Meinung

Die Verantwortung des Westens für die aktuellen Kampfhandlungen in der Ukraine

Mit dem Einmarsch in die Ukraine am 24. Februar 2022 hat Russland viel Leid und materiellen Schaden verursacht. Doch nach der Sabotage der Verhandlungen Anfang April teilt der Westen die Verantwortung für die humanitäre Notlage und die massiven Zerstörungen. Überdies hat sein wiederholter Bruch früherer Abkommen und Vereinbarungen zu einem Vertrauensverlust geführt, der eine baldige Friedensregelung erschwert.
Die Verantwortung des Westens für die aktuellen Kampfhandlungen in der UkraineQuelle: www.globallookpress.com © Kay Nietfeld

Von Bernd Murawski

Als der russische Außenminister Sergei Lawrow auf einer Veranstaltung im Anschluss an das G20-Treffen in Indien äußerte, der Westen trage Schuld am Krieg in der Ukraine, gab es, wie westliche Medien genüsslich berichteten, im Publikum Gelächter. Nach einer kurzen Pause begründete Lawrow seine Aussage, wobei er auf die Vorgeschichte des Konflikts verwies und den Kriegsbeginn auf das Jahr 2014 datierte.  

In gewisser Hinsicht trifft seine Aussage ebenso auf die derzeitige, tatsächlich von Russland begonnene Militäroperation zu. Wäre es im April 2022 zu einer Übereinkunft gekommen, wie von Russland und der Ukraine angestrebt, hätten die Kämpfe vor etwa zehn Monaten aufgehört. Indem der Westen die ukrainische Führung zum Abbruch der Friedensverhandlungen drängte, hat er zugleich eine Mitverantwortung für den militärischen Konflikt übernommen. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine wurde seitdem durch einen Krieg des Westens gegen Russland ergänzt.

Die russische Militäraktion und der chinesische Friedensplan

Der Vorwurf, die Kreml-Führung habe mit der militärischen Sonderoperation das UN-Gewaltverbot missachtet, wird nicht nur von westlichen Staaten erhoben. Dies zeigt die breite Zustimmung der UN-Vollversammlung zu den Resolutionen, die den russischen Einmarsch in der Ukraine verurteilen. Auch jene Staaten, die sich der Stimme enthalten haben, betrachten den Militäreinsatz als völkerrechtswidrig. So verlangt der Friedensplan Chinas die "Respektierung der Souveränität aller Länder" und erhebt die territoriale Integrität der Staaten zu einem zentralen Prinzip. Die Bedeutung dieser Forderung wird dadurch unterstrichen, dass sie in dem 12 Punkte umfassenden Dokument an erster Stelle steht.

Der letzte Satz in Punkt 1 lautet, "die gleichmäßige und einheitliche Anwendung des Völkerrechts ist zu fördern, während doppelte Standards abgelehnt werden müssen". Der hier artikulierte Vorwurf ist zweifelsohne an die westlichen Staaten gerichtet. Deren Anklage gegen Russland erscheint heuchlerisch, weil sie das Völkerrecht selbst in der Vergangenheit wiederholt gebrochen haben. Dabei waren sie jeweils bestrebt, ihre Praxis mit hehren Absichten zu bemänteln. Auf der Grundlage eigener Wertvorstellungen und Interessen nahmen sie für sich in Anspruch, das Völkerrecht "weiterzuentwickeln", ungeachtet der Sichtweise anderer Staaten.    

Der Westen machte sich den Tatbestand zunutze, dass internationales Recht auf Praktiken und Vereinbarungen beruht, die sich die Staaten selbst geben. Im Gegensatz dazu bestehen für die staatsinterne Rechtsprechung mit dem Parlament als Gesetzgeber sowie der Justiz und der Polizei als Vollstrecker Instanzen, die über den Bürgern stehen.

Ändert sich die gängige Praxis bei der Anwendung völkerrechtlicher Bestimmungen, dann wird diese zur Richtschnur für künftige Entscheidungen. Der Strafrechtler Reinhard Merkel bemerkte dazu, "dass im Völkerrecht die Rechtsbrüche zum Motor der Entwicklung neuer rechtlicher Normen werden". Vor diesem Hintergrund hat der Westen humanitäre Interventionen, eine extensiv ausgelegte präventive Selbstverteidigung und Wirtschaftssanktionen als legal deklariert. Früher waren solche Maßnahmen nur im Fall einer Zustimmung des UN-Sicherheitsrats zulässig. Die westliche Interpretation des Völkerrechts wird von der großen Mehrheit der Staaten des Globalen Südens nicht geteilt. Indessen beruft sich Russland bei den eigenen Handlungen auf das durch den Westen modifizierte Rechtsverständnis.

