Meinung

Warum Deutschland zu den USA hält

Kritiker werfen der Bundesregierung vor, dass ihre Russland- und Chinapolitik deutschen Interessen zuwiderlaufe. Indem sie eine Distanzierung zu den USA verlangen, verdrängen sie jedoch die Bedeutung der "Pax Americana" für das hohe Wohlstandniveau Deutschlands.
Warum Deutschland zu den USA hältQuelle: Gettyimages.ru © Janine Schmitz / Kontributor

Von Bernd Murawski

Der freiwillige Verzicht auf russische Energieträger bereitet den Deutschen große Probleme. Privathaushalte klagen über hohe Strom- und Gasrechnungen, Unternehmen sehen ihre Rentabilität untergraben. Hauptnutznießer der Sanktionspolitik im Westen sind zweifelsohne die USA. Zum einen können sie teures und umweltschädliches Fracking-Gas in Europa verkaufen. Zum anderen verschaffen ihnen billigere Rohstoffe Standortvorteile, mit denen sie europäische Investoren abwerben.

Vor diesem Hintergrund erscheint unverständlich, dass sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) nicht aktiv für eine baldige Verhandlungslösung im Ukraine-Konflikt einsetzen. Stattdessen intensivieren sie ihr Russland-Bashing und reißen damit die letzten Brücken einer möglichen Verständigung ein. Anders sind die Etikettierung Russlands als staatlicher Terrorismus-Unterstützer durch das Europäische Parlament und die Anerkennung des "Holodomor" als angeblicher Völkermord an ukrainischen Bürgern durch den Deutschen Bundestag nicht zu erklären.

Zur gleichen Zeit sprechen sich deutsche Minister für eine härtere Gangart gegenüber China aus. Rückendeckung erhalten sie sowohl von jenseits des Atlantiks als auch durch das Gros der Medien. Trotz vorsichtiger Äußerungen von Bundeskanzler Olaf Scholz und Gegenwind aus Kreisen der deutschen Wirtschaft wird erwartet, dass die derzeit in Bearbeitung befindliche neue China-Strategie der Bundesregierung den Vorgaben aus Washington, D.C. zu großen Teilen folgt.

US-Dominanz und westliche Werte

Für die US-hörige Politik der Bundesregierung gibt es aus Sicht der meisten Kritiker eine einfache Erklärung: Die politische Führungsspitze Deutschlands wurde infiltriert und steht unter massivem Druck. Als Instrumente dienen die Schulung politischer Führungskader und die Einflussnahme auf deutsche Medien durch transatlantische Thinktanks, ferner geheimdienstliche Tätigkeit und wirtschaftliche Erpressung. Vor diesem Hintergrund gelangt Oskar Lafontaine zu der Überzeugung, dass sich deutsche Interessen nur mit Distanz zu den USA durchsetzen lassen. Er fordert eine eigenständige Außen- und Verteidigungspolitik EU-Europas unter deutsch-französischer Schirmherrschaft.    

Das geopolitische Hauptziel US-amerikanischer Außenpolitik ist laut Lafontaine der Erhalt der unipolaren Welt unter der eigenen Ägide. Diese Intention wird nicht einmal von den Protagonisten Washingtons bestritten, sodass hier ein allgemeiner Konsens zu bestehen scheint. Meinungsverschiedenheiten gibt es in der Frage, ob die Bundesregierung die globale Dominanz der USA stützen sollte, d.h. ob diese deutschen Interessen dienlich sei oder nicht.

Aus Sicht der staatstragenden Parteien und Medien ist der Schulterschluss mit den USA unverzichtbar – trotz der Erkenntnis, dass man sich in Berlin faktisch dem Diktat Washingtons unterwirft. Als zentrales verbindendes Anliegen wird die Verteidigung der westlichen Werte angeführt. Deren Kern bildet das Postulat der Maximierung persönlicher Freiheiten. Um diese gesellschaftlich verträglich zu gestalten, hat sich historisch ein Regelsystem herausgebildet, dessen wichtigste Bestandteile Gewaltenteilung, freie und allgemeine Wahlen, uneingeschränkte politische Betätigung sowie Rechtsstaatlichkeit und Gewissensfreiheit sind. Dieses Konstrukt wird als Demokratie begriffen, wohingegen diese Charakterisierung jenen gesellschaftlichen Entscheidungsmodellen verwehrt wird, die in anderen Weltregionen entstanden sind.  

