Fünfzig Jahre nach Vietnam mischen sich die USA immer wieder in Kriege ein, die sie nicht verstehen
Von Matthieu Buge
Im Januar 1973 unterzeichneten die USA ein Abkommen, dass sie sich aus Vietnam zurückziehen. Dadurch ließen sie ihre südvietnamesischen Partner im Stich. Im August 2021 wiederholte sich derselbe Vorgang in Afghanistan.
Nachdem Vietnam zu einem der Schauplätze des Kalten Krieges wurde, beschlossen die USA, dort einzugreifen, um dem Vormarsch der Kommunisten in Südostasien entgegenzutreten. Gemäß der Domino-Theorie musste Vietnam im Einflussbereich des Westens bleiben. Selbstverständlich um die Demokratie auf der ganzen Welt zu beschützen.
Das Jahr 1965 war der Beginn eines massiven militärischen Engagements seitens der USA. Bis dahin hatte sich Washington lediglich darauf beschränkt, militärische Güter und etwa 900 Militärausbilder zu entsenden. Aber nach dem bis heute umstrittenen Vorfall im Golf von Tonkin im Jahr 1964 wurde das amerikanische Engagement bedeutend ernster. Auf seinem Höhepunkt im Jahr 1969 umfasste die US-Intervention mehr als 540.000 Soldaten vor Ort. Die groß angelegte Operation Rolling Thunder, die von 1965 bis 1968 dauerte und bei der die USA 864.000 Tonnen Bomben auf Nordvietnam abwarfen, endete jedoch mit einer Niederlage. Die von den Nordvietnamesen gestartete überraschende Tet-Offensive am vietnamesischen Neujahrstag, dem Tết Nguyên Đán, war im Endeffekt ebenfalls ein Fehlschlag der Nordvietnamesen, aber sie beschädigte maßgeblich die Infrastruktur Südvietnams und ernsthaft den Ruf der USA als vertrauenswürdiger Verbündeter.
Ende der 1960er Jahre war die US-Bevölkerung des Vietnamkriegs überdrüssig geworden. Im ganzen Land wurden zunehmend Proteste gegen den Krieg organisiert. Präsident Richard Nixon ging 1968 mit dem Versprechen in den Wahlkampf, den Krieg in Vietnam mit Frieden und in Ehre zu beenden. Die Absicht dahinter war, Zeit zu gewinnen, um die Südvietnamesen zu bewaffnen, damit sie ihre Positionen aus eigener Kraft verteidigen können. Nixon versäumte es jedoch, diesen Frieden herbeizuführen und stand dann 1972 vor einer Wiederwahl. Genauso wie die USA bereits während des Zweiten Weltkrieges es gehandhabt hatten, indem sie die Eröffnung einer zweiten Front in Westeuropa immer wieder hinauszögerten, wo ein "demokratischer Krieg" immer auch eng mit Wahlen und innenpolitischen Kämpfen verbunden war.
Drei sehr unterschiedliche Männer in einem Boot
Richard Nixon schickte den damaligen Nationalen Sicherheitsberater Henry Kissinger in die Verhandlungen. Kissinger war eine brillante Persönlichkeit, heute 99 alt, und war damals bereits Mitglied des Establishments. Er hielt Südvietnam an sich nicht für wichtig, hielt es aber für notwendig, das Land zu unterstützen, um den Status der USA als Weltmacht aufrechtzuerhalten. Er war überzeugt, dass keiner der Verbündeten Washington jemals mehr vertrauen würde, wenn die USA Saigon einfach fallen lassen würden. Mit anderen Worten: angewandte Realpolitik.
Der nordvietnamesische Gesandte für die Verhandlungen in Paris war Lê Đức Thọ, der seine Karriere als Revolutionär im Alter von 16 Jahren begonnen hatte und 1930 einer der Gründer der Indochinesischen Kommunistischen Partei war. Er wurde zweimal für mehrere Jahre von den Franzosen unter sehr rauen Bedingungen inhaftiert und er engagierte sich für die Wiedervereinigung seines Landes. Kissinger nannte ihn einen "Fanatiker".
Der dritte Mann war der Präsident von Südvietnam, Nguyễn Văn Thiệu. Er war den Việt Minh von Hồ Chí Minh beigetreten, verließ sie aber nach einem Jahr und trat der vietnamesischen Nationalarmee des von Frankreich unterstützten Staates Vietnam bei. Er war seit 1965 Präsident von Südvietnam und hatte es geschafft, eine relative Sicherheit zu gewährleisten, war aber dafür bekannt, die Augen vor der Korruption zu verschließen – und sich ihr hinzugeben. Ein weiteres Beispiel amerikanischer Außenpolitik wird mit dem Zitat "He may be a bastard, but he is our bastard" (Er mag ein Hurensohn sein, aber er ist unser Hurensohn) recht gut zusammenfasst. Um das Bild zynisch zu machen, Nguyễn bekam nie wirklich eine Chance, am Verhandlungstisch zu sitzen.
Der kosmopolitische Intellektuelle, der revolutionäre Nationalist und der opportunistische Politiker. Welcher davon der Gute, der Schlechte oder der Hässliche war, ist eine Frage des persönlichen Geschmacks.