Russlands ursprüngliche Militärstrategie

Auch wenn die von der russischen Führung vorgebrachten Motive für den Militäreinsatz in der Ukraine vielerorts infrage gestellt werden, dürften sie auf mehr Verständnis stoßen als die westlichen Begründungen für die bewaffneten Interventionen in Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien. Weitere Aspekte sind die Angemessenheit und Zweckdienlichkeit einer militärischen Aktion sowie ein Höchstmaß an Zurückhaltung, worum sich Russland sichtlich bemühte.

Welche Ziele der Kreml mit seinen Schlägen gegen die militärische Infrastruktur der Ukraine und der Besetzung einiger ihrer Territorien verfolgte, lässt sich heute aufgrund der zeitlichen Distanz besser nachvollziehen. Es handelte sich augenscheinlich um eine Machtdemonstration, ergänzt durch eine Zerstörung militärischer Potenziale. Moskau wollte der Kiewer Führung signalisieren, dass es eine Integration der Ukraine in NATO-Strukturen und eine Missachtung der Rechte der Donbass-Bevölkerung nicht zulassen würde.  

Der begrenzte Truppeneinsatz widerspricht westlichen Behauptungen, dass eine Eroberung der Ukraine beabsichtigt war. Ebenso wenig beinhaltete die russische Intervention – anders der US-Angriff 2003 gegen den Irak – einen Enthauptungsschlag, d. h. eine Eliminierung der politischen Zentralgewalt. Verständlicherweise hoffte man in Moskau auf Veränderungen an der Führungsspitze zugunsten kooperationswilliger Kräfte. Gleichwohl setzte sich der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij selbst für Konsultationen sein, die schließlich in Verhandlungen mündeten.

Zu diesem Zeitpunkt waren die Verluste an Menschenleben und die Zerstörungen ziviler Einrichtungen im Vergleich zur heutigen Situation gering. Bis zum 4. April 2022 wurden nach UN-Angaben 1.417 Zivilisten getötet, die meisten von ihnen in der Ostukraine. Betroffen waren vor allem schwer umkämpfte Orte wie Mariupol und Irpen. Die Todesfälle und die zivilen Schäden beruhten nicht nur auf russischem Militäreinsatz, sondern wurden zu einem großen Anteil durch Artilleriebeschuss der ukrainischen Armee verursacht, die im Osten des Landes konzentriert war. Bei der Zerstörung von Militäranlagen und den territorialen Eroberungen durch Russland in der Frühphase gab es dagegen vergleichsweise wenig Opfer.   

Die Verhandlungen zwischen ukrainischen und russischen Vertretern fanden zu Beginn im weißrussischen Gomel und später in Istanbul statt. Dem früheren israelischen Ministerpräsidenten Naftali Bennett zufolge verliefen sie recht erfolgreich und befanden sich Ende März 2022 nahe an einem Abschluss. Die Beendigung des Krieges schien eher eine Frage von Tagen als von Wochen zu sein. Nach geleakten Informationen war die ukrainische Seite bereit, einen Neutralitätsstatus und eine Sonderbehandlung der umstrittenen Gebiete zu akzeptieren. Offen waren Art und Umfang der Schutzgarantien, die Kiew verlangte. Darüber hinaus wurde über den künftigen Status der Krim und der Donbass-Oblaste sowie über mögliche Übergangsformen und -fristen gefeilscht.

Abbruch der Verhandlungen im westlichen Propagandanebel

Laut Harald Kujat besteht kein Zweifel daran, dass die westlichen Staaten die ukrainische Führung davon abhielten, die Verhandlungen bis zu einem Vertragsschluss fortzusetzen. Eine zentrale Rolle spielte der britische Premierminister Boris Johnson mit seinem Besuch in Kiew am 9. April. Medienberichten zufolge hat er Selenskij mit dem Entzug westlicher Unterstützung gedroht und zugleich militärische Ausrüstung in unbeschränktem Umfang versprochen. Geködert wurde die Ukraine mit der Versicherung, dass die russische Wirtschaft unter den westlichen Sanktionen spätestens im Herbst zusammenbrechen und die Kreml-Führung daraufhin unter mächtigen Druck geraten würde.