Das westliche Menschenbild erklärt die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zum höchsten Gut. Gleichzeitig wird eine natürliche Tendenz zum Machtmissbrauch angenommen, die es einzudämmen gelte. In anderen Gesellschaftssystemen beruhen die zwischenmenschlichen Beziehungen weitaus stärker auf Gemeinschaftssinn und daraus resultierenden Vertrauensbeziehungen. An die Stelle der Kontrollsysteme des Westens tritt moralischer Druck, dem die Herrschenden permanent unterworfen sind. Besonders sichtbar sind diese Merkmale im ostasiatischen Kulturkreis, dessen Werteverständnis sich trotz westlicher Einflüsse in seinen Grundfesten erhalten hat.

Der westliche Freiheitsbegriff in den globalen Beziehungen

Viele Kritiker der deutschen Außenpolitik haben nichts gegen eine Verteidigung westlicher Werte einzuwenden, manche schätzen sogar die Rolle der USA als deren Garanten. Indessen verweisen sie auf negative Konsequenzen für Deutschland im Falle einer bedingungslosen Unterwerfung unter den transatlantischen Partner. Bei diesen Konsequenzen handelt es sich aktuell um wirtschaftliche Einbußen durch höhere Energiekosten und um den Verlust von Exportmärkten. Darüber hinaus sind politische Spannungen auf dem europäischen Kontinent unerwünscht, da sie zu wachsender Unsicherheit und zu Belastungen durch steigende Verteidigungsausgaben führen.

Eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland und ein Ausbau der Kooperation mit China würden jedoch die unipolare Ausrichtung der US-Politik nachhaltig untergraben. Zugleich wäre eine Schwächung der westlichen Führungsmacht ein Schlag gegen den Dominanzanspruch des gemeinsamen Werteverständnisses. Da die politischen Führungen des Westens immer wieder bereit waren, die eigenen Werte zu ignorieren, ließe sich nun annehmen, dass auf deren Beharren gänzlich verzichtet werden könnte, wenn als Ausgleich handfeste wirtschaftliche Vorteile winken.  

Hierbei wird jedoch übersehen, dass die westlichen Werte mit ihrem "Freibrief" für die nahezu unbeschränkte Entfaltung einzelner Akteure ein globales System konstituieren und festigen, in dem führende Industrienationen wie Deutschland auf Kosten ärmerer und politisch schwacher Weltregionen erheblich profitieren. Sie finden ihren Niederschlag in neoliberalen Forderungen nach Privatisierung und Zurückdrängung staatlichen Einflusses. In zwischenstaatlichen Beziehungen sollen die "vier Freiheiten" gelten, d.h. der ungehinderte Austausch von Waren, Dienstleistungen, Arbeitskräften und Kapital.    

Nutznießer sind nicht nur die gesellschaftlichen Eliten, sondern die gesamte Bevölkerung der reichen Industrieländer, darunter sogar die Empfänger von Sozialhilfen, Renten und Pflegeleistungen. Die vielfältigen Bildungs-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen wie auch die immer kostspieligeren Gesundheitsdienste wären nicht finanzierbar, wenn Vertreter des Westens nicht auf globaler Ebene nahezu frei agieren könnten. Zwar existieren Institutionen wie die UNO, die WHO, der IWF und die Weltbank, die ursprünglich zum Schutz und zur Unterstützung schwächerer staatlicher Akteure konzipiert wurden. Sie sind jedoch mittlerweile zu Instrumenten der Mächtigen mutiert, indem sie ihnen Rechtssicherheit gewähren und einen Ausbau der eigenen Position ermöglichen.  

