Der 24. Februar 2022 – Aufbruch zu einer Neuordnung der Welt
Von Dagmar Henn
Jahrestage sind, selbst wenn sie so "frisch" sind wie dieser, immer eine historische Fiktion, denn jedem herausragenden Ereignis geht eine Entwicklung voraus. Und heute wissen wir weit mehr über den Weg, der zu der militärischen Sonderoperation (MSO) Russlands geführt hat, als noch vor einem Jahr, und dieses Wissen wächst stetig an.
Zuerst hatten Angela Merkel und Francois Hollande gestanden, die Minsker Abkommen nur zu Täuschungszwecken unterzeichnet zu haben, und der US-Generalleutnant James Bierman hatte erzählt, wie die USA über Jahre hinweg bereits Nachschubwege und Munitionslager in der Ukraine, ja, den gesamten Kriegsschauplatz vorbereitet hätten. In jüngster Vergangenheit wurde nun das Detail ergänzt, dass auch die Sprengung der Nord-Stream-Pipelines bereits seit Herbst 2021 geplant wurde. Und die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen plauderte auf der Münchner Sicherheitskonferenz aus, die Sanktionen, die nach Beginn der MSO gegen Russland verhängt wurden, seien ebenfalls bereits seit 2021 in Arbeit gewesen. Die Vorbereitungen des Westens waren also auf vielerlei Ebenen bereits abgeschlossen, als im Februar vergangenen Jahres der Beschuss der Donbass-Städte massiv erhöht wurde.
Es war eine gut vorbereitete Falle, in die man Russland zu locken meinte. Auch in den westlichen Medien gelingt es weitgehend, alle vorangegangenen Ereignisse, acht Jahre Krieg im Donbass eingeschlossen, hinter dem Datum verschwinden zu lassen, ab dem eine russische Antwort erfolgte. Allerdings ist dieses Datum nicht deshalb historisch, weil die russische Armee dem Zugzwang folgte, sondern weil das Ergebnis ganz anders ausfallen wird, als es die westlichen Mächte beabsichtigt hatten.
Jedes Anzeichen deutet darauf hin, dass tatsächlich die Erwartung herrschte, die Russische Föderation durch die Verbindung aus militärischem Konflikt und Wirtschaftskrieg binnen weniger Monate in die Knie zwingen zu können. Zu Beginn hatte die ukrainische Armee schließlich immer noch beträchtliche Bestände sowjetischer Rüstung und Munition; hätten die Wirtschaftssanktionen tatsächlich die Folgen gezeitigt, die man sich in Washington und Brüssel erhoffte, hätten sie für den militärischen Teil dieses geopolitischen Ringens genügt. Aber diese Rechnung ging nicht auf, und nun führt die gesamte NATO einen Krieg, den sie im Grunde nicht einmal dann aufrechterhalten, geschweige denn gewinnen könnte, wenn sie offen, unmittelbar und mit sämtlichen verfügbaren Kräften einsteigen würde.
Dass diese Tatsache langsam aber sicher selbst bei den Besessenen ankommt, zeigt unter anderem die Aussage von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Gefahr, die von einem russischen Sieg ausginge, größer sei als jene, die von einer direkten Konfrontation des Militärbündnisses mit Russland ausgelöst wurde. Das ist ein Eingeständnis, dass die Strategie des Stellvertreterkriegs gescheitert ist und durch weitere Waffenlieferungen nicht aufrechterhalten werden kann, egal, wie viele Ukrainer dafür noch ihr Leben lassen müssen.
Doch es ist nicht die Entwicklung an der Frontlinie (die übrigens, nur zur Erinnerung, augenblicklich nach russischem Recht fast vollständig auf russischem Boden verläuft), die jenem 24. Februar 2022 historisches Gewicht verleiht, sondern die Entwicklung im Rest der Welt, die sich seit jenem Tag gewaltig beschleunigt hat. Nicht Russland hat an Ansehen verloren, sondern der Westen, der sich täglich weiter demaskiert. Zudem hat die Bildung neuer ökonomischer Verbindungen, neuer politischer Bündnisse eine atemberaubende Geschwindigkeit angenommen; als wäre der Beginn der MSO eine laut tönende Fanfare zum Aufbruch gewesen oder als hätte jemand, wie der kleine Junge in Andersens Märchen "des Kaisers neue Kleider" gerufen: "Aber er hat ja nichts an!".
