Meinung

Europa im Bürgerkrieg um Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – Baltenstaaten treiben Russophobie voran

Das Baltikum und Polen sind die Vorreiter bei der Rehabilitierung des Nazismus, psychopathischer Russophobie und der Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit. Die Verhaftung des Chefredakteurs von "Sputnik Litauen" durch den lettischen Geheimdienst ist ein Vorgeschmack auf das Europa von morgen.
Europa im Bürgerkrieg um Freiheit und Rechtsstaatlichkeit – Baltenstaaten treiben Russophobie voranQuelle: Sputnik © RUDN

Von Anton Gentzen

Die Jüngeren werden es nicht glauben, die Älteren sich vielleicht noch erinnern: Es gab sie mal, die europäischen Werte, die Rede- und Meinungsfreiheit, die Kultur einer offenen und kontroversen Diskussion, die Achtung vor Religion und kulturellem Erbe, vor einem anderen Standpunkt. Europa war in einem guten Sinne ein Ort der Vielfalt, die viersprachige Schweiz das Modell für das Zusammenleben von Völkern und Sprachgemeinschaften. Faschismus und Nationalismus waren geächtet, anderen mit ethnischem Chauvinismus zu begegnen - Tabu. Selbst das zerstrittene und zerfallende Belgien hatte es unter diesem Vorbild geschafft, die Interessen seiner Sprachgruppen in Ausgleich zu bringen. Frankreich ließ alte, fast ausgestorbene Regionalsprachen im öffentlichen Raum und im Schulwesen aufleben und Deutschland war stolz auf seinen Umgang mit den Sorben und Dänen. 

All das ist gar nicht mal so lange her, es waren die neunziger Jahre, in denen in Europa Freiheit und Toleranz (nicht nur gegenüber sexuellen Minderheiten und Transsexuellen) blühten. Im neuen Jahrtausend dauerte es kein Jahrzehnt und all diese Herrlichkeit war hinfort, oder zumindest stark unter Druck geraten.

Was genau geschehen war, und woher die neuen rauen Winde wehen, wird noch einiger Analysen bedürfen. Die eine, zumal einfache Antwort darauf gibt es nicht. Eines fällt aber auf: Ob Zufall oder nicht, der Untergang der europäischen Werte fällt zeitlich zusammen mit der Osterweiterung von EU und NATO. Am 1. Mai 2004 traten zehn Länder dem europäischen Staatenverbund bei, darunter fünf ehemalige Ostblockstaaten (Polen, Tschechien, Slowakei, Slowenien und Ungarn) und drei frühere Republiken der Sowjetunion (Estland, Lettland und Litauen).

Sicher sind die neuen EU-Mitglieder nicht die treibende Kraft des Abbaus von Freiheit und Rechtsstaat auf unserem Kontinent. Würde es sich nur um die Auswirkung von Kinderkrankheiten bei in den "europäischen Werten" nicht geschulten Newcomern handeln, würden sich die Auswirkungen wohl in Grenzen halten. Doch wer und was auch immer hinter den Entwicklungen steht, die unseren Kontinent bis zur Unkenntlichkeit verändert haben, die acht Neuen sind Rammbock, Instrument und Faktor. 

Insbesondere die drei baltischen "Tiger" hätten einem wachen Geiste schon vor ihrem Beitritt suspekt sein müssen: Märsche von Waffen-SS-Veteranen, offene Diskriminierung verwurzelter ethnischer Minderheiten (im Baltikum hauptsächlich Russen) und ein anekdotisches Niveau an Korruption waren im alten Europa damals noch Tabu, in Estland, Lettland und Litauen hingegen seit 1990 Alltag.

Inzwischen haben die drei mit krankhafter Russophobie, militantem Antikommunismus, Meinungsintoleranz und Nazismus-Versteherei ganz Europa angesteckt. Und auch sie selbst haben sich mit den Jahren zum Schlechteren verändert: Solange dort die national-demokratischen Eliten herrschten, die die Sowjetunion selbst erlebt hatten, dachte niemand an den Abriss sowjetischer Kriegsdenkmäler. Den abgrundtiefen Hass gegen alles Sowjetische und Antifaschistische lebt jetzt mit dem Totalabriss jeder Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg die neue Generation baltischer Politiker aus, die 1990 bestenfalls im Kindergartenalter war. 

