Meinung

Russland – das andere und letzte Europa

Welche Rolle spielt Russland in und für Europa? Verfügt das orthodoxe Russland mit seiner "Puschkin-Kultur" über spezifische kulturelle Ressourcen, die dem westlichen Europa abhanden gekommen sind, über die es nie verfügte? Der "Norden" stellt dabei ein besonderes Element im zivilisatorischen Code Russlands dar.
Russland – das andere und letzte EuropaQuelle: Sputnik © РИА Новости

Von Wladimir Moschegow  

"Zum Altertum gehören die Geschichte Ägyptens, Persiens, Griechenlands und Roms. Die Geschichte der Neuzeit ist die des Christentums", bemerkte richtigerweise Puschkin, nicht nur ein brillanter Dichter, sondern ein ebenso brillanter Geschichtsphilosoph. Wir haben es Danilewski zu verdanken, dass die These "Russland ist kein Europa" zum aktuellen Trend im zeitgenössischen Konservatismus geworden ist. Doch was bedeutet das? Das Christentum ist eine Religion vorwiegend weißer, europäischer Völker. Europa ist seinem Wesen nach die Summe aus dem Römischen Reich, der hellenischen Kultur und dem Christentum. Gerade deshalb wird die Geschichte des Neuen Zeitalters, den Worten Puschkins zufolge, die Geschichte der christlichen Welt. Ungeachtet dessen, wie sehr wir die Katholiken als Ketzer stigmatisieren, war die Kirche bis zum XI. Jahrhundert geeint, und keine der lokalen Kirchen bestritt das Recht der römischen Kirche, die Erste unter Gleichen zu sein. Die größten Errungenschaften der christlichen Spätantike (christliche Theologie, politische Philosophie, römisches Recht) sind also die Errungenschaften einer geeinten Kirchenwelt (mit Rom als Zentrum) und eines geeinten Römischen Reiches (mit Konstantinopel als Zentrum). Und wenn "Russland kein Europa ist", dann gibt es auch keinen Bezug zu dieser einheitlichen christlichen Welt, zum antiken Griechenland und zum antiken Rom, zu Homer, Platon, Augustus und Konstantin? Selbstverständlich ist das nicht der Fall. Die einheitliche christliche Welt, das antike Griechenland und Rom, Homer, Platon, Konstantin, Justinian – all das sind auch unsere Wurzeln.

Russland wurde nach dem byzantinischen Ritus getauft, dazu mit einer einheitlichen Kirche, und nach Abschluss der russischen Mission begaben sich Kyrill und Methodius ins päpstliche Rom, wo sie eine Dankbarkeitsliturgie für das wiedergefundene christliche Volk abhielten. Das getaufte Russland trat der Familie der christlichen Völker bei, und so wurde die Geschichte der Neuzeit auch zu seiner Geschichte. Und deshalb ist Russland zu einer der wichtigsten Figuren in dieser Geschichte geworden. Obwohl es stimmt, und auch das ist wahr, "es gab nie etwas Gemeinsames mit dem übrigen Europa" (Puschkin). Durch die Annahme der Taufe von Byzanz schloss sich Russland dem gemeinsamen europäischen Schicksal an, akzeptierte seine Eigenartigkeit und seine besondere Rolle an dem Schicksal der christlichen Welt. Doch das bedeutet nicht, dass "Russland kein Europa" ist und dass die Geschichte Russlands völlig getrennt von der Geschichte der anderen christlichen Völker verläuft. Der geniale geschichtsphilosophische Gedanke Puschkins hört sich so an: Die russische Geschichte "erfordert ein anderes Gedankengut" als die des Abendlandes, die russische Geschichte ist verschieden. Allerdings distanziert sie sich nicht von der Schicksalsgemeinschaft der christlichen Völker, nur hat Russland eine besondere Rolle: Russland wurde zu einem Hindernis für die mongolischen Horden, wodurch Europa in Schutz genommen und die christliche Zivilisation bewahrt wurde. Von dieser besonderen geistigen Rolle sprach Puschkin. Im Unterschied zu Danilewski macht Puschkins Paradigma keine Trennung zwischen "unsere Geschichte" und der "nicht unsere Geschichte", wodurch sie privat und regional geworden wäre. Umgekehrt, er erleuchtet sie prophetisch und gibt ihr eine allmenschliche und universelle Bedeutung.

War es nicht genau das, was Konstantinopel bis zu seinem Fall war: eine Festung für die christliche Welt vor dem Osten? Als sie zusammenbrach, gelang es dem Westen nur mit großer Mühe, den Vormarsch der Türken aufzuhalten. Doch der innere Zerfall konnte nicht mehr aufgehalten werden. Heute kommen in Europa diejenigen Prozesse zu einem Ende, die durch die Reformation eingeleitet wurden: Vor unseren Augen kehrt Europa in die vorchristliche Barbarei zurück. Und es scheint, dass Russland wieder dieselbe Rolle wie damals einnimmt. Wir müssen wieder zu einem Hindernis werden. Doch diesmal müssen wir uns den barbarischen Horden aus dem Westen in den Weg stellen, die ihre christlichen, hellenischen und römischen Ursprünge vergessen haben, die den Ursprung ihrer Zivilisation vergessen haben und deshalb zu Barbaren geworden sind.

Der Kern des Problems liegt also nicht so sehr in Europa (das Russland angeblich nicht ist), sondern darin, dass Europa aufgehört hat, Europa zu sein, dass der Westen aufgehört hat, der Westen zu sein, dass die ehemalige christliche Welt (Christland – das Land der Christen) aufgehört hat, die christliche Welt zu sein. Heute wird diese Welt von den Ideen der Frankfurter Schule, des Freudomarxismus, des Leo Strauss und des Henri-Bernard Lévy beherrscht, die behaupten, dass der Westen die Summe von "Menschenrechten, Libertinismus und jüdischen [oder mosaischen] Werten" sei. Dieser Westen ist freilich kein Westen mehr, kein Europa mehr. Er ist eine unterjochte Welt. Ist aber die heutige Aufgabe Russlands, das untergehende Europa den Kräften des Chaos zu überlassen und sich unter dem Motto "Russland ist kein Europa" ins nicht-christliche Asien zu begeben?

Letzteres wäre vor allem für uns selbst gefährlich. Denn zum einen ist dies genau der Weg, den unsere ewigen Feinde, die Angelsachsen, uns anstacheln zu gehen. Kurz nach dem Maidan räumte George Friedman, Direktor des Strategic Forecasting Inc., eines US-amerikanischen Informationsdienstes im Bereich der Geopolitik, in Bezug auf das ukrainische Problem Folgendes ein: "Das Hauptziel der US-Außenpolitik während des gesamten letzten Jahrhunderts – des Ersten, des Zweiten Weltkrieges und des Kalten Krieges – war und ist es, den Zusammenschluss von Deutschland und Russland zu verhindern. Denn die Vereinigung dieser Länder (d. h. deutsche Technologie und russische Ressourcen) stellt eine lebenswichtige Bedrohung für die Vereinigten Staaten dar." Das heißt, sie stellt die einzige Bedrohung für die angelsächsische Vorherrschaft überhaupt dar. Ein wichtiges Eingeständnis, vor allem wenn man bedenkt, dass die USA mit dem heutigen Krieg in der Ukraine offensichtlich die gleichen Ziele verfolgen.

Natürlich sind wir ohne Hightech wehrlos gegenüber einem hochtechnisierten Feind, insbesondere in militärischer Hinsicht (seinerzeit veranlasste die nüchterne Einsicht in diesen Umstand Peter, sich in Europa ausbilden zu lassen). Doch selbst durch Erhalt der Technologien des "asiatischen Tigers" (was generell eine zweifelhafte Idee ist) werden wir, ohne ein eigenes geistiges Zentrum zu festigen, einfach in einem nicht-christlichen Asien aufgehen. In Europa werden die Russen innerhalb einer Generation zu Franzosen, und was wird in Asien geschehen?

Ohne das eigene kulturzentrische Paradigma zu verabschieden, das unsere geistigen und kulturellen Wurzeln beinhaltet (in erster Linie das byzantinische Christentum und die Kultur Puschkins), aber auch unsere eigenständige national-kulturelle Genealogie (von Ägypten – Hellas – Rom – Byzanz), ohne Festigung des römisch-imperialen Bewusstseins (vom antiken Rom und dem einheitlichen Christentum), werden wir uns leicht in der asiatischen Realität verlieren. Um das Gleichgewicht bei unserer Hinwendung zum Osten zu wahren, um unsere technologische Macht zu entwickeln, dürfen wir in erster Linie nicht das tun, wozu uns die Angelsachsen hartnäckig drängen: Europa aufgeben. Was Russland in den 1930er und 1940er Jahren rettete, war die Bekräftigung der Kultur Puschkins inmitten der sowjetischen Welt. Wäre dies nicht der Fall gewesen, so käme die Sowjetunion unweigerlich zum Zusammenbruch. Die heutige Situation ist allerdings noch ernster, weil sie eine planetarische Dimension angenommen hat. Und nun sollte nicht nur die Puschkin-Kultur, sondern auch die Antike, die römische und europäische christliche Kultur zu unseren Goldreserven werden.

Gleichzeitig eröffnet uns der planetarische Charakter des ХХI. Jahrhunderts auch neue Möglichkeiten und Perspektiven. Wenn es den Angelsachsen heute gelungen ist, Russland von Europa (und vor allem von Deutschland) abzutrennen, wenn wir uns zwangsläufig dem nichtchristlichen Osten zuwenden müssen, so sollte gerade das planetarische Wesen der heutigen Welt unser Hauptaugenmerk werden. Durch die Absage der irrigen Dichotomie von Ost-West können wir Standfestigkeit in der Rolle finden, die bereits von Peter aufgezeigt hat. Russland sollte sich heute nicht nur als Erbe des östlichen Roms und der christlichen Kultur, sondern auch als nördliche Supermacht begreifen. Gerade der Punkt des Nordens wird es uns ermöglichen, uns als eine wirklich allmenschliche Welt zu begreifen: mit dem Osten, mit dem Westen, und gleichzeitig als eine eigenartige Zivilisation mit einem eigenen zivilisatorischen Code.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei Wsgljad.

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