Blinken, Scholz und Besuche in und aus China
Von Dagmar Henn
Es liegt etwas in der Luft. Man kann es noch nicht genau erkennen, aber US-Außenminister Antony Blinken, der üblicherweise die Ausstrahlung eines Gebrauchtwagenhändlers hat, wirkte jedenfalls auf seiner Pressekonferenz in Peking eher wie ein Bestattungsunternehmer. Der erste Moment, an dem er das gewohnte Verkäuferlächeln hervorbrachte, war bei der letzten Frage von CNN, also erst bei jemandem, dessen Wohlwollen er sich völlig sicher sein konnte.
Formal betrachtet war sein Auftritt eine Wiederholung all der Punkte, die man aus den letzten Monaten schon kennt. Erkennbar war nur eine leichte Verschiebung wie eine sehr ausführliche Beteuerung, man halte sich an die Ein-China-Politik, und die formelle Formulierung über die Begegnung mit dem chinesischen Außenminister Qin Gang und das halbstündige Gespräch mit Präsident Xi lautete "sehr offen, sehr vertieft und in manchen Fragen produktiv". Das chinesische Gegenstück lautet "offen, tief und konstruktiv". Das besagt nicht viel, außer, dass man sich in einigen Punkten sehr uneins ist.
Offenkundig hatte Blinken den Auftrag, so etwas wie das klassische rote Telefon, das einst das Ergebnis der Kuba-Krise war, zwischen China und den USA zu etablieren, China war aber noch nicht bereit, dem zuzustimmen. Allerdings scheint irgendwer in Washington, vielleicht nach der glorreichen Fehlkalkulation mit den Russland-Sanktionen, nachgerechnet zu haben, was auch nur eine Unterbrechung des Verkehrs durch die Straße von Taiwan für die globale, also auch für die US-amerikanische Wirtschaft, bedeuten würde – einen Absturz in eine tiefe Krise.
Der chinesische Außenminister dürfte bei diesem Gespräch begrenzt freundlich gewesen sein. Denn die Pressemitteilung des chinesischen Außenministeriums, die bereits am Vortag der Pressekonferenz Blinkens veröffentlicht wurde (auch ein ungewöhnliches Detail), beginnt eher wie eine chinesische Standpauke.
"Qin wies darauf hin, dass sich die Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten am tiefsten Punkt seit ihrer Errichtung befänden. Dies diene weder den fundamentalen Interessen der beiden Völker, noch entspreche es der in der internationalen Gemeinschaft geteilten Erwartung. Chinas Politik gegenüber den Vereinigten Staaten bleibe konsistent und stabil. Sie sei grundlegend durch die Prinzipien wechselseitigen Respekts, friedlicher Koexistenz und der Zusammenarbeit zum beiderseitigen Vorteil geleitet, die Präsident Xi Jinping gesetzt habe. Diese Prinzipien sollten auch der Geist sein, in dem beide Seiten gemeinsam handeln, die rote Linie, die sie gemeinsam verteidigen und das Ziel, das beide gemeinsam verfolgen. China hat sich verpflichtet, eine stabile, vorhersagbare und konstruktive Beziehung mit den USA zu errichten. China hofft, dass die USA eine objektive und rationale Sicht auf China annehmen, mit China in die gleiche Richtung arbeiten, die politischen Grundlagen der Beziehungen zwischen China und den USA aufrechterhalten und unerwartete und seltene Ereignisse in einer ruhigen, professionellen und rationalen Weise behandeln. Die beiden Seiten sollten die Verständigung zwischen Präsident Xi und Präsident Biden auf Bali in Wort und Geist umsetzen, und daran arbeiten, die Beziehungen zu stabilisieren und wieder zurück in die Spur zu bringen."
Das ist Diplomatensprache, weshalb man einige Punkte übersetzen muss. Das Erste, was auffällt, ist, dass Qin den USA als Sprecher der "internationalen Gemeinschaft" gegenübertritt. Einige der Botschaften, die Qin an Blinken weiterreichte, dürften das Ergebnis der geradezu überwältigenden internationalen Reisetätigkeit nicht nur aus China, sondern auch nach China in den letzten Monaten sein. Diese Formulierung ist ein Anspruch: Nicht mehr ihr, die USA und der restliche Westen, könnt diesen Platz beanspruchen und so tun, als sprächet ihr für die Menschheit.
Die Passage über die "ruhige, professionelle und rationale Weise" bei "unerwarteten und seltenen Ereignissen" bezieht sich auf die Hysterie, die in den USA um den chinesischen Wetterballon vor einigen Monaten entfacht wurde; ein solcher Satz ist das diplomatische Äquivalent einer schallenden Ohrfeige.