Unerträgliche Arbeitsbedingungen, Hunger und anderweitige Entbehrungen in vielen Teilen der Welt werden durch ein neokoloniales System aufrechterhalten, in dem die westlichen Eliten die Fäden ziehen. Ein Ausbruch aus der Armut erscheint allein durch kontrollierte Abschottung bei gleichzeitig weitgehenden Zugeständnissen an die global dominierenden Kräfte in Wirtschaft und Politik möglich. Nur größere Staaten und solche mit begehrten Bodenschätzen sind dazu in der Lage. So musste China 30 Jahre lang westliche Spielregeln strikt befolgen, bevor es seinen eigenen Weg gehen konnte, der sich auf traditionelle konfuzianische Werte wie Gemeinsinn, Vertrauen und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen stützt. Seitdem hat das Land sowohl innenpolitisch als auch bei der Gestaltung der internationalen Beziehungen bemerkenswerte Resultate erzielt.

Für den Westen hat ein erfolgreiches Aufbegehren von Ländern, die zuvor in wirtschaftlicher Abhängigkeit gehaltenen wurden, gravierende Nachteile. Zum einen müssen die globalen Ressourcen mit den "Emporkömmlingen" geteilt werden, was ihre Verfügbarkeit für die eigenen Volkswirtschaften reduziert und die Verhandlungsmacht der alten Industrienationen schwächt. Zum anderen sind sie ein Anreiz für weitere Staaten, sich aus der neokolonialen Umklammerung zu lösen, zumal sich ihnen nun neue Handels- und Finanzierungsalternativen eröffnen. Um diesen Trend umzukehren oder zumindest zu stoppen, sieht sich der Westen veranlasst, geschlossen zu agieren und alle verfügbaren Machtinstrumente einzusetzen. Dabei kommt den USA als größtem westlichem Staat naturgemäß die Führungsrolle zu.

US-Vorwürfe an die deutsche Führung

Zweifellos ist Deutschland bislang einer der Hauptprofiteure der "Pax Americana" gewesen. Die neoliberale Öffnung ausländischer Märkte für global operierendes Kapital hat dessen Großkonzernen erhebliche Vorteile gebracht. Anders als in den USA, wo die erwirtschafteten Gewinne überwiegend in privater Hand blieben, wurden in Deutschland finanzielle Ressourcen teils auch in soziale und wirtschaftlich produktive Bereiche gelenkt. Die bessere Lebensqualität und die höhere Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen schürten jenseits des Atlantiks bald Missgunst und Unzufriedenheit. Nachdem sich Barack Obamas Reform des Gesundheitswesens und Donald Trumps Bemühungen um eine Rückverlagerung von Produktionsstätten aus dem Ausland großteils als Flop erwiesen, suchte die US-Führung nach externen Schuldigen.

Schnell gerieten die Deutschen in den Fokus der Kritik. Ihnen wird vorgeworfen, von dem beträchtlichen Aufwand der USA im medialen, militärischen und geheimdienstlichen Bereich als Trittbrettfahrer zu profitieren. Zum einen wird Berlin aufgefordert, sich an den Kosten und Maßnahmen zur Aufrechterhaltung der "regelbasierten Ordnung" angemessen zu beteiligen. Verlangt werden etwa ein verstärktes Engagement bei militärischen Auslandseinsätzen und eine Erhöhung des Verteidigungshaushalts. Zum anderen erwartet man in Washington von der deutschen Regierung, dass sie Handlungen unterlässt, die der westlichen Dominanz schaden.

Der aktuelle Vorwurf lautet, Deutschland verfolge bei seiner Kooperation mit Russland und China eigene Interessen, die den Zielen des Westens zuwiderlaufen. Die USA könnten einen weiteren Machtzuwachs dieser Staaten, der aus den prosperierenden Handelbeziehungen resultieren würde, nicht zulassen. Dass es überhaupt zu vielfältigen Kontakten mit Moskau und Peking in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur kam, beruhte auf der Erwartung, dass sich deren Gesellschaftssysteme im Zuge der Etablierung kapitalistischer Strukturen allmählich wandeln würden. Zweifelsohne fanden insbesondere in China gravierende Veränderungen statt, allerdings nicht in der gewünschten Weise. Die traditionellen Werte mit ihrem Fokus auf Gemeinsinn und Vertrauen sind weitgehend erhalten geblieben.

