Meinung

Ein Erdbeben – (demokratisch) ausgerechnet im Landkreis Sonneberg?

Einige Thüringer haben es also tatsächlich gewagt, sich einen Landrat von der AfD zu wählen. Und das wird zu einem großen Skandal stilisiert, obwohl jeder weiß, dass damit eigentlich weit mehr vor allem gegen die anderen Parteien als ausgerechnet für die AfD gestimmt haben. Aber wird dieses gefühlt "seismische" Beben zu Veränderungen führen?
Ein