Um zu verstehen, wohin die baltisch-polnische "Lokomotive" den europäischen Zug zieht, lohnt sich eine Rekapitulation der Ereignisse der letzten Wochen und Monate. Noch werden in Frankreich und Deutschland Journalisten nicht verhaftet für ihre Arbeit, im Baltikum geschieht das bereits.

Am Donnerstag verhaftete der lettische Geheimdienst in Riga den Chefredakteur des Online-Mediums Sputnik Litauen, Marat Kassem, wegen angeblicher "Spionage und Verstoßes gegen EU-Sanktionen". Kassems Anwältin Imma Jansone hat die Anklageschrift noch nicht erhalten. Innerhalb von zehn Tagen kann gegen die Untersuchungshaft ihres Mandanten Berufung einlegen. Kassem drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis.

Marat Kassem ist lettischer Staatsbürger. Er lebt und arbeitet seit mehreren Jahren in Moskau bei der Mediengruppe Rossija Sewodnja, zu der auch Sputnik Litauen gehört. Am 30. Dezember kam der Journalist aus familiären Gründen nach Lettland, die Verhaftung erfolgte kurz vor seiner Rückreise.

Aber ist da, wird der kritische Leser fragen, Lettland nicht im Einklang mit der EU, mit ihren Brüsseler Bürokraten, und auch der Politik in den Ländern des "alten" Europas? RT ist selbst betroffen von einem präzedenzlosen Angriff auf die Pressefreiheit: Die Ausstrahlung des Programms wurde durch eine EU-Verordnung verboten, EU-Bürokraten arbeiten fleißig daran, dass über den Wortlaut dieser Verordnung und weit über die Kompetenzen der EU-Kommission hinaus auch die eigentlich erlaubnisfreien textlichen Produkte online und in sozialen Netzwerken blockiert, gesperrt und abgeschaltet werden. Ja, die EU und die meisten Mitgliedsstaaten greifen die Meinungs- und Pressefreiheit seit einigen Jahren mit harten Bandagen an, nicht nur beim Thema Russland und Ukraine-Krieg. 

Ein Versprechen aber hatten Brüsseler Bürokratie und deutsche Politik im Frühjahr 2022 abgegeben: Russische Journalisten sollen in ihrer Arbeit nicht behindert werden. Sie sollen weiterhin frei recherchieren und publizieren dürfen, nur dass ihre Publikationen niemand mehr in der EU zu Gesicht bekommen sollte. Das war der Kern der Pressefreiheit, seine letzte Bastion, die (anders als die Informationsfreiheit unserer Leser) Europa bekundete, nicht anzutasten. Im Baltikum ist diese Bastion inzwischen gefallen. 

Die Causa Kassem ist aber bei weitem nicht der erste Fall abstruser Willkür, die aus den baltischen Ländern bekannt wird. 

Ende November 2022 musste der estnische Liedermacher, Satiriker und Producer junger Musiker Juri Kivit aus seinem Heimatland ins Exil nach Minsk fliehen, nachdem die örtliche Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren wegen Landesverrates gegen ihn eingeleitet hatte. Sein "Verbrechen": Er hatte zur Melodie der estnischen Nationalhymne einen satirischen Song über den (fehlenden) Intellekt der regierenden Politiker im Land verfasst. In einem anderen satirischen Lied meinte er, es sei besser "russische Vitrine" zu sein, als "im Status eines Kotklumpens" in Europa. 

Anfang Dezember erfuhr ausgerechnet der nach Beginn der russischen "militärischen Sonderoperation" aus Moskau nach Riga verlagerte russische Oppositionssender TV Doschd am eigenen Leib, was europäische Pressefreiheit in ihrer baltischen Auslegung bedeutet: Der Sender wurde in Lettland kurzerhand verboten, nachdem ein langjähriger und prominenter Nachrichtensprecher so unvorsichtig war, die russische Armee "unsere Armee" zu nennen und kundzutun, er helfe durch die Berichterstattung über Missstände in dieser Armee den russischen Soldaten. Da half es auch nichts, dass der Sender dem Journalisten am nächsten Tag nach dem "Vorfall" fristlos kündigte.