Nachdem Russland als Zeichen des guten Willens sein Militär aus der Kiewer Umgebung abzog, wurden Ereignisse in Butscha zum Anlass genommen, eine massive antirussische Kampagne in Gang zu setzen. Damit sollte offenbar der ukrainische Rückzug aus den Verhandlungen einerseits kaschiert und anderseits gerechtfertigt werden. Was konkret in Butscha geschah und wer für die unbestreitbaren Gräueltaten verantwortlich ist, lässt sich bis heute nicht mit letzter Gewissheit beantworten. Als Russland den UN-Sicherheitsrat einschalten wollte, weigerte sich Großbritannien, das den Vorsitz innehatte, dem russischen Antrag zu folgen. Eine zügige pathologische Untersuchung durch unparteiische Experten wurde damit verhindert.

Als Täter kommt nicht nur, wie im Westen suggeriert wird, die russische Armee infrage. Nach ihrem Abzug rückten zwei Tage später ukrainische Einheiten ein, die nach eigenen Angaben als erste Maßnahme eine "Säuberungsaktion" durchführten. Erst danach wurden die Leichen entlang der Jablunska-Straße entdeckt.

Die Untersuchungsergebnisse der Ukraine zu diesem Fall wie auch zu den mehr als 400 zivilen Opfern in einer Massengrabanlage nahe der Stadt sind aufgrund ihrer Rolle als Kriegspartei ebenso wenig vertrauenswürdig wie die Zeugenaussagen angesichts des repressiven Umfeldes. Sie wurden zudem beeinflusst durch die Vorverurteilung Russlands seitens der Medien und führender politischer Repräsentanten des Westens, die unmittelbar nach der Entdeckung des Massakers einsetzte. Antirussische Ressentiments wie das Bild des brutalen Iwan wurden für ein Narrativ bemüht, das seitdem in nahezu jeder Talkshow kritischen Teilnehmern entgegengeschleudert wird. Indes scheint niemanden zu stören, dass zentrale westliche Werte wie das Fairnessgebot und die Unschuldsvermutung ad acta gelegt wurden.

Mit Sicherheit kann angenommen werden, dass manche Anschuldigung gegen russische Armeeangehörige berechtigt ist. Da politische Repräsentanten des Kremls aber wiederholt betonten, dass die Ukrainer ein Brudervolk seien, das von nazistischer Unterdrückung befreit werden müsse, erscheinen westliche Vorwürfe einer systematischen Drangsalierung von Zivilisten unglaubwürdig und propagandistisch motiviert. Wenn es vereinzelt zu Handlungen gekommen ist, die den Prinzipien einer humanen Kriegsführung widersprechen, dann auf beiden Seiten. Darüber hinaus wird es vermeidbare und unvermeidbare Kollateralschäden gegeben haben.

Man könnte nun argumentieren, dass all diese Menschen noch leben würden, wenn Russland nicht im Februar letzten Jahres in die Ukraine einmarschiert wäre. Dem ist entgegenzuhalten, dass die Bürger des Donbass bereits seit acht Jahren durch die ukrainische Armee bombardiert werden. Wie aus OSZE-Dokumenten hervorgeht, hat sich der Beschuss ziviler Einrichtungen in Donezk und Lugansk seit Mitte Februar vervielfacht. Nach UN-Angaben wurden bis Ende 2021 insgesamt 3.404 Zivilisten im Donbass durch die ukrainische Artillerie getötet, d. h. eine weitaus größere Personenzahl als in der Anfangsphase der militärischen Sonderoperation Russlands.  

Die russische Führung sah sich unter wachsendem Druck, dem Leiden der Donbass-Bevölkerung ein Ende zu setzen. Der Rückzug der Garantiemächte Deutschland und Frankreich aus dem Minsk-II-Abkommen Ende 2021 trug nicht unwesentlich zu den Entscheidungen in der achten Kalenderwoche des letzten Jahres bei. Hätte Russland nicht gehandelt, wäre der Donbass unbegrenzt weiter beschossen worden. Überdies drohte eine militärische Eroberung, da Kiew das Gros seiner Militäreinheiten in der Region konzentriert hatte. Die fortgesetzte Aufrüstung der Ukraine durch NATO-Staaten, die Präsenz westlichen Militärs im Land, das in der ukrainischen Verfassung verankerte Ziel einer NATO-Mitgliedschaft und die in US-Militärkreisen geführte Debatte über eine künftige Errichtung von Militärstützpunkten entlang der russischen Grenze erforderten aus Sicht des Kreml schnelles und entschlossenes Handeln.  

Der Übergang der begrenzten Militäroperation zu einem offenen Krieg

Mit dem Ende der Verhandlungen im April 2022 trat der militärische Konflikt in eine neue Phase ein. Nach mehreren Mobilisierungen waren die ukrainischen Streitkräfte den russischen zahlenmäßig um ein Mehrfaches überlegen. Ausgestattet mit militärischer Ausrüstung aus westlichen Quellen entstand eine neue Streitmacht, die der schweizerische Militärexperte Jacques Baud "ukrainische Armee 2.0" bezeichnete. Bei den gelieferten Waffen handelte es sich zu einem erheblichen Teil um sowjetische Produkte, die den ukrainischen Soldaten vertraut waren. Ehemalige Mitglieder des Warschauer Pakts leerten ihre Arsenale im Ringtausch gegen neues Militärgerät aus dem Westen. Hinzu kamen Luftabwehrsysteme und Raketenwerfer aus westlicher Produktion. Als bedeutsam erwies sich die US-Satellitenaufklärung, deren Ergebnisse der Ukraine in Echtzeit zur Verfügung gestellt wurden.

Russische Versuche, die Ukraine zurück an den Verhandlungstisch zu bekommen, schlugen fehl. Weder die Erkenntnis, dass der sanktionsbedingte Schaden für die russische Volkswirtschaft minimal war, noch die Ergebnisse von Umfragen, die der russischen Führung eine breite Unterstützung in der Bevölkerung bescheinigten, konnten in Kiew Zweifel am eingeschlagenen Kurs wecken. Die Eroberung des östlichen Teils der Oblast Charkow nährte die Zuversicht auf einen Sieg, und der überschwängliche Beifall, den Selenskij bei seinen Auftritten in westlichen Parlamentssälen erhielt, stärkte die Erwartungen unbegrenzter westlicher Unterstützung. Diese wurde nicht nur für das Militär benötigt, sondern angesichts des drohenden wirtschaftlichen Kollapses zunehmend auch für den Staatshaushalt.

Schließlich musste Russland erkennen, dass der ursprüngliche Plan einer begrenzten Militäroperation nicht umsetzbar war. Fortan sprach man in Moskau von einem Krieg gegen den kollektiven Westen, denn es war offensichtlich, dass die Hauptkontrahenten in Washington, London und Brüssel saßen. Dort wie auch in anderen westlichen Hauptstädten, insbesondere entlang der russischen Westgrenze, wurde offen als Ziel verkündet, Russland schwächen zu wollen, wobei die Ukraine als Rammbock genutzt wurde.

Als sich der Kreml zu einer Ausweitung der militärischen Operation gezwungen sah, musste er mehrere Probleme bewältigen. Zunächst galt es, die eigenen Bürger zu überzeugen, dass es sich im Fall der Ukraine nicht um eine begrenzte Militäraktion – wie etwa 2015 bei der Unterstützung der syrischen Regierung – handelte. Die Kriegspropaganda wurde hochgefahren, u. a. durch vermehrte Berichte über zivile Opfer im Donbass und über Gräueltaten an russischen Kriegsgefangenen. Nach den Referenden in vier Oblasten der Ukraine und deren Anschluss an Russland hieß es, das Vaterland müsse von fremden Militäreinheiten befreit werden. Bevor die geplante Teilmobilisierung durchgeführt werden konnte, mussten ferner wichtige ausländische Partner informiert und um Verständnis gebeten werden. Diese Gelegenheit bot sich dem russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der SOZ-Konferenz in Samarkand, wo er mit den Führern Chinas und Indiens zusammentraf.

Russlands neue Strategie und steigende Opferzahlen

Nun war Russland gewappnet, eine militärische Entscheidung herbeizuführen. Durch die partielle Lahmlegung der Stromversorgung wurden Nachschublinien gestört und die Manövrierfähigkeit der ukrainischen Armee geschwächt. Die Angriffe auf Produktionsanlagen und Lagerstätten für Militärgüter wurden intensiviert. Auf dem Schlachtfeld war die russische Seite bemüht, den ukrainischen Gegner in einen Stellungskrieg zu zwingen. Dies ist auch gelungen, da sich Selenskij gegen taktische Rückzüge von Militäreinheiten stemmte, um die Unterstützungsbereitschaft des Westens nicht zu gefährden. Russland nutzte daraufhin seine sieben- bis zehnfache Artillerieüberlegenheit, um die ukrainische Armee zu zermürben. Diese erleidet seitdem immense Verluste, sodass ihr auf mittlere Sicht sowohl das Personal als auch Kriegsmaterial, vor allem Munition, auszugehen droht. 

Einen bedeutenden Anstieg der Todesopfer seit dem letzten Frühjahr gab es nicht nur bei den Kampfeinheiten, sondern auch unter der Zivilbevölkerung. Nach UN-Angaben sind bis zum 26. Februar dieses Jahres in der Ukraine 8.181 Zivilisten durch Kriegshandlungen umgekommen, das sind fast sechsmal mehr als bis Anfang April 2022. Hinzu kommen erhebliche Schäden an zivilen Einrichtungen sowie beträchtliche wirtschaftliche Verluste, deren Gesamtkosten sich auf mehrere hundert Milliarden Euro belaufen.

Da der Westen gegen eine frühzeitige Waffenruhe inklusive einer Verhandlungslösung interveniert hatte, ist er in hohem Maße mitverantwortlich für die massiven Zerstörungen und das Leiden der Zivilbevölkerung seit dem Frühjahr letzten Jahres. Er kann nicht einmal vorgeben, im Interesse der Ukraine gehandelt zu haben. Zum einen erlebt das Land aktuell eine menschliche und wirtschaftliche Tragödie, deren Folgen noch nach Jahrzehnten zu spüren sein werden. Zum anderen hat sich die ukrainische Position in Hinblick auf eine Übereinkunft mit Russland erheblich verschlechtert. Den Donbass hat sie endgültig verloren, und obendrein wird sie die Oblaste Cherson und Saporoschje zumindest teilweise an Russland abtreten müssen.

Doch nicht nur der Verhandlungsspielraum hat sich für die Ukraine verringert, sondern überhaupt die Chancen auf eine Einigung. Dazu haben die Vertrauensbrüche des Westens beigetragen, zuletzt das Eingeständnis Angela Merkels und François Hollandes, dass die Zustimmung zu Minsk II lediglich dem Zweck diente, die Ukraine militärisch zu stärken. Es ist daher nicht verwunderlich, dass sowohl in der russischen Öffentlichkeit als auch im Kreml die Position an Boden gewonnen hat, die Entscheidung müsse auf dem Schlachtfeld gesucht werden.

Anerkennung der Realitäten und Friedensinitiativen

Kein seriöser Militärexperte bestreitet, dass Russland den kriegerischen Konflikt gewinnen wird, soweit die NATO nicht mit Bodentruppen oder der Luftwaffe eingreift. Der Einsatz von Leopard- und Abrams-Panzern ändert nichts am Kräfteverhältnis, ebenso wenig eine mögliche Lieferung von Kampfjets. Eine ernstere Gefahr für die russische Seite stellen Raketenwerfer dar, da sich der Artillerieeinsatz neben der Luftaufklärung als bedeutender Faktor im Kriegsgeschehen erwiesen hat.   

Wenn Vertreter des Kreml das nukleare Waffenarsenal Russlands thematisieren, dann nicht deshalb, weil es im Fall einer Niederlage samt Verlusts der Krim einsetzen werden könnte. Solche im Westen geäußerten Befürchtungen zeugen von Unkenntnis der militärischen Kräftekonstellation. Vielmehr sollen die westlichen Staaten vor einer Lieferung von Raketen mit größerer Reichweite gewarnt werden. Dies würde nicht nur die militärische Infrastruktur im Hinterland bedrohen, sondern auch die Ukraine in die Lage versetzen, russische Nuklearwaffen-Depots anzugreifen.

Es gab wiederholt Versuche Kiews, die NATO in den militärischen Konflikt hineinzuziehen. Erinnert sei an die Forderung nach einer Flugverbotszone wie auch an die Behauptung, der Raketenangriff in Polen am 15. November letzten Jahres sei von der russischen Armee ausgeführt worden. Es gibt also Gründe, ukrainischen Versicherungen zu misstrauen, kein russisches Territorium beschießen zu wollen. Wohl deshalb sind die USA nicht bereit, der Ukraine ATACMS-Raketen zu übergeben, deren Reichweite 297 Kilometer beträgt. Dagegen befinden sich GLSDB-Systeme auf der Lieferliste, die mit 160 Kilometern fast dreimal so weit wie die aktuell im Gebrauch befindlichen HIMARS-Raketen treffen. Die russische Führung hat daraufhin angekündigt, zu einer entsprechenden Verschiebung der Frontlinie in Richtung Westen gezwungen zu sein.

Selbst wenn die Ukraine Langstreckenraketen erhalten würde, dürfte dies ihre Niederlage allenfalls hinauszögern. Im Westen wird inzwischen realisiert, dass nach dem Scheitern im Wirtschaftskrieg eine weitere Schlappe an der militärischen Front bevorsteht. Um einer Kapitulation der Ukraine zuvorzukommen, sah sich die einflussreiche RAND Corporation veranlasst, in einem jüngst erschienenen Dokument auf eine baldige Beendigung der militärischen Handlungen zu drängen. Die Ukraine soll sich zu einem neutralen Status bereit erklären und territoriale Zugeständnisse machen. Wegen der Befürchtung, die Kremlführung könnte eine Verhandlungslösung mit dem Hinweis ablehnen, dass westlichen Offerten nicht zu trauen sei, wird mit der Aufhebung der Wirtschaftssanktionen ein Lockangebot gemacht.

Mitte Januar ist CIA-Chef William Burns bei Besuchen in Moskau und Kiew mit seinem Vorschlag, der tendenziell dem RAND-Papier entsprechen dürfte, auf Ablehnung gestoßen. Nach all den Siegesbekundungen hätte die Kiewer Führung einen massiven Gesichtsverlust hinnehmen müssen, der ihr unzumutbar erschien. Zudem wäre mit Drohungen aus dem ultranationalistischen Lager zu rechnen. Ebenso wenig zeigte sich die russische Seite bereit, Lösungen etwa in Gestalt eines eingefrorenen Konflikts zu akzeptieren. Zumindest würde sie die ukrainische Armee zuvor aus den Donbass-Oblasten vertreiben wollen. Außerdem dürfte sie ein klares Votum der NATO zur Unteilbarkeit der Sicherheit verlangen. Dieses müsste bindend sein, was u. a. durch einen UN-Sicherheitsratsbeschluss erreicht werden könnte.

Im Gegensatz zu Russland fordern China wie auch die politischen Schwergewichte Indien und Brasilien eine bedingungslose Einstellung der Kampfhandlungen in der Ukraine. Der Widerspruch zu den russischen Intentionen könnte nach Ansicht Gesine Schwans ein Hebel sein, um den Kreml zu Friedensverhandlungen zu zwingen, da er auf gute Beziehungen zu den Staaten des Globalen Südens angewiesen ist. Dabei unterschlägt sie nicht nur den Verhandlungsunwillen der Kiewer Führung, sondern auch den Tatbestand, dass die Forderung nach Einhaltung des Völkerrechts gleichfalls an den Westen gerichtet wäre und dessen eigenwillige Interpretation in Gestalt der "regelbasierten Ordnung" zurückgewiesen würde. Ferner ist davon auszugehen, dass außerhalb der westlichen Medienblase nicht verborgen blieb, wie London und Washington die ukrainische Führung im letzten Frühjahr zwecks Fortsetzung der Kampfhandlungen unter Druck gesetzt haben.

Der unübersehbare Glaubwürdigkeitsverlust des Westens, der durch scheinheiliges Auftreten weiter verstärkt wird, ist Resultat eines längeren historischen Prozesses. Das chinesische Außenministerium legte in einer Erklärung eine Liste von Verstößen gegen völkerrechtliche Prinzipien vor, die von den USA seit ihrer Gründung vor fast 250 Jahren begangen wurden. Sie reichen bis in die Gegenwart und stellen die russische Militäraktion gegen die Ukraine zweifelsohne in den Schatten. Für diejenigen, die weiterhin mit dem Finger auf Russland zeigen und argumentieren, ein Aggressor dürfe nicht belohnt werden, ist der chinesische Beitrag eine empfehlenswerte Lektüre.

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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.