demonstrationen, die sich gegen Lockdowns und Null-COVID-Politik richten, in China stattfinden, sympathisiert das westliche Establishment mit ihnen auf eine Weise, die sie ihren eigenen Bürgern niemals zuteilwerden ließen.

"Im Herzen der Proteste gegen Null-COVID in China schreien junge Menschen nach Freiheit", titelte CNN vergangene Woche. Aber im März 2020, als CNN berichtete, dass Frankreich in einen Lockdown geht, bei dem "alle nicht wesentlichen Aufenthalte außerhalb der eigenen vier Wände verboten sind und eine Zuwiderhandlung mit einer Geldstrafe belegt werden kann", schlussfolgerte CNN lediglich trocken, dass "Frankreich in den Lockdown geht, nachdem Macron versprochen hat, Unternehmen, Handwerk und Handel schützen". Anfang dieses Jahres berichtete CNN dann, dass "Europas laute, regelbrechende ungeimpfte Minderheit aus der Gesellschaft fällt". Hier also galten diese lauten Menschen, die nach Freiheit von der hartnäckigen COVID-Politik ihrer Regierungen schrien, bloß als ein Haufen Asozialer.

Die britische Daily Mail berichtete kürzlich ebenfalls über Chinas "COVID-Revolution". Aber als im August 2020 schätzungsweise 10.000 Demonstranten auf die Straßen Londons strömten, um gegen Lockdowns und COVID-Vorschriften zu demonstrieren, tat die Zeitung diese Menschen als "Verschwörungstheoretiker" ab.

Sky News schrieb über den Aufstand in China, dass "viele Bürger genug davon haben, nachdem sie monatelang mit extremen Einschränkungen leben mussten". Jedoch im September 2020 qualifizierte dieselbe Nachrichtenagentur britische Demonstranten als Anti-Lockdown-Verschwörungsverrückte und Wirrköpfe.

Der Staatssender Deutsche Welle bezeichnete den Aufstand in China als einen "außergewöhnlichen Moment für China", der sich "weiter ausbreitet". Aber im vergangenen Dezember beschrieb derselbe Sender Proteste in Deutschland gegen die COVID-Vorschriften der deutschen Regierung als "illegal" und behauptete, dass sie "zunehmend militanter werden".

Anfang vergangener Woche hörte ich im französischen Fernsehen einen Kommentator sagen, dass die chinesische Regierung versucht habe, die Schuld für den Aufstand auf westliche ausländische Einmischung zu schieben, was er als völlig absurd zurückwies. Wo aber waren dieselben Experten, um kanadische Offizielle anzuprangern, als sie die Forderungen der kanadischen Demonstranten delegitimierten und darüber spekulierten, dass diese einfach nützliche Werkzeuge amerikanischer Populisten sein könnten, die sich in innere Angelegenheiten Kanadas einmischen wollen? Wenn jedoch die Regierung, die eine ausländische Einmischung vermutet, jene von China ist, wird diese Vermutung natürlich umgehend als Humbug abgetan.

Westliche Presseberichte haben sich vor allem auf die Verhaftungen und Zusammenstöße mit der chinesischen Polizei konzentriert. Wo aber war ihr Aufschrei, nachdem mindestens 24 Augen und fünf Hände von Demonstranten während Zusammenstößen mit der französischen Polizei in den vergangenen Jahren unwiederbringlich zerstört wurden?

Vergangene Woche flog der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, nach Peking, um sich mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping zu treffen. Europa versucht, Handelsbeziehungen aufzubauen, in einer wirtschaftlich fragilen und prekären Zeit für die EU und inmitten einer Energiekrise und Inflation, durch die eine Deindustrialisierung droht. Laut Politico hätten europäische Beamte gesagt, sie erwarten, dass Michel den chinesischen Staatschef wegen dessen COVID-Politik zur Rede stellt. Wo genau will er die moralische Autorität dafür hernehmen? Im vergangenen Jahr forderte derselbe Charles Michel Europa auf, dem Widerstand der Bürger gegen eine Impfpflicht entgegenzutreten.

Wenn sich also die eigenen Mitbürger der wachsenden Unterdrückung durch die eigenen Regierungen widersetzen, ist das westliche Establishment nur allzu schnell bereit, diese anzuprangern, während man gleichzeitig die Aufhebung von Grundrechten legitimiert, wie sie von selbst ernannten Demokratien verhängt wurden – und sich somit alles andere als eine Demokratie verhalten hat. Aber wenn sich das gleiche Phänomen in China entfaltet – nun, in dem Fall darf die Ausbreitung von Freiheit nicht aufgehalten werden, nicht wahr?

Aus dem Englischen.

Rachel Marsden ist eine Kolumnistin, politische Strategin und Moderatorin eines unabhängig produzierten französischsprachigen Programms, das auf Sputnik France ausgestrahlt wird. Ihre Webseite finden man unter rachelmarsden.com.

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