Pepe Escobar: Putins Rede beschreibt klar Russlands Kampf gegen die "westlichen Werte"
Von Pepe Escobar
Die mit Spannung erwartete Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin vor der russischen Föderalen Versammlung vom vergangenen Dienstag muss als eine fundamentale Zurschaustellung von Souveränität interpretiert werden.
Die Ansprache fiel bezeichnenderweise auf den ersten Jahrestag der offiziellen Anerkennung der Volksrepubliken Donezk und Lugansk durch Russland. Was vor einem Jahr vollzogen wurde, markierte in vielfältiger Weise auch die Geburtsstunde der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts. Dann, zwei Tage später, lancierte Moskau die militärische Sonderoperation in der Ukraine – auch um diese Republiken zu verteidigen.
Staatsmännisch, in sich ruhend und ohne einen Hauch von Aggression stellte Putins Rede Russland als eine jahrhundertealte, unabhängige und eigenständige Zivilisation dar – manchmal auf einem gemeinsamen Weg mit anderen Zivilisationen, manchmal in Divergenz.
Die Ukraine, ebenfalls Teil der russischen Zivilisation, ist nun von der westlichen Zivilisation besetzt, von der Putin sagte, sie sei "uns feindlich gesinnt", wie schon in einigen Fällen in der Vergangenheit. Die akute Phase dessen, was im Wesentlichen ein Stellvertreterkrieg des Westens gegen Russland ist, findet also gegen die Gesamtheit der russischen Zivilisation statt. Das erklärt Putins Klarstellung:
"Russland ist ein offenes Land, aber eine unabhängige Zivilisation – wir betrachten uns nicht als überlegen, aber wir haben unsere Zivilisation von unseren Vorfahren geerbt und wir müssen sie den kommenden Generationen weitergeben."
Ein Krieg, der die Gesamtheit der russischen Zivilisation bedroht, ist eine ernsthafte existenzielle Angelegenheit. Putin machte auch deutlich, dass "die Ukraine vom Westen als Werkzeug und Aufmarschgebiet gegen Russland benutzt wird." Daher die unvermeidliche Folgerung:
"Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geschickt werden, desto weiter weg müssen wir die Bedrohung von unseren Grenzen verdrängen."
Übersetzt heißt das: Dieser Krieg wird lang – und schmerzhaft. Es wird keinen schnellen Sieg mit minimalem Blutverlust geben. Die nächsten Bewegungen rund um den Dnjepr können Jahre dauern, bis sie sich festigen. Je nachdem, ob die US-Politik weiterhin an neokonservativen und neoliberalen Zielen festhält, muss die Frontlinie bis nach Lwow geschoben werden. Zudem könnten sich die politischen Kräfteverhältnisse in Berlin ändern, während der Handel mit Deutschland und Frankreich wohl erst Ende des nächsten Jahrzehnts wieder aufgenommen werden könnte.
Die Verbitterung des Kremls: Das Ende des START-Abkommens
All das bringt uns zu den Ränkespiele des Imperiums der Lügen. Putin sagte:
"Die Versprechen der westlichen Staatsführungen wurden zu Betrug und zu Lügen. Der Westen lieferte Waffen, bildete nationalistische Bataillone aus. Schon vor Beginn der militärischen Sonderoperation gab es Verhandlungen über die Lieferung von Luftverteidigungssystemen an die Ukraine. Wir erinnern uns auch an Kiews Absicht, Atomwaffen erhalten zu wollen."
Putin machte erneut deutlich, dass das Element des Vertrauens zwischen Russland und dem Westen, insbesondere den USA, in Trümmern liegt. Daher sei es für Russland eine logische Entscheidung, "sich aus dem Vertrag über strategische Offensivwaffen zurückzuziehen, aber wir tun es nicht endgültig. Im Moment setzen wir unsere Teilnahme am START-Abkommen lediglich aus. Es werden keine US-Inspektionen in unseren Nuklearanlagen zugelassen."
