Meinung

Keine Waffenruhe zu Weihnachten? – Der Zynismus des westlichen Mainstreams

Überall kann man lesen, dass es zum orthodoxen Weihnachtsfest keine Waffenruhe gab. Dass dies aus Kiew abgelehnt wurde, liest man schon seltener. Dass sie nur deshalb nicht stattfinden konnte, gar nicht. Die Berichterstattung darüber ist noch zynischer als die ungeheuerliche Entscheidung in Kiew.
Keine Waffenruhe zu Weihnachten? – Der Zynismus des westlichen MainstreamsQuelle: www.globallookpress.com © Роман Денисов

Von Dagmar Henn

Es ist eine der großen Erzählungen aus dem Ersten Weltkrieg: der Weihnachtsfrieden 1914. Das war keine verabredete Waffenruhe, sondern eher eine spontane Handlung in den Schützengräben, die diesen Krieg für einen Tag unterbrach; es soll zu wechselseitigen Besuchen, zum Singen von Weihnachtsliedern und sogar zu einem Fußballspiel zwischen den befestigten Linien gekommen sein. Der Schrecken des Weltkriegs wurde danach dennoch vier weitere Jahre lang fortgesetzt, und bereits 1915 sorgten die Stäbe sämtlicher Armeen durch rigide Verbote dafür, dass sich ein solches Schauspiel nicht wiederholte.

Die Waffenruhe, die jetzt von russischer Seite für eineinhalb Tage rund um das orthodoxe Weihnachtsfest angeboten wurde, reichte nicht so weit, an diese Legende zu erinnern. Zum einen, weil sie – im Gegensatz zu dem plötzlichen Frieden des Jahres 1914 – "von oben" verordnet war, aber zum anderen auch, weil eine förmliche Waffenruhe das Ergebnis einer Übereinkunft beider Seiten hätte sein müssen. Wenn aber die Gegenseite die Waffenruhe ablehnt, findet sie nicht statt. Und sie kann dann gar nicht stattfinden, weil das dann hieße, die eigenen Truppen schutzlos zu lassen.

Das ist wieder einmal das kleine Detail, das die deutschen Medien geflissentlich übergehen, wenn sie in geradezu epischer Breite darüber berichten, dass diese Waffenruhe nicht stattgefunden habe. Sie konnte nicht stattfinden, weil die Reaktion aus Kiew (zu niemandes Überraschung) lautete, man wolle davon nichts wissen. Sofern dieser Punkt überhaupt erwähnt wird, dann nur so, als hätte der keinerlei Bedeutung: "Kiew lehnte den russischen Vorstoß von Anfang an als Heuchelei ab und auch viele internationale Beobachter sprachen von einer reinen Propaganda-Geste." So die Stuttgarter Zeitung, oder bei der Offenbach Post online: "Die ukrainische Regierung in Kiew hat kein Interesse an einer kurzfristigen Waffenruhe im Ukraine-Krieg. Das teilte das Büro des Präsidenten Wladimir Selenskij mit." Wie man sieht, wird so getan, als hätte die Kiewer Ablehnung keine Konsequenzen. Als könne man tatsächlich die Erwartung hegen, dass die russischen Truppen Beschuss nicht erwidern. Und selbstverständlich wurde die Gelegenheit genutzt, um auch die Zivilbevölkerung von Donezk weiter zu terrorisieren.

Wer die acht Jahre des Donbass-Krieges vor der Eskalation verfolgt hat, erinnert sich daran, wie oft die Linien der Milizen beschossen wurden, ohne selbst dieses Feuer erwidern zu können – weil die ukrainischen Truppen ihre schweren Geschütze, die gemäß den Minsker Vereinbarungen im Depot hätten stehen müssen, immer wieder herausgeholt und eingesetzt hatten, ohne dass die Milizen die Genehmigung erhielten, es denen gleichzutun. Das war ein hoher, über viele Jahre hinweg sehr einseitig bezahlter Preis für ein seit Minsk angestrebtes Friedensabkommen, das – wie Merkel und Hollande inzwischen bestätigt haben – weder seitens der Kiewer Regierungen noch seitens der deutschen und französischen Garantiemächte jemals ernst gemeint war.

Aber mit Beginn des russischen Militäreinsatzes haben sich die Verhältnisse geändert. Es sind nicht mehr die Donbass-Milizen, die für ein wertloses Abkommen ausbluten, weil sie nicht reagieren dürfen. Und die angebotene Waffenruhe seitens der Selenskij-Regierung abzulehnen ist jetzt gleich doppelt zynisch. Denn Schätzungen besagen, dass die Kämpfe an der heißesten Stelle der Front – um Artjomowsk/Soledar – die ukrainische Armee zwei Bataillone pro Tag kosten, an Toten oder zumindest kampfunfähig verwundeten Kämpfern. Die angeblich so lächerlichen 36 Stunden entsprächen also drei ganzen Bataillonen auf ukrainischer Seite.

Man kann relativ einfach überprüfen, wessen Angaben zu Verlusten eher der Wirklichkeit entsprechen. Alexander Mercouris hatte das jüngst in einem Video ausführlich diskutiert, als es um die russischen Verluste durch den Raketenangriff auf Makejewka ging. Die russischen Telegram-Kanäle geraten jedes Mal in helle Aufregung, wenn es etwas höhere Verluste auf russischer Seite gibt, und der Angriff auf Makejewka war darin schlicht nicht zu übersehen, auch wenn die vom russischen Verteidigungsministerium bekannt gegebenen Zahlen weit unter jenen lagen, die die Ukrainer zuvor behauptet hatten.

