Meinung

"Westen, wo ist dein Stachel?" – Russland löst Saudi-Arabien als Chinas Top-Erdöl-Exporteur ab

Die Entdollarisierung adaptiert sich schnell als Teil der Allgemeinbildung – selbst im Mainstream. Auch der Boomerang-Effekt des westlichen Sanktionsfiebers gegen Russland wird vermehrt als solcher wahrgenommen. Ein kurzer Zwischenbericht vom Beginn der Multipolarität.
"Westen, wo ist dein Stachel?" – Russland löst Saudi-Arabien als Chinas Top-Erdöl-Exporteur abQuelle: www.globallookpress.com © Cfoto/Keystone Press Agency

Von Elem Chintsky

Die Abkehr von der US-amerikanischen Nationalwährung als Welt-Reservewährung wird fast täglich mit Neuigkeiten aus der Weltwirtschaft überschüttet – inklusive der Beweggründe der relevanten, nationalen Akteure. Dies gilt zum einen für etwas kleinere Beispiele, wie Kenia und Saudi-Arabien, die ihren letzten Energiedeal im kenianischen Schilling fixiert haben. Zum anderen betrifft dies größere Beispiele, wie den kürzlich zwischen NATO- und EU-Gründungsmitglied Frankreich und der Volksrepublik China abgeschlossenen, ersten LNG-Handelsvertrag – und zwar unter Verwendung des chinesischen Yuan. 

Dass die sogenannte Entdollarisierung der Weltwirtschaft geradezu in aller Munde ist, zeigt selbst die US-amerikanische Opposition, die sich bereits für ihren nächsten Wahlkampf gegen Joe Biden wappnet. Diese fortschreitende Entwicklung wird sowohl vom demokratischen Herausforderer Bidens, Robert Kennedy Jr., als auch vom ehemaligen US-Präsidenten Donald J. Trump als großes Problem und Wahlthema angegangen.

Eine kurze Chronik der letzten Wochen

Laut Reuters hängte Russland das Königreich Saudi-Arabien Anfang 2023 als größter Erdöl-Exporteur für China ab. Die bekannte Nachrichtenagentur berief sich auf die neuesten Daten der Allgemeinen Zollverwaltung der Volksrepublik China. Es sollte auch bedacht werden, dass Peking in puncto Russland-Isolierung nicht nur dem Druck des Westens nicht nachgibt, sondern den Handel mit Moskau sogar signifikant erhöht. Konkret hätten sich russische Erdöl-Lieferungen auf rund 1,94 Millionen Barrel pro Tag belaufen, was einem Wachstum von fast einem Viertel (23,8 Prozent) mehr als im Vorjahr gleichkommt.

Hätte Saudi-Arabien bei diesem Positionswechsel Grund zur Sorge – beziehungsweise empfände Riad eine nicht konstruktive Konkurrenz gegenüber Moskau –, so würden beide Parteien bei der Koordination innerhalb ihrer erdölexportierenden Ländergruppe OPEC+ nicht so eng zusammenarbeiten. Auch würde sich Riad kaum bei BRICS bewerben wollen – einem supranationalen Wirtschaftsgiganten, bei dem Russland als einflussreiches Gründungsmitglied fungiert. Zu guter Letzt würde Saudi-Arabien die Beziehungen zu den USA nicht so sichtlich vernachlässigen, wie es nachweislich der Fall ist.

Brasiliens Staatspräsident Lula da Silva, der noch im eigenen Wahlkampf gegen Bolsonaro das ganze Jahr 2022 über als der Favorit der Europäischen Union und der Demokratischen Partei Joe Bidens galt, entpuppt sich als trotziger und allzu selbstständiger Akteur. Das bezieht sich vor allem auf die Causa des Ukraine-Krieges, wo er eine der großen Stimmen für sofortige Friedensverhandlungen ist. Dasselbe gilt auch bei der Anfechtung des Status quo der weltweit nun schwindenden US-Dollar-Dominanz. 

Letzteres – besonders beim gleichzeitigen Vorschlag, den chinesischen Yuan als neue Alternative einzuführen – sollte Brüssel und Washington D.C. daran erinnern, dass es eben unter "Lula" war (erste Präsidentschaft, 2003–2011), dass Brasilien zur einflussreichen BRICS-Nation emporstieg.

Ein weiteres Land, dem in den letzten Dekaden diplomatische Ausgrenzung und Sanktionen nicht fremd gewesen sind und das gleichzeitig eine entscheidende Präsenz im Mittleren Osten und Vorderasien innehat, ist der Iran. Dessen Wirtschafts- und Finanzminister Ehsan Khandozi äußerte kürzlich Prognosen für das Restjahr 2023, in dem er damit rechnet, dass sein Land "riesige Mengen" an Erdöl- und Erdgas-Swaps aus Russland erhalten werde. Diese "Swaps" von vorrangig kaspischem Öl, die dann in iranischen Raffinerien weiterverarbeitet werden, betreiben Russland und der Iran bereits seit dem Jahr 2002. Auch hier müsse per gesundem Menschenverstand angenommen werden, dass weder Moskau noch Teheran bei diesem Handel auf den US-Dollar setzen werden. 

"In der Höhle des Löwen"

Nicht nur die in den Augen des Wertewestens Missmutigen und Aufmüpfigen verbrüdern sich in eigenen Handelsbeziehungen. Es stellt sich heraus, dass auch die Europäische Union selbst im Februar 2023 mit 2 Milliarden Kubikmetern an russischen LNG-Lieferungen in dieser Kategorie des Energie-Imports einen historischen Höchststand erreicht hat.

Die Atmosphäre um die skandinavischen NATO-Beitritte ließ eine schnelle Zuspitzung der diplomatischen Beziehungen mit Moskau vermuten. Mit Finnland hat es bereits geklappt – Schweden schwebt vorerst noch im diplomatischen Wartezimmer. Zwar ist diese neue, 1.300 Kilometer lange NATO-Grenze für Russland sicherlich nicht ideal, aber gleichzeitig zeigt sich Helsinki an der energiewirtschaftlichen Front zuversichtlich und höchst motiviert, mit Russland weiter langfristig handeln zu können. Zumindest geht das aus den jüngsten Aussagen des staatlichen Energieunternehmens "Gasum" in Finnland hervor. Deren Vorstand versicherte, dass sie trotz antirussischer Sanktionen "noch viele Jahre lang" russisches Erdgas einkaufen wollen. Die selbsternannte "nordische Energie-Gesellschaft" ist auch teilweise in der Kunst der Wahrnehmungsgestaltung sowie der ideologischen Anpassung von "undemokratischen" Energieträgern bewandert: denn sie importiert das verpönte, russische Erdgas, um es anschließend zu sogenanntem "finnischen erneuerbaren Biogas für ihre europäischen Kunden" zu verarbeiten. 

Diese Art der neoliberalen "Alchemie" wird auch durch die Republik Polen und andere russophobe Länder betrieben. Doch sind diese Tänze aus Energiepatenten und hybriden Brennstoff-Kompositionen nichts weiter als Symptome der im Wertewesten verankerten, zwischenstaatlichen Heuchelei, die jeden Anspruch auf "moralische Empörtheit" zügig verwirken lässt.

Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.

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