Die konkreten Punkte, auf die man sich geeinigt hat, lesen sich wie diplomatischer Standard – die Kommunikation aufrechtzuerhalten, gemeinsame Arbeitsgruppen einrichten, den Studentenaustausch ausweiten. Und Außenminister Qin werde, wenn es für beide Seiten zeitlich passe, die USA besuchen.
Auch hier steckt der Teufel im Detail. Die Frage des roten Telefons wurde ja bereits erwähnt, und man achte darauf, dass die chinesische Veröffentlichung an diesem Punkt recht vage bleibt. Eine Ausweitung des Studentenaustauschs findet vor dem Hintergrund statt, dass die Niederlande gerade erst beschlossen haben, die Zahl chinesischer Studenten zu begrenzen. Ohne diese Entwicklung wäre das völlig belanglos. Die gemeinsame Arbeitsgruppe allerdings hat ein Thema, das Blinken in der Pressekonferenz sogar benannt hat – sie dreht sich um Fentanyl.
Dieses künstliche Schmerzmittel, das hundertmal stärker wirkt als Opium, steht im Mittelpunkt der Opioidkrise in den USA. Es wurde von einem US-Konzern erfunden und in den Markt gedrückt, aber die mexikanischen Kartelle, die den Handel in der Hand haben, beziehen es mittlerweile vor allem aus China. Das ist gewissermaßen natürlicher Ausdruck der Marktgesetze – die meisten Medikamente weltweit werden inzwischen in Indien oder in China hergestellt, und nur die wirklich großen Unternehmen sind in China unter Kontrolle des Staates. Die USA jedenfalls haben ein großes Interesse daran, diesen Handel einzudämmen, sind dafür aber darauf angewiesen, dass auch die chinesische Regierung ein Interesse daran hat.
Blinken teilte übrigens in der Pressekonferenz beiläufig auch mit, sich mit Vertretern US-amerikanischer Unternehmen getroffen zu haben, die in China tätig sind. Diese hätten ihm erklärt, sie hielten nichts von einer Reduzierung der ökonomischen Verbindungen und würden im Gegenteil das Geschäft gern ausbauen. Blinken erhielt also mehr als eine Standpauke. Und dementsprechend betonte er explizit, das "Risiken beseitigen", das die aktuelle Sprachregelung für die anti-chinesischen Maßnahmen auch der EU ist, sei etwas völlig anderes als "Abkoppeln".
Aber jetzt muss man das Bild noch etwas öffnen. Denn die Ballung an Besuchen ist auffällig. Während der US-Außenminister noch in China weilt, ist der chinesische Premier in Berlin, trifft sich heute Abend mit Bundeskanzler Scholz und morgen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron. Außerdem trifft er sich mit Spitzenvertretern der deutschen Industrie, was sehr praktisch und einfach möglich ist, weil der BDI gerade in Berlin tagt.
Im BDI knirscht es derzeit gewaltig, weil der Kurs gegenüber der Bundesregierung als zu freundlich erachtet wird, und zum ersten Mal seit Monaten taucht ein Artikel im Handelsblatt auf, der erkennen lässt, dass die chemische Industrie anfängt, ihre Interessen öffentlich zu verteidigen. Der chinesische Außenminister wird übrigens, nach der Abreise Blinkens, nach Moskau fliegen. Blinken selbst wiederum reist aus Peking nach London.
Der Besuch des chinesischen Premiers wird, ganz unauffällig, durch die 7. Deutsch-Chinesischen Wirtschaftskonsultationen ausgelöst. Er hat allerdings auch den Vorteil, dass Gesprächspartner des Premiers dem Protokoll zufolge eben nicht die Außenministerin, sondern der Bundeskanzler ist. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt – es würde nicht überraschen, wenn die ganze Zusammenballung von Gesprächen nach diesem Punkt terminiert wurde. Baerbock dürfte international inzwischen nach Möglichkeit umgangen werden.
Der Sprecher des Ministerpräsidenten Li Keqiang betonte übrigens, die Tatsache, dass dieser Deutschland als Ziel seiner ersten Reise nach Übersee seit Amtsantritt gewählt habe, zeige "die Bedeutung, die China seinen Beziehungen mit Deutschland beimisst". Kein beiläufiger Pflichttermin. (Die Tagesschau schreibt in ihrer Berichterstattung Sätze wie "Am meisten fürchtet man sich in Peking davor, dass die demokratischen Staaten vereint zusammenstehen, um diese Sicherheitsordnung [der USA] durchzusetzen" und fand dafür sogar einen chinesischen Bürger, der ihr das als Zitat lieferte. Man ist noch nicht ganz auf dem aktuellen Stand, wo sich die "Weltgemeinschaft" gerade befindet.)