Abgesehen davon ist Washington bereits von zwei der drei wichtigsten amerikanisch-russischen Verträgen zur Rüstungskontrolle zurückgetreten: vom ABM-Vertrag, der 2002 von der Regierung von Präsidenten George W. Bush aufgegeben wurde; und vom INF-Vertrag, dem 2019 von Präsidenten Donald Trump ein Ende bereitet wurde. Die Verbitterung des Kremls darüber ist so tief, dass Putin sogar bereit ist, dem Verteidigungsministerium und Rosatom zu befehlen, russische Atomwaffentests vorzubereiten, sollten die USA diesen Weg einschlagen. Wenn dieser Fall eintreten sollte, wird Russland gezwungen sein, die Parität im Atombereich vollständig zu brechen und das Moratorium für Atomtests und die Zusammenarbeit mit anderen Nationen bei der Herstellung von Atomwaffen aufzugeben. Bisher bestand für die USA und die NATO die Möglichkeit, ein kleines Fenster zu öffnen, das es ihnen ermöglichte, russische Nuklearanlagen zu inspizieren. Mit seinem Judo-Kniff gibt Putin nun den Druck an das Weiße Haus zurück.
Die USA und die NATO werden nicht begeistert sein, wenn Russland damit beginnt, neue strategischen Waffen zu testen. Insbesondere den Poseidon – den größten jemals gebauten Nukleartorpedo, der in der Lage sein soll, schreckliche radioaktive verseuchte Tsunamis an den Küsten des Feindes auszulösen.
Die wirtschaftliche Front
Die Umgehung des US-Dollars ist der wesentliche Schritt in Richtung Multipolarität. Während seiner Rede legte Putin Wert darauf, die Widerstandsfähigkeit der russischen Wirtschaft zu betonen:
"Das russische BIP ist 2022 nur um 2,1 Prozent gesunken, die Schätzungen der Gegenseite haben sich nicht bewahrheitet, die 15 bis 20 Prozent voraussagten."
Diese Widerstandsfähigkeit gebe Russland genügend Spielraum, um "mit Partnern zusammenzuarbeiten, um das System der internationalen Zahlungsabwicklung unabhängig vom US-Dollar und anderen westlichen Währungen zu machen. Der Dollar wird seine universelle Rolle verlieren."
Putin erwähnte auch die Wirtschaftskorridore von West- nach Südasien:
"Neue Handelskorridore und Transportwege werden in Richtung Osten gebaut, eine Region, auf die wir unsere wirtschaftliche Entwicklung konzentrieren werden. Neue Autobahnen nach Kasachstan und China werden angelegt, sowie ein neuer Nord-Süd-Korridor nach Pakistan und in den Iran."
Diese Wege werden sich mit Russland verbinden und in die Seehäfen des Schwarzen und des Asowschen Meeres führen. Es sei notwendig, Logistik-Korridore innerhalb des Landes zu bauen, so Putin. Das Ergebnis wird eine schrittweise Anbindung an den Internationalen Nord-Süd-Transportkorridor (INSTC) sein, zu dessen Hauptakteuren Iran, Indien und schließlich Chinas Belt & Road Initiative (BRI) gehören.
Chinas Plan für globale Sicherheit
Es war unvermeidlich, dass sich ein Großteil von Putins Ansprache auf den Krieg zwischen der NATO und Russland konzentrieren musste – mit Ausnahme von der Skizzierung mehrerer staatlicher Strategien, die auf die innere Entwicklung Russlands ausgerichtet sind.
Putin erinnerte daran, dass die Beziehungen zum Westen sich verschlechtert haben, und dies ausschließlich die Schuld der Vereinigten Staaten sei; dass das Ziel der NATO darin bestehe, Russland eine "strategische Niederlage" zuzufügen. Und er erinnerte auch daran, dass die kriegstreibende Raserei ihn eine Woche zuvor dazu gezwungen habe, ein Dekret zu unterzeichnen, um "neuartige bodengestützte strategische Komplexe in Kampfbereitschaft zu versetzen." Kein Zufall also, dass der US-Botschafter direkt nach Putins Ansprache ins Außenministerium einberufen wurde.
Der russische Außenminister Sergei Lawrow äußerte gegenüber Botschafterin Lynne Tracey unmissverständlich, dass Washington konkrete Maßnahmen ergreifen müsse, darunter den Abzug aller Streitkräfte und militärischen Ausrüstung der USA und der NATO aus der Ukraine. In einem weiteren Schritt forderte er eine detaillierte Erklärung zur Zerstörung der Pipelines Nord Stream 1 und 2 sowie ein Ende der US-Einmischung in eine unabhängige Untersuchung, um die Verantwortlichen für die Sabotage zu identifizieren.
Um die Dynamik in Moskau aufrechtzuerhalten, traf sich der chinesische Spitzendiplomat Wang Yi mit dem Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, bevor er anschließend mit Lawrow und Putin sprach. Patruschew merkte an:
"Der Kurs zur Entwicklung einer strategischen Partnerschaft mit China hat für die Außenpolitik Russlands absolute Priorität."
Und Wang Yi fügte weniger kryptisch hinzu:
"Moskau und Peking müssen ihre Uhren gleichschalten."
Die Amerikaner tun währenddessen alles, um dem chinesischen Vorschlag für eine Deeskalation in der Ukraine zuvorzukommen. Chinas Plan soll am Freitag vorgestellt werden, und es besteht die ernsthafte Gefahr, dass Peking in eine von den westlichen Plutokraten gestellte Falle tappt.
Aber die Chinesen haben den Braten gerochen und beschlossen, selbst in die Offensive zu gehen, indem sie ein Konzeptpapier für eine neue Initiative für globale Sicherheit vorlegten.
Das Problem hierbei ist, dass Peking einer zahnlosen UN immer noch zu viel Einfluss zubilligt, wenn sie sich darauf beziehen "eine neue Agenda für den Frieden zu formulieren, die in unserer gemeinsamen Agenda dem UN-Generalsekretär vorgelegt wird." Gleiches gilt, wenn Peking den Konsens aufrechterhält, dass "ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf." Versuchen Sie mal, das den neokonservativen Psychos in Washington zu erklären, die keine Ahnung von Krieg haben, geschweige denn von einem nuklearen.
Die Chinesen bekräftigen die Notwendigkeit, "die gemeinsame Erklärung zur Verhinderung eines Atomkriegs und zur Vermeidung eines Wettrüstens einzuhalten, die von den Staatsführern der fünf Atomwaffenstaaten im Januar 2022 herausgegeben wurde, um den Dialog und die Zusammenarbeit zwischen den Atomwaffenstaaten zu stärken, um das Risiko eines Atomkriegs zu verringern."
Es kann darauf gewettet werden, dass Nikolai Patruschew Wang Yi ausführlich darüber aufgeklärt hat, dass dies reines Wunschdenken ist. Die "Logik" der gegenwärtigen kollektiven westlichen "Führung", wurde unter anderem von dem unwiderstehlich mittelmäßigen Jens Stoltenberg, dem Generalsekretär der NATO, zum Ausdruck gebracht: Selbst ein Atomkrieg sei einem russischen Sieg in der Ukraine vorzuziehen.
Putins wohlüberlegte und gemäßigte, aber klare Ansprache hat deutlich gemacht, dass die Einsätze immer höher werden. Jetzt dreht sich alles darum, wie tief Russlands – und Chinas – "strategische Unmissverständlichkeit" in der Lage sein wird, einen paranoiden Westen, der mit Atombomben jongliert, vor Angst erstarren zu lassen.
Übersetzt aus dem Englischen.
Pepe Escobar ist ein unabhängiger geopolitischer Analyst und Autor. Sein neuestes Buch heißt "Raging Twenties" (Die wütenden Zwanziger). Er wurde von Facebook und Twitter aus politischen Gründen verbannt, aber man kann ihm auf Telegram folgen.
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