Es sind vermutlich die acht Jahre zwischen dem Putsch in Kiew 2014 und dem vergangenen Februar, die die großen Pläne aus Washington zum Scheitern brachten; acht Jahre, in denen der Donbass den Blutzoll dafür entrichtete, in die westliche Suppe gespuckt zu haben. Heute sind in Washington exakt die gleichen Personen verantwortlich wie damals – US-Präsident Joe Biden, damals Vizepräsident, Victoria Nuland, Antony Blinken, die gesamte Blase der Neocons. Der Blick auf die damaligen Ereignisse verrät, dass sie eigentlich bereits 2014 die Konfrontation mit Russland wollten, vorzugsweise nach Aneignung der Krim als US-Stützpunkt. Dann gab es zuerst keine Krim, dann, wegen des Aufstands im Donbass, auch keine Möglichkeit, sie zu erobern; das ukrainische Militär scheiterte mit seinen Offensiven im Sommer 2014 wie im Frühjahr 2015, und ehe es für einen weiteren Angriff bereit war, kamen die vier Jahre der Präsidentschaft von Donald Trump dazwischen.
In diesen acht Jahren, bis der Plan von 2014 wieder reaktiviert werden konnte, war die Welt allerdings nicht stehen geblieben. Das Bündnis zwischen Russland und China wurde weiter ausgebaut, die chinesischen Beziehungen nach Lateinamerika und nach Afrika entwickelten sich, die wirtschaftliche Macht insbesondere der Vereinigten Staaten ging weiter zurück. Wie viel sich in diesen acht Jahren verändert hatte, wurde nach dem 24. Februar sichtbar.
Hätte man es vor einem Jahr für möglich gehalten, dass ein US-Präsident in Riad anruft, dort aber niemand antwortet? Das war vielleicht das symbolträchtigste Ereignis für eine gewaltige Veränderung; schließlich war Saudi-Arabien erst von den Briten geschaffen worden und dann über Jahrzehnte hinweg der verlässlichste Erfüllungsgehilfe der USA unter den arabischen Staaten gewesen. Seine Dienstbarkeit war der Grundstein, auf dem die Dominanz des US-Dollar ruhte, nachdem das System von Bretton Woods Anfang der 1970er zusammengebrochen war. Die Liste der Länder, die sich der Sanktionspolitik des Westens gegen Russland nicht angeschlossen haben, ist lang, und sie umfasst die weit überwiegende Mehrheit der Weltbevölkerung; aber nichts traf so tief in den Kern der amerikanischen Macht wie die Abkehr Saudi-Arabiens.
Dabei sind es weit mehr die Handlungen des Westens selbst, die die Entwicklung beschleunigt haben, als die militärische Durchsetzungsfähigkeit Russlands. Was ablief, war ein vielfach eingeübtes und bereits bekanntes Programm von Handelsblockaden bis zur Beschlagnahme fremden Vermögens. Ein Wirtschaftskriegspaket, das bereits in Zeiten des Kalten Krieges entwickelt und seitdem auf unzählige Länder angewandt wurde, zuletzt gegen Syrien und Venezuela, das aber in diesem Fall vollständig scheiterte, und zwar auf eine Art und Weise, die allen Beobachtern signalisierte, dass man nun der Knute entkommen kann.
Aber das ist nur die eine Weise, auf die sich der Kaiser als nackt erwies. Denn die Sanktionen wie die sichtbare Missachtung diplomatischer Gepflogenheiten gingen so weit, dass selbst das Vertrauen der Gutwilligsten untergraben werden musste. Und der Gipfelpunkt der ganzen Selbstentblößung war der Anschlag auf Nord Stream, der im Westen nach wie vor behandelt wird wie ein unerklärlicher Vorgang. Von außen gesehen signalisiert er jedoch nichts anderes, als dass die Vereinigten Staaten keine Partner kennen, sondern nur Opfer, und dass kein Recht, kein Versprechen sie zurückhält, bedingungslos ihre eigenen Interessen durchzusetzen, so wie Kronos, der lieber seine eigenen Kinder verschlang, als seine Macht infrage stellen zu lassen.