Der Friedensvertrag von Vietnam: Generalprobe für Afghanistan?
Zwischen 1969 und 1973 trafen sich Henry Kissinger und Lê Đức Thọ mehr als 15-mal in Paris. Laut dem amerikanischen Historiker A. J. Langguth wurde einer von Kissingers Versuchen, mit Lê Đức Thọ zu sprechen, an einem Punkt im Jahr 1970, als die Dinge stillzustehen schienen, mit einer Notiz beantwortet, in der stand: "Die US Worte des Friedens sind leer." Aber mit dem Vorschlag der USA und den bevorstehenden Präsidentschaftswahlen hatte Nordvietnam eine Chance, die man sich nicht entgehen lassen konnte. Wie die nachfolgenden Ereignisse bewiesen, verstanden die Vietnamesen die Amerikaner sehr gut, aber die Amerikaner verstanden die Vietnamesen überhaupt nicht.
Die beiden Seiten verhandelten schließlich über einen vollständigen Rückzug der USA und die Freilassung aller US-Kriegsgefangenen in Nordvietnam. Allerdings standen die Verhandlungen nach diesem Abkommen kurz davor zu scheitern, da Nixon Änderungen im Abkommen wünschte und Nguyễn Văn Thiệu, der von den Gesprächen ausgeschlossen war, es nicht unterzeichnen wollte. Kissinger gelang es, den Nordvietnamesen einige kosmetische Zugeständnisse abzuringen, um zu verhindern, dass die USA ihr Gesicht verlieren. Washington schickte in der Folge ein Ultimatum an Nguyễn Văn Thiệu.
Am 27. Januar 1973 wurde in Paris der Waffenstillstand unterzeichnet, der jedoch von beiden vietnamesischen Seiten innerhalb von 24 Stunden gebrochen wurde. Zwei Jahre später, am 30. April 1975, fiel Saigon an das kommunistische Nordvietnam und markierte den endgültigen und vollständigen Rückzug der USA. Nguyễn Văn Thiệu hielt eine letzte Rede, in der er Washington anprangerte, sein Wort nicht gehalten zu haben, und floh dann nach Taiwan.
Jede Ähnlichkeit mit dem afghanischen Szenario ist rein zufällig. 2020 unterzeichneten die USA und die Taliban ein Abkommen über den amerikanischen Rückzug aus Afghanistan. Die afghanische Regierung wurde nicht zu Verhandlungen eingeladen. Der Waffenstillstand wurde fast umgehend gebrochen. Zwei Jahre später fiel Kabul an die Taliban.
Interessanterweise behauptet die Propagandamaschine immer noch, die USA hätten den Vietnamkrieg nicht verloren – Südvietnam habe ihn verloren. Selbst Wikipedia erwähnt nicht, dass es sich hierbei um eine US-Niederlage handelte: Die Franzosen wurden in der Tat besiegt, aber im Fall der USA war es dann halt einfach ein "Rückzug".
Verloren in der Übersetzung
Im Film von Francis Ford Coppola "Apocalypse Now" hat die Figur des Hubert de Marais diese sehr wichtige Zeile, die er mit einem typisch französischen Akzent vorträgt:
"Die Vietnamesen sind sehr intelligent. Du weißt nie, was sie denken. Die Russen, die ihnen helfen – kommt gebt uns euer Geld. Wir sind alle Kommunisten. Chinesen geben uns Waffen. Wir sind alle Brüder. Sie hassen die Chinesen! Vielleicht hassen sie die Amerikaner weniger als die Russen und Chinesen. Ich meine, wenn die Vietnamesen morgen Kommunisten sind, werden sie vietnamesische Kommunisten sein. Und das haben sie nie verstanden, Sie Amerikaner."
Coppola hatte in den 1970er Jahren etwas verstanden, was der ehemalige US-Verteidigungsminister Robert McNamara erst in den 1990er Jahren verstanden hat, als er sich mit dem vietnamesischen General Võ Nguyên Giáp traf. Mit Erstaunen stellte er plötzlich fest, dass die Vietnamesen einen Unabhängigkeitskrieg führten, keinen ideologischen Krieg. Bei dem 20-jährigen Konflikt in Vietnam ging es nie um die Ausbreitung des Kommunismus in der Welt. Zur US-Außenpolitik sagte der erfahrene und mittlerweile verstorbene Politiker weiter: "Wir verstehen die Bosnier nicht, wir verstehen die Chinesen nicht, und wir verstehen die Iraner nicht wirklich." Mit Ausnahme des kolonisierten Westeuropa scheint dies eine gute Zusammenfassung der Politik Washingtons gegenüber Ländern auf der ganzen Welt zu sein.
Aber die Propagandamaschine funktioniert gut: Kissinger wird als derjenige in Erinnerung bleiben, der den Friedensnobelpreis für den Vertrag von 1973 erhielt. Lê Đức Thọ lehnte ihn höflich ab.
Aus dem Englischen.
Matthieu Buge hat für das französische Magazin L’Histoire und das Magazin über russisches Filmschaffen Séance gearbeitet, sowie als Kolumnist für Le Courrier de Russie. Er ist Autor des Buches "Le Cauchemar russe (Der russische Albtraum).
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