Meinung

Wie die sowjetische Führung das Problem von Krim und Donbass hätte lösen können

Der Geist Lenins: Warum haben Russland und die Ukraine ihre schwelenden Gebietsstreitigkeiten nicht gelöst, als die Sowjetunion 1991 zusammenbrach – und was hatte sie daran gehindert? Ein Blick auf die Geschichte offenbart die Wurzeln des Ukraine-Konflikts.
Wie die sowjetische Führung das Problem von Krim und Donbass hätte lösen könnenQuelle: Sputnik © Alexander Makarow

Von Alexander Nepogodin

Die Suche nach den historischen Wurzeln des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine, der im vergangenen Februar in der Invasion durch russische Truppen gipfelte, konzentriert sich normalerweise auf historische Ereignisse. Die russische Führung hat wiederholt betont, dass die Ukraine aufgrund von Entscheidungen der sowjetischen Führung, oft entgegen dem Willen der Bewohner, in historisch russische Gebiete expandiert ist. Es war Wladimir Iljitsch Lenin, der der späteren Ukraine den Donbass überließ, und Nikita Chruschtschow tat das später mit der Krim.

Angesichts dieser Diskussionen wird oft vergessen, dass viele Politiker schon vor dem Zusammenbruch der UdSSR rote Linien gesehen haben. Warum also wurde die Gebietsfrage zwischen Russland und der Ukraine nicht schon vor 30 Jahren beigelegt?

Eine Politik gegen die Grenzen

Die Entscheidung, die Krim 1954 an die Ukraine zu übertragen, wurde mehrere Jahrzehnte lang in der Sowjetunion nicht debattiert. Dies änderte sich erst in den Jahren der "Perestroika" (Umgestaltung), als die sogenannte Politik des "Glasnost" (Offenheit) es möglich machte, Probleme der Sowjetunion, einschließlich jene der nationalen Identitäten, öffentlich zu diskutieren.

Der Sommer 1987 war geprägt von Protesten der Krimtataren, die das Recht auf ihre Rückkehr aus Zentralasien, wohin viele 1944 zwangsdeportiert worden waren, in ihre Heimat forderten. Die Unruhe wuchs. Im Juli demonstrierten 120 Aktivisten auf dem Roten Platz in der Nähe des Lenin-Mausoleums. Die Aktivisten hielten Plakate hoch: "Bringt unser Volk in seine Heimat zurück", "Stellt die Rechte der Krimtataren wieder her" und "Demokratie und Glasnost für die Krimtataren". KGB-Beamte in Zivil entrissen ihnen ihre Plakate und versuchten, die Menge auseinanderzutreiben. Aber die Aktivisten setzten sich auf den Boden und widersetzten sich, während sie dabei Parolen skandierten. Solche Akte des Widerstandes hielten an und schürten Unruhe.

Unter dem Druck der Demonstranten war das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU schließlich gezwungen, die Frage der Krimtataren und deren Rückkehr auf die Halbinsel zu behandeln und – wie sich herausstellte – auch die weitaus größere Frage nach dem Status der Halbinsel selbst.

Im Juli und August desselben Jahres traf sich das Politbüro zweimal, um dieses Thema zu erörtern. Bei einem dieser Treffen sagte Michail Gorbatschow, der bereits seit zwei Jahren das Amt des Generalsekretärs der KPdSU innehatte, im engsten Kreis:

"Aus historischer und politischer Sicht wäre es wahrscheinlich richtig, die Krim an Russland zurückzugeben. Aber die Ukraine wird sich dem entgegenstellen."

Bei einem Treffen im August skizzierte der Generalsekretär den politischen Kurs zur Lösung der Streitfrage folgendermaßen: 

"Was die Situation auf der Krim betrifft, so hat sich dort nach den Verbrechen Stalins eine neue Realität entwickelt. Einige schlagen vor, die Halbinsel von der Ukraine loszulösen und einen 'Bundesbezirk' zu bilden. Diese Idee verdient Beachtung. Aber nicht alles kann sofort erledigt werden. Wir müssen den Forderungen der Menschen Schritt für Schritt nachkommen. Mit anderen Worten, Realismus und konkrete Maßnahmen sind jetzt das Wichtigste."

In seiner gewohnten Vorsicht betonte Gorbatschow, man könne sich dem Problem nicht entziehen, aber es müsse aber schrittweise gelöst werden.