Aber selbst die Ausführlichkeit, mit der über Makejewka in den westlichen Medien berichtet wurde, lässt erkennen, dass man sehr wohl zumindest ahnt, dass die von Kiew behaupteten russischen Verluste so nicht stimmen können. Zudem wird seit Monaten von dort ständig wiederholt, Russland habe keine Raketen mehr – kontinuierlich seit März, von Woche zu Woche.

Rechnerisch gesprochen wäre eine Waffenruhe also vor allem zugunsten der Ukraine gewesen. Aber sie hätte natürlich gleichzeitig daran erinnert, dass auf beiden Seiten Menschen leben, sogar welche, die zum gleichen Zeitpunkt Weihnachten feiern. Ja, sogar die in Kiew unlängst zurechtgezimmerte Orthodoxe Kirche der Ukraine, die inzwischen auch die jahrhundertealten Klöster in Kiew unter Einsatz von Polizei und Geheimdienst zugeschlagen bekam, feierte am Samstag dort eine Weihnachtsmesse – obwohl das Patriarchat von Konstantinopel, dem sie angeblich untersteht, wie die griechische Orthodoxie längst dem gregorianischen Kalender folgt, also bereits am 25. Dezember Weihnachten beging. Inzwischen geht das Kiewer Regime sogar so weit, Priestern der ukrainisch-orthodoxen Kirche die Staatsbürgerschaft zu entziehen.

Dieser Versuch, eine Staatskirche unter eigener, Kiewer Kontrolle zu schaffen, dürfte ebenfalls eine Rolle gespielt haben bei der Ablehnung der Waffenruhe. Und auch über das Vorgehen von Kiew in diesem Kulturkampf wird im Westen äußerst ungern berichtet.

Die eigene Ablehnung einer Waffenruhe hat allerdings Selenskij nicht daran gehindert, in seiner täglichen Selbstdarstellung dennoch Russland einen "Bruch" der (durch seine eigene Ablehnung nie eingetretenen) Waffenruhe vorzuwerfen, was wiederum sogleich großzügig in den westlichen Medien zitiert wurde, während der ukrainische Beschuss von Donezk wie üblich in einem Loch des Schweigens verschwand.

Die westlichen Berichterstatter, die solche geheuchelten Vorwürfe weitergeben und gleichzeitig das Ablehnen einer Waffenruhe befürworten (man denke nur an die Äußerung der deutschen Bundesaußenministerin Baerbock, eine Waffenruhe zu russischen Bedingungen sei undenkbar), haben keinerlei Selbstwahrnehmung mehr für ihren Zynismus, den sie damit öffentlich zeigen. Denn sie pflegen – mit gutem Entgelt – ihre Fantasien, die Ukraine könne siegen, während Tag für Tag weiterer menschlicher Nachschub nach Artjomowsk gekarrt wird, um die Gefallenen vom Vortag neuerlich zu ersetzen und mit Blut und Knochen für diese Fantasien einzustehen. Das sind jedoch Fantasien, die nicht der Ukraine, sondern der NATO dienen, wie jüngst selbst der ukrainische Verteidigungsminister Resnikow in einem Fernsehinterview eingestand: "Wir erfüllen heute die Mission der NATO, ohne dass sie Blut verliert, wir verlieren es."

Selbst Selenskij könnte zur Rechtfertigung seines Zynismus noch anführen, dass er selbst bedroht wäre, würde er den Kriegskurs nicht weiter verfolgen. Aber jene Kriegspropagandisten in deutschen Redaktionsstuben, die sich ihre Einbildung westlicher Größe aus den zertrümmerten Knochen des ukrainischen Kanonenfutters bauen, können nur ihre eigene Eitelkeit anführen. Sie hätten sich nicht nur für eine Waffenruhe über Weihnachten einsetzen müssen, sie müssten für eine realistische Sicht auf die Ereignisse sorgen und sinnloses Gemetzel nicht länger als "Verteidigung der westlichen Freiheit" beschönigen wollen.

Aber sie konnten und wollten sich auf eine Waffenruhe zu Weihnachten ebenso wenig einlassen wie Selenskij. Denn anzuerkennen, dass auf beiden Seiten der Front Menschen stehen, gleichermaßen lebendig, gleichermaßen jemandes Ehemann, Bruder, Sohn oder Vater, gleichermaßen zur Liebe fähig wie zu Zorn, zur Gedankenlosigkeit wie zur Fürsorge, das ist nicht nur in der Ukraine, das ist auch im gesamten Westen inzwischen unmöglich. Und jedes noch so kleine Zeichen, das an diese humanistische Gleichheit erinnern könnte, ist verboten, gerade so, wie ab 1915 der Weihnachtsfrieden im Ersten Weltkrieg verboten war.

Stattdessen ergehen sich die Länder der NATO darin, neue Waffenlieferungen für die Ukraine aus dem Ärmel (des Steuersäckels ihrer Bevölkerung) zu zaubern. Als hätten die drei Weisen aus dem Morgenland nicht Gold, Weihrauch und Myrrhe gebracht, sondern Dolche, Schwerter und Brustpanzer. Oder als wäre nicht jene friedliche Familienszene um ein Neugeborenes der Kern ihrer winterlichen Feierlichkeiten, sondern der Kindermord von Bethlehem.

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