Dann gibt es noch einige weitere interessante Nebensachen. Im US-Außenministerium hat sich die Stellvertreterin von Blinken in die Rente verabschiedet, und es ist denkbar, dass Erz-Neocon Victoria Nuland aufsteigt und ihren Platz einnimmt, und auch im Verteidigungsministerium drohen einige Personalveränderungen. Wer das im Detail erfahren möchte, kann sich das Video von The Duran dazu ansehen. Die Indizien deuten jedenfalls darauf hin, dass der Machtkampf zwischen den Russland- und den Chinakriegern zugunsten der Russlandkrieger entschieden wurde. Blinken wartete übrigens schon seit langem auf eine Einladung nach China, wurde aber abgewiesen. Denkbar, dass Bill Gates, der vor ihm nach Peking reiste, als Emissär dort war, um die Reise Blinkens überhaupt zu ermöglichen.
Jetzt muss man allerdings noch einige weitere Momente hinzufügen. Den Empfang für den palästinensischen Präsidenten Abbas in der vergangenen Woche etwa, der geradezu monumental war, mit allem, was man bei solchen Gelegenheiten bieten kann, von Böllerschüssen bis zu winkenden Kindern, und der vor allem eins signalisierte: China wird jetzt im Nahen Osten mitreden. Das überrascht nicht. Nach der intensiven diplomatischen Arbeit zwischen Saudi-Arabien und dem Iran und den politischen Verschiebungen, die im gesamten arabischen Raum stattgefunden haben, darf aber keinesfalls übersehen werden, wenn man sehen will, wo die US-Politik derzeit steht, denn das hat Konsequenzen für deren liebstes Objekt dort, Israel.
China hat es geschafft, die erste arabische Einheit seit den 1960ern herzustellen. Die Beziehungen zwischen den USA und China sind schlecht, und die einzige Macht, die sowohl mit China als auch den arabischen Ländern als auch Israel ein gutes Verhältnis hat, ist – Russland. So ein Pech auch. Wie weit dieser Punkt bei den Gesprächen in China eine Rolle gespielt hat, wird man daran sehen, was aus den israelischen Plänen wird, Panzer nach Europa (und in die Ukraine) zu liefern. Möglich, dass an dieser Stelle sehr bald der Rückwärtsgang eingelegt wird. Ägypten hat übrigens einen Aufnahmeantrag an BRICS gestellt.
Insgesamt waren also drei Punkte im Spiel, an denen die US-Amerikaner verwundbar sind: die Versorgung mit Mikrochips, die Opioidkrise und Israel. Das könnte, vor dem Hintergrund eines internen Siegs der Neocons, bedeuten, dass erst einmal ein Kompromiss mit China gesucht wird, um die Hände für die Ukraine freizuhaben. Dann allerdings hätte Blinken weitaus souveräner und zufriedener wirken müssen ‒ schließlich wäre ein Zurückfahren dieser Auseinandersetzung für seine Fraktion ein Sieg.
Aber nein, wie ein Sieger trat Blinken nicht vor die Kameras. Eher wie jemand, der einige bittere Pillen schlucken musste (Bangladesch hat übrigens ebenfalls einen Aufnahmeantrag bei BRICS gestellt). Die Punkte der üblichen Rhetorik wurden abgearbeitet, aber immer in der vorsichtigen Form, man "habe Bedenken", mache sich Sorgen; kein Fordern, kein Drängen, kein Insistieren. Was auch immer ihm gesagt wurde, bewegte zur Vorsicht.
Vergangene Woche, bei seiner Rede auf dem Wirtschaftsform in Sankt Petersburg, erklärte Russlands Präsident Wladimir Putin, das neokoloniale System funktioniere nicht mehr, und der Prozess, dass die multipolare Ordnung stärker werde, sei unvermeidlich. Als handele es sich um eine Entwicklung, die bereits entschieden sei (wir erinnern uns, vor kurzem schrieb eine der führenden Ideologinnen der Neocons, Fiona Hill, der Ukraine-Krieg sei zu einer Rebellion des globalen Südens unter russischer Führung geworden). Die militärische Offensive der Ukraine ist, auch wenn sie noch einige Zeit weitergehen mag, bereits gescheitert. Die Wahl, vor der der Westen steht, ist, weiter zu eskalieren und das Risiko einer atomaren Auseinandersetzung einzugehen, oder die Niederlage einzugestehen. Das Auftreten von Antony Blinken auf seiner Pressekonferenz in China war ein erstes Anzeichen dafür, dass in Washington vielleicht doch noch genug Verstand vorhanden ist, die zweite Option zu wählen.
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