Während die Deportation der Krimtataren vom Obersten Sowjet der UdSSR im November 1989 zu Recht als illegal und kriminell anerkannt wurde, unternahm die Zentralregierung keinerlei Maßnahmen bezüglich des Status der Halbinsel. Dennoch heißt es in der Resolution:

"Die Wiederherstellung der Rechte des Volkes der Krimtataren kann nicht ohne die Wiederherstellung der Autonomie der Krim durch die Bildung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Krim (ASSR) als Teil der Ukrainischen SSR durchgeführt werden. Dies entspräche den Interessen sowohl der Krimtataren als auch der heute auf der Krim lebenden Vertreter anderer Nationalitäten."

Ein Referendum nach dem anderen

Der Prozess zur Souveränität der Ukrainischen SSR und die Rückkehr der Krimtataren dienten als Anstoß für ein Referendum über den Status der Halbinsel – eine der ersten Volksabstimmungen dieser Art in der Geschichte der Sowjetunion.

Es ist bemerkenswert, dass bei einer Sitzung des Regionalrats der Volksabgeordneten der Krim – im November 1990, als die Entscheidung zum Referendum getroffen wurde – Leonid Krawtschuk als Vorsitzender des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR anwesend war. Er versuchte, die Abgeordneten davon zu überzeugen, das Problem ohne ein Referendum zu lösen. Trotzdem fand es statt. Über 93 Prozent der Bewohner der Krim – bei einer Wahlbeteiligung von 81 Prozent – sprachen sich für eine Autonomie der Region aus. Weniger als einen Monat später, am 12. Februar 1991, verabschiedete der Oberste Sowjet der Ukrainischen SSR das Gesetz "Über die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Krim". Im ersten Artikel hieß es, dass die Autonomie "auf dem Territorium der Krim als Teil der Ukrainischen SSR" wiederhergestellt werde.

Doch nach dem gescheiterten Putsch des "Staatskomitees für den Ausnahmezustand" im August 1991 beschleunigten sich die Zerfallsprozesse in der UdSSR schlagartig. In der kurzen Zeit vom 20. bis zum 31. August 1991 verabschiedeten viele Sowjetrepubliken, einschließlich der Ukrainischen SSR, diverse Unabhängigkeitserklärungen. Als sich während des Putsches der damalige Präsident der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) Boris Jelzin kurzerhand zum "Stellvertreter" des Präsidenten der UdSSR, also von Michail Gorbatschow, erklärte und sich wie der De-facto-Staatsführer verhielt, als der er angeblich versuchte, ein "starkes Russland" aufzubauen, erkannte die Ukrainische SSR, dass es an der Zeit war zu handeln.

Die Ereignisse entwickelten sich nun rasant. Am 24. August 1991 wurde auf einer Dringlichkeitssitzung des Obersten Sowjets der Ukrainischen SSR das Gesetz zur Unabhängigkeitserklärung verabschiedet. Dennoch hatte ein großer Teil der ukrainischen Bevölkerung, insbesondere die russischsprachige in den südöstlichen Regionen, nicht den Wunsch, die Sowjetunion aufzulösen und die Verbindungen zur RSFSR abzubrechen. Beispielsweise stimmten im März 1991, beim Referendum über die Erhaltung der Sowjetunion als eine Union von Republiken, die Bewohner der Ukrainischen SSR mit einer überwältigenden Mehrheit von 70,2 Prozent für den Erhalt der Sowjetunion. Aus diesem Grund beschlossen die Eliten der Republik, angeführt von Leonid Krawtschuk, ein Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine abzuhalten, um die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen und dem Referendum vom März nachträglich so die Legitimität zu entziehen.

Der Federstrich

Am 8. Oktober 1991 erhielt der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow einen Bericht von seinem Assistenten Georgi Schachnasarow. "Wir müssen Russlands Position in Bezug auf die Krim, den Donbass und den Süden der Ukraine nicht nur öffentlich wiederholen, sondern auch offiziell darlegen. Es ist notwendig, klar und direkt festzuhalten, dass diese Gebiete ein historischer Teil Russlands sind und das Land nicht beabsichtigt, diese aufzugeben", hieß es in dem Dokument.