Derartige Elemente finden sich gleichwohl im westlichen Werteverständnis. Im Laufe der Geschichte wurden immer wieder moralische Postulate beschworen, die der Ausbeutung fremder Länder gewisse Grenzen setzen sollen. In der Praxis wurden sie jedoch meist ignoriert. Während die freie Entfaltung des Einzelnen quasi als Naturrecht gilt, sind Rücksichtnahme und Fairness zwar wünschenswert, aber nicht unverzichtbar. Rechte sind einklagbar, Moral hingegen hat den Status eines "sozialen Luxus".

Vor diesem Hintergrund erscheint es im Westen nicht verwerflich, andere Weltregionen als Objekte wirtschaftlicher Ausbeutung zu sehen. Dagegen haben sowohl die Sowjetunion als auch China große Anstrengungen unternommen, um unterentwickelte Randgebiete auf das durchschnittliche Landesniveau anzuheben, wobei regionale, ethnische und sprachliche Besonderheiten weitgehend respektiert wurden. Ebenso gibt es in Staaten des globalen Südens keinerlei Ambitionen, neokoloniale Strukturen zu etablieren, zumal sie selbst jahrhundertelang unter ihnen gelitten haben.

Interne Machtumverteilung oder neue Weltordnung

Wenn Kritiker eine Distanzierung zu den USA fordern, dann haben sie unter zwei Alternativen zu wählen: Entweder sie streben eine Umverteilung von Lasten und Verantwortlichkeiten innerhalb der westlichen Staatenwelt an, wobei neokoloniale Strukturen erhalten bleiben. Deutschland und die EU hätten bei größerer Eigenständigkeit einen höheren finanziellen Beitrag zu leisten, während die USA entsprechend entlastet würden. Washington müsste parallel dazu einen Teil seiner Entscheidungsgewalt abgeben, wozu man dort nur widerwillig bereit sein dürfte. Oder – dies wäre die andere Alternative – die vom Westen dominierte globale Ordnung wird durch eine neue ersetzt, die auf einem System gleichberechtigter Staaten anstatt auf dem "Recht des Stärkeren" basiert.

Debatten über die erstgenannte Alternative gibt es vor allem im politischen Mainstream und unter Kritikern aus dem rechten Spektrum. Da diese Alternative letztlich auf eine veränderte "Arbeitsteilung" bei der Ausübung imperialistischer Herrschaft zielt, stößt sie bei Linken allgemein auf Ablehnung. Ihr verbleibt somit nur der letztgenannte Weg. Dieser verlangt aber eine Korrektur des eigenen Werteverständnisses und eine Inkaufnahme wirtschaftlicher Rückschläge.

Der freien Entfaltung globaler Akteure wären soweit Schranken aufzuerlegen, dass sich Regierungen in aller Welt am volkswirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedarf ihres Landes orientieren können. Westliche Unternehmen könnten fortan nicht mehr von Niedriglöhnen und miserablen Arbeitsbedingungen im Ausland profitieren, und private Verbraucher müssten unvergleichlich höhere Preise zahlen. Überdies wären die Exportbranchen einer zunehmenden Konkurrenz aus anderen Ländern ausgesetzt. Die Folgen für Beschäftigung und Steuereinnahmen wären erheblich, und es könnte zu größeren Leistungsbilanzdefiziten kommen. Die westlichen Währungen würden an Wert verlieren, zumal dann, wenn die Schuldenfinanzierung staatlicher Ausgaben so fortgeführt würde wie in der Gegenwart.

Vertreter der Linken neigen dazu, die gravierenden Auswirkungen einer neuen globalen Ordnung auf den privaten Konsum und das Angebot staatlicher Leistungen zu verschweigen, um ihre Klientel nicht zu beunruhigen. Ein solches opportunistisches Verhalten zehrt jedoch an ihrer eigenen Glaubwürdigkeit und stärkt letztlich die Position ihrer Kritiker. Dabei konstatieren sie zu Recht, dass der Übergang zu einer multipolaren Welt früher oder später ohnehin stattfinden werde. Es läge im Interesse aller beteiligten Akteure, dass die Schritte zu einem gerechteren internationalen System kontrolliert erfolgen. Auf diese Weise ließe sich auch ein massiver Wohlstandseinbruch in den westlichen Staaten vermeiden. Sollte Washington weiterhin Widerstand leisten, wären China und Russland für die Europäer natürliche Partner. Dazu müssten hier allerdings die westlichen Werte grundsätzlich hinterfragt werden.

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