Derweil wird auf allen Ebenen vorgeführt, dass das menschliche Maß im Westen völlig verloren gegangen ist. Die lauthals verkündete Einigkeit des Westens ist eine makabere Mischung aus Hybris und Unterwerfung, aus Arroganz und Kriecherei. Die Verachtung, mit der die Leben der ukrainischen Soldaten geopfert werden, um die Show für das heimische Publikum am Laufen zu halten, als seien es Stoffpuppen, die man in eine Müllpresse wirft, enthüllt die Falschheit jeden Geredes vom Menschenrecht. Ein Karneval kolonialer Macht, in der die bizarrsten Masken einander zu übertrumpfen suchen, in dem nichts wahr, nichts echt, aber eben auch nichts mehr von Dauer ist.
Weit außerhalb des Sichtfelds des westlichen Publikums, das nun geplündert wird und vom Spektakel gebannt, wird Frankreich aus seinen ehemaligen Kolonien gejagt, wird der afrikanische Kontinent durch chinesische Eisenbahnen geeint, entstehen Verkehrs- und Handelswege, die nicht länger nach Rom führen, und ganze Kontinente suchen ihre eigenen Wege. Nicht nur der Kriegsplan gegen Russland scheitert, auch die Bemühungen, brüchige Ketten zu erneuern im Zusammenspiel von Nahrungsmittelspekulation, Zinspolitik, IWF und Klimaerzählung. Es ist eine Welle neu oder wieder errungener Souveränität, die von diesem 24. Februar des vergangenen Jahres ausging, die den Globus erfasst hat – außer die Länder des Westens.
Die Linie, die die Wahrnehmung dort von jener der übrigen Menschheit trennt, wurde jahrelang immer stärker gezogen und hat im Verlauf des vergangenen Jahres eine Schärfe erreicht, die sie kaum in den Hochzeiten des Kalten Krieges hatte. Es gibt keine Verbindung mehr zwischen der Sicht, die dieser Westen auf sich selbst hat und die er auf allen seinen Kanälen verbreitet, und jener, die andere auf ihn haben. Er ist wie Dorian Gray, der sich im Spiegel betrachtet und in der Blüte seiner Jugend wähnt, während die Welt in das verfallende Antlitz starrt und sich vor allem darum sorgt, wie wild dieser falsche Held noch um sich schlagen wird, ehe er endgültig stürzt.
Im Innern dieses abgeschotteten Bezirks werden weiter fantastische Pläne ausgebrütet, wird in Gedanken Russland zerstückelt, China unterworfen, als würde nach wie vor jedes Vorhaben zur bitteren Wirklichkeit für den Rest der Welt. Dieses Mal ist die Wirkung jedoch geradezu mephistophelisch; je erbitterter darauf bestanden wird, den Lauf der Welt bestimmen zu können, gar zu müssen, desto schneller entzieht sie sich der Kontrolle.
Die Verbissenheit, mit der die Wahrnehmung der westlichen Bevölkerungen auf diesen kleinen Abschnitt des globalen Konflikts in der Nicht-mehr-Ukraine gelenkt wird, damit nur nicht sichtbar wird, worum es eigentlich geht, beschwört alle finsteren Gespenster der kolonialen Vergangenheit. Je stärker auf die Treue zu den Kiewer Hilfstruppen eingeschworen wird, desto offener tritt das Herrenmenschentum zutage. Es ergießt sich in Gazetten und Talkshows, während in der wirklichen Welt drumherum Infrastruktur, Industrie, selbst soziale Beziehungen in ihrem Niedergang noch ideologisch beschleunigt werden. Denn alle Konstrukte, die geschaffen wurden, um die alte Macht zu stärken, von der Klimaerzählung bis zu den 160 Geschlechtern, können diese Macht weder erhalten noch legitimieren und fallen mit zerstörerischer Wucht auf ihren Ursprung zurück.
Die Bevölkerungen der westlichen Länder wirken eigenartig paralysiert, abgesehen von jener weidlich gezüchteten Schicht hemmungsloser Opportunisten, denen eine Gendersprache willkommen ist, weil endlich wieder am ersten Satz zu erkennen ist, wer Abitur hat. Die Mehrheit jedoch scheint nach drei Jahren Ausnahmezustand mit ununterbrochenen Angriffen auf den Lebensstandard und allgegenwärtiger Propaganda in einen Schockzustand gefallen zu sein, der die Exzesse dieses Niedergangs wie einen Albtraum erdulden lässt. Es bleibt vorerst dem irrlichternden politischen Personal überlassen, ob es sich durchringt, die Niederlage anzuerkennen, oder weiter ukrainische (und vor allem eigene) Siege wähnt.