Estland und Litauen machten es Lettland nach und verboten Doschd ebenso.

Kurz darauf, gleichfalls im Dezember, wurde in Riga ein Mann verhaftet, der seinen Kunden russische Sender auf ihren Fernsehgeräten und Computern installiert hatte. Zitat aus der Pressemitteilung der Ermittlungsbehörden: 

"Bei der Durchsuchung bei dem Festgenommenen und bei seinen Kunden, die seine Dienste in Anspruch nahmen, fand und beschlagnahmte die Polizei Geräte zur Einstellung des Fernsehsignals, Zugangskarten Trikolor, Fernsehempfänger, Computerausrüstung und Handys, Zahlungskarten und Buchhaltungsunterlagen."

Schon im Februar 2021 – bis zur russischen Intervention in der Ukraine war es noch ein Jahr hin – hatte Lettland die Weiterverbreitung von 16 russischen Fernsehsendern im Land blockiert. Die lettischen Behörden begründeten diesen Akt damit, dass es keine offiziellen Vertreter der Sender im Land gegeben habe. Seit dem 9. Juni 2022 darf kein russisches Fernsehprogramm in dem Land, wo immer noch 40 Prozent der Einwohner russischsprachig und größtenteils auch russischstämmig sind, mehr gesendet werden. 

Im Spätsommer erfasste Lettland eine Welle von Verhaftungen von Aktivisten, die gegen den flächendeckenden Abriss antifaschistischer Kriegerdenkmäler zum Zweiten Weltkrieg protestierten. Das Gedenken an die Befreiung des nazistischen Vernichtungslagers Salaspils verboten die Behörden. Einige Aktivisten sind bis heute unter an den Haaren herbeigezogenen Vorwänden in Haft. Im Mai entging selbst die Europaabgeordnete Tatjana Schdanok den Verhaftungen nicht. Völlig ungehindert darf in dem geschichtsvergessenen Staat dagegen zu Ehren der Waffen-SS marschiert werden. Auch Hakenkreuze erregen in Riga offenbar nur positive Emotionen. 

Anfang September schafften die lettischen Behörden die russischen Schulen im Land ab – einen traditionellen Besitzstand der großen russischsprachigen Minderheit (wie erwähnt etwa 40 Prozent der Gesamtbevölkerung Lettlands), der jahrzehntelang niemanden störte. Ein Beispiel europäischer Sprachen- und Minderheitenpolitik? Eine Reaktion aus Brüssel oder Straßburg hat es jedenfalls nicht gegeben.

Im Oktober 2022 wurde das Ausmaß der behördlichen Willkür, ungesetzlicher Repression und ethnischer Diskriminierung in Lettland selbst der westlichen NGO "Amnesty International" zu groß. Es ging um Flüchtlinge aus arabischen Ländern, und so rügten die für das Leid von Russen tauben und blinden "Menschenrechtsschützer" den lettischen Umgang mit ihnen. Folter, Misshandlung und Verschwindenlassen wurden angeprangert – ohne vernehmbare Reaktion.

Wenn Europa noch etwas auf seine traditionellen Werte hält, muss es aufhören, bei den Menschenrechtsverletzungen der baltischen Staaten wegzusehen. Es muss aufhören, Verständnis für jede rassistische, russophobe und nazistische Bosheit zu zeigen. Nichts in ihrer Geschichte kann Unrecht und chauvinistische Widerlichkeiten in der Gegenwart rechtfertigen oder entschuldigen, zumal den baltischen Völkern gerade in der Zeit der "sowjetischen Besatzung" Sprache, Kultur und Eigenarten nicht nur nicht verboten waren, sondern diese sogar aufblühten. Hält das "alte" Europa nicht entgegen, lässt es sich gar von der baltischen Russophobie anstecken, ist es tatsächlich auf dem Weg ein Viertes Reich zu werden. 

Mehr zum Thema - Dokumentiert: Die vom Westen geduldeten Kriegsverbrechen der Ukraine

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