Georgi Schachnasarow warnte: "Es bleiben weniger als zwei Monate bis zu den Präsidentschaftswahlen und dem Referendum über die Unabhängigkeit der Ukraine. Nationalistische Kräfte verstärken ihre Aktivität, fast ohne Gegenwehr. Am alarmierendsten ist die völlige Apathie jener Kreise der ukrainischen Gesellschaft, die – wie es scheint – eine machtvolle Kampagne hätten starten sollen, damit die Ukraine weiterhin ein Teil der Sowjetunion bleibt. Der Putsch im August hat die Kommunistische Partei gelähmt zurückgelassen, und es gibt einfach keine andere Kraft, die in der Lage wäre, die Organisation der Bekämpfung galizischer Nationalisten und ihrer Komplizen zu übernehmen. Der Teil der ukrainischen Bevölkerung, der sich den Separatisten widersetzen könnte, glaubt, dass Russland darauf verzichtet und die Sache offensichtlich verloren ist. Selbst wenn diese defätistischen Ansichten revidiert werden, kann es zu spät sein. Buchstäblich jeder Tag ist eine verpasste Gelegenheit, die breiten Massen davon zu überzeugen, dass sie auf einen destruktiven Weg gedrängt werden."

Schachnasarow riet dem Präsidenten, dringend Maßnahmen zu ergreifen – zum Beispiel die Arbeit auf der Krim mit der Unterstützung durch den Vorsitzenden des Obersten Rates der ASSR der Krim, Nikolai Bagrow, zu intensivieren.

"Die gesamte Bevölkerung der Republik sollte wissen, dass – wenn die Ukraine ihren Austritt aus der Sowjetunion ankündigt – die Krim sich von der Ukraine abspalten und am selben Tag ein Teil Russlands werden wird", schrieb er. Darüber hinaus empfahl er die Bereitstellung systematischer Informationen durch das staatliche Fernsehen und Radio der UdSSR, in denen eine untrennbare wirtschaftliche und kulturelle Verbindung zwischen der Ukraine und Russland aufgezeigt werden und vor "kolossalen Opfern, Leiden und vielleicht Blutvergießen" warnen, die eine Trennung der Ukrainischen SSR von der UdSSR mit sich bringen wird, während die UdSSR sowohl für das russische als auch für das ukrainische Volk Vorteile bringen kann.

Zu diesem Zeitpunkt hatte der Oberste Rat der ASSR Krim bereits eine Erklärung über die staatliche Souveränität des autonomen Gebiets verabschiedet. Sie sicherte das Recht der Krim über die eigene Landmasse, über seinen Luftraum, seine maritimen Hoheitsgebiete und über andere natürliche Ressourcen. Laut dieser Erklärung könne nur das Parlament der Krim die Interessen der Krim vertreten. Darüber hinaus legten die lokalen Behörden ihr Recht fest, eine eigene Innen- und Wirtschaftspolitik zu verfolgen. Gemäß dem Text der Erklärung würde Sewastopol, das den Status eines Subjekts der Sowjetunion hatte und unter direkter Aufsicht der Zentralregierung in Moskau stand, seinen Status quo beibehalten.

Doch trotz eines so ernsthaften Anspruchs auf Unabhängigkeit – die Erklärung sollte als Rechtsgrundlage für die Ausarbeitung der Verfassung der Republik dienen – hieß es in dem Dokument, dass die autonome Region zu einem "rechtmäßigen und demokratischen Staat innerhalb der Ukraine" erklärt wurde. Tatsächlich wurde die Halbinsel fast zeitgleich von drei Seiten beansprucht: Im Juni 1991 verabschiedeten die protestierenden Krimtataren ebenfalls eine nationale Souveränitätserklärung. Aber die Krim war immer noch Teil der Sowjetunion. Das Schicksal der Krim sollte durch Verhandlungen entschieden werden.

Der Schlusspunkt

Vladislav Zubok, Professor für Geschichte an der Londoner Schule für Wirtschaft und Politikwissenschaft, glaubt, dass die UdSSR auch Ende August 1991 noch eine Chance hatte. In seinem Buch "Collapse: The Fall of the Soviet Union" (Kollaps: Der Untergang der Sowjetunion) schreibt er, wenn Gorbatschow und Jelzin gemeinsame Anstrengungen unternommen hätten, wäre es ihnen möglicherweise gelungen, die Ukrainische SSR von der Sezession abzubringen. Schließlich hatte die Republik damals keine einigende Idee, und für die Industrieregionen wie den Donbass war Kiew nicht wirklich attraktiv. Diejenigen, die im Südosten lebten, fühlten sich hauptsächlich mit Moskau, der russischen Geschichte und Kultur verbunden. "Für Millionen von Menschen in diesen Regionen – Menschen gemischter ethnischer Herkunft und einer gemeinsamen Identität – war die Idee der ukrainischen 'Souveränität' etwas Vages. Etwas, das immer noch eine gemeinsame Staatlichkeit mit der Russischen Föderation implizieren könnte."

Diese These wird unter anderem dadurch bestätigt, wie sich das Team um Leonid Krawtschuk für die Unabhängigkeit der Ukrainischen SSR einsetzte. So hieß es beispielsweise in einem der am 1. Dezember 1991 – dem Vorabend des Referendums über die Unabhängigkeit des Landes – verteilten Propagandabroschüren: "Nur eine unabhängige Ukraine wird in der Lage sein, sich einer zwischenstaatlichen Gemeinschaft mit seinen Nachbarn anzuschließen, als ein gleichberechtigter Partner, vor allem mit Russland, das uns am nächsten steht. Wir stehen in der Verpflichtung, die Republik zu einer guten Mutter für alle ihre Bürger zu machen. Die vom Obersten Rat der Ukraine angenommene Erklärung über die Rechte der Nationalitäten eröffnet einstimmig breite Möglichkeiten für die Entwicklung der Sprachen und Kulturen aller Nationalitäten in der Ukraine. Es spielt keine Rolle, welche Sprache ukrainische Bürger sprechen, solange sie über eine unabhängige Ukraine sprechen."

Der Plan der Behörden der Republik war erfolgreich. Eine überwältigende Mehrheit von 90 Prozent der Bewohner der Ukrainischen SSR sagte "Ja" zu einem unabhängigen Weg, getrennt von der RSFSR. Die Ergebnisse sprachen für sich: 83,9 Prozent stimmten in der Region Donezk dafür; 83,9 Prozent im Gebiet Lugansk; 86,3 Prozent im Gebiet Charkow; 85,4 Prozent in der Region Odessa. Nur die Krim wich davon ab, obwohl selbst dort 54,2 Prozent der Wähler die Unabhängigkeit der Ukrainischen SSR befürworteten.

Es gab viele Gründe für ein so groß angelegtes und unangefochtenes Referendum. Der Bevölkerung wurde nicht nur die Aufrechterhaltung ungehinderter Beziehungen zu Russland zugesichert, sondern auch Maßnahmen zum Schutz und zur Entwicklung der russischen Sprache und Kultur, wie die Materialen zum Wahlkampf aus dieser Zeit belegen. Viele hofften aufrichtig, dass sich nichts drastisch ändern würde und dass die Unabhängigkeit zum Wohlstand der Ukraine führen würde. Zur Entwicklung der Wirtschaft wurden mit Deutschland und Frankreich vergleichbare Indikatoren genannt. Tatsächlich belegte die Ukraine vor dem Zusammenbruch der UdSSR den ersten Platz in Europa in der Stahlerzeugung, im Kohle- und Eisenerzbergbau und in der Zuckerproduktion. Außerdem waren die Menschen wegen der Parade der Souveränitätsbekundungen und nach dem Augustputsches völlig desorientiert. Aus der Sicht des sowjetischen Laien war das Referendum, das am selben Tag wie die Präsidentschaftswahl stattfand, die Leonid Krawtschuk übrigens gewann, ein Votum im Sinne der Behörden.

Wie auch immer man die Ereignisse betrachtet: mit dem Referendum verabschiedete sich die Ukraine von der Sowjetunion. Russische Politiker beschlossen, die Frage der Krim und anderer Regionen im Südosten der Ukrainischen SSR nicht mehr anzusprechen. Am 19. November 1991 unterzeichneten der Vorsitzende des Obersten Sowjets der RSFSR, Boris Jelzin, und sein ukrainischer Amtskollege Leonid Krawtschuk ein Dokument, das als Abkommen zwischen zwei unabhängigen Ländern formalisiert wurde, obwohl sie rechtlich noch Republiken innerhalb der UdSSR waren. Gleichzeitig hieß es im Artikel 6 dieses Dokuments: "Die Hohen Vertragsparteien anerkennen und respektieren die territoriale Integrität der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik und der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik innerhalb der gegenwärtig in der UdSSR bestehenden Grenzen."

Infolgedessen betrachtete sich die ukrainische Parteihierarchie, eingeschlossen Krawtschuk, plötzlich als Nationalisten und verfolgte umgehend die eigenen nationalen Interessen der Ukraine, während sich Jelzin hingegen – nach der Bekanntgabe der Ergebnisse des Referendums – privat mit Gorbatschow traf, um mit ihm die Aussichten für die Erhaltung der UdSSR zu besprechen. Am selben Tag, während seiner Amtseinführung, sagte Krawtschuk, dass die Ukraine keinen politischen Allianzen beitreten, sondern nur auf bilateraler Basis Beziehungen zu den ehemaligen Republiken der UdSSR aufbauen werde. Er versprach dem Land eine unabhängige Außenpolitik, eine eigene Armee und eine eigene Währung.

Ein ungelöstes Problem

Sergei Alexandrowitsch Filatow, ehemaliger Vorsitzender der Präsidialverwaltung Russlands, kommentierte die Besuche von Delegationen aus Donezk, Lugansk, Simferopol und Sewastopol beim Obersten Sowjet der RSFSR im Herbst 1991 mit deren Bitten, sie nicht als Teil der Ukraine zu überlassen wie folgt: 

"Das war ursprünglich unser Land, sie haben es einfach verschenkt." 

Die Delegationen baten am Vorabend der Unterzeichnung der Belowescher Vereinbarungen, "sie nicht unter Kiews Autorität zu belassen". Laut Filatow hatte die russische Führung jedoch beschlossen, sich nicht mehr in das Schicksal der Regionen einzumischen. "Wir hatten keine Zeit. Wir mussten darüber nachdenken, wie Russland im Allgemeinen überleben kann", sagte er.

Der letzte berühmte diplomatische Einspruch wurde Ende August 1991 vom Pressesprecher des Präsidenten der RSFSR, Pawel Woschtschanow, geäußert:

"Ich bin vom Präsidenten der RSFSR ermächtigt, die folgende Erklärung abzugeben. Die Russische Föderation stellt das verfassungsmäßige Recht jedes Staates und Volkes auf Selbstbestimmung nicht infrage. Es gibt jedoch eine Frage bei den Gebietsgrenzen, dessen ungeklärter Charakter nur im Falle einer in einem entsprechenden Vertrag festgelegten alliierten Beziehung zulässig ist. Im Falle der Beendigung einer solchen alliierten Beziehung behält sich die RSFSR das Recht vor, die Frage der Revision der Grenzen anzusprechen."

Woschtschanow bestand darauf, dass Jelzin ihn wirklich "autorisiert" habe, diese Worte zu äußern, und dass er nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habe. Das Team um Jelzin behauptete jedoch, dass der Pressesprecher des Präsidenten auf nicht genehmigte Weise gesprochen hätte. Die kumulierte Wirkung aller Maßnahmen und Äußerungen der Regierung der RSFSR war eindeutig negativ. Wie Georgi Schachnasarow in seinem Memorandum festhielt: "Die Situation wird durch die Tatsache kompliziert, dass die Russen, nachdem sie vernünftige Erklärungen zur territorialen Frage abgegeben hatten – erschrocken über die scharfe Reaktion der Nationalisten und in erheblichem Maße einiger Demokraten – sofort den Stecker zogen."

Am 26. August 1991 rief der Bürgermeister des damaligen Leningrad (heute: Sankt Petersburg), Anatoli Sobtschak, auf einer der letzten Sitzungen des Obersten Sowjets der UdSSR dazu auf, den einheitlichen Unionsstaat nicht zu zerstören: "Heute ist die Gefahr vorschneller, emotionaler, unüberlegter Entscheidungen zehnmal größer als gestern. Heute entscheiden wir über die Zukunft des Landes und bis zu einem gewissen Grad über die Zukunft der Menschheit. Deshalb ist es entscheidend, keine vorschnellen und oberflächlichen Entscheidungen aus der Sicht einer nationalen, unabhängigen Position zuzulassen." 

Leider schenkte niemand seinen Worten Beachtung.

Übersetzt aus dem Englischen

Alexander Nepogodin ist ein in Odessa geborener politischer Journalist und Experte für Russland und die ehemalige Sowjetunion.

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