Sollte die Gefahr umgangen werden, die Menschheit in eine Grabbeilage des US-Imperiums zu verwandeln, ist es vor allem die Zukunft des Westens, die ungewiss ist. Wobei unklar ist, wie lange ein solcher albtraumartiger Schock anhalten kann. Allerdings ist klar, dass im Moment seines Vergehens, im Moment der Rückkehr in die Realität sämtliche Widersprüche offen zutage treten und zugleich mitten im ökonomischen Sturz die gesamte, auf die Ukraine eingeschworene politisch-mediale Kaste jede Glaubwürdigkeit verliert, während die großen manipulativen Oligarchen ihren Einfluss in dem Maße einbüßen, in dem der Dollar auf seinen realen Wert gestutzt wird.
Letztlich war der falsche Ton, der von Multikulti über die Restitution von Kunstgegenständen, über "Flüchtlinge willkommen", hin zu Black Lives Matter zu hören war, das Ergebnis des Versuchs, die Abrechnung für den Sklavenhandel und Kolonialismus durch einige Gesten zu ersetzen, ohne die ökonomische Vorherrschaft preiszugeben. Auf eine Welt, in der er nicht die erste Geige spielt, ist der gesamte Westen in keiner Weise vorbereitet, und die hysterischen Beschwörungen, mit denen unter Verleugnung der militärischen Tatsachen auf einen Sieg der Ukraine bestanden wird, wurzeln auch in der Panik, die durch diesen völlig neuen Zustand, der sich ankündigt, ausgelöst wird.
Von all den Gewalten, die seit jenem 24. Februar sichtbar in Bewegung geraten sind, ist der physische Konflikt zwischen dem Dnjepr und Charkow noch am meisten überschaubar. Messbar, abzählbar und im Grunde längst mit einem erwartbaren Ergebnis versehen. Die tektonischen Verschiebungen, die sich darunter und dahinter verbergen, sind in ihren Folgen weit weniger erwartbar, weil es sich tatsächlich um Entwicklungen handelt, die völlig neu sind. Sie versprechen für den größeren Teil der Welt einen Aufbruch, eine Befreiung, deren Gestalt sich noch finden muss, und zwingen den Westen zu einer Selbsterkenntnis, deren Erschütterungen sich erst abzeichnen.
Es zeigt sich, dass die Ziele der MSO, die Russlands Präsident Wladimir Putin vor einem Jahr verkündete, Demilitarisierung und Entnazifizierung der Ukraine, weit umfassender sind, als sie auf den ersten Blick wirkten. Denn die Geschwindigkeit, in der sich die westlichen Staaten die in der Ukraine gepflegte Ideologie zu eigen machten, beruht nicht oder zumindest nicht nur auf dem traditionell gegen Russland gerichteten Anteil. Sie beruht auch darauf, dass der Nazismus die schärfste Ausprägung der kolonialen Ideologie ist, die beinahe zwangsläufig zum Vorschein kommt, sobald das koloniale System selbst bedroht ist. Und sie hat zur Folge, dass eine wirkliche Entnazifizierung, nicht nur der Ukraine, ausschließlich auf eine Weise zu haben ist: durch das Ende dieses kolonialen Systems.
Dass Russland bei dieser Entwicklung die Rolle eines Katalysators einnimmt, ist zu guten Teilen ein Erbe der Sowjetunion, das der Westen ungeheuer unterschätzt hat, denn er hielt das Ende des geopolitischen Gegners auch für das Ende der Geschichte selbst. Heute ist es das damals errungene Vertrauen, das die Geschwindigkeit ermöglicht, mit der die Länder weltweit die Chance ergreifen, die Herrschaft zu entringen. So haben nicht nur die bösen, sondern auch die guten Taten der Vergangenheit ihre Folgen.
Ein Jahr dieser stürmischen Veränderung ist vergangen. Es ist noch nicht erkennbar, wie viele weitere folgen werden. Das Ende wird eine bessere Welt sein, und vielleicht wird diese bessere Welt auch die über Jahrzehnte mit Gift genährte, missbrauchte Ukraine wiederaufrichten können.
Mehr zum Thema - Die "wilden Felder": Seit wann haben die Ukrainer Anspruch auf den Staat, den sie bis jetzt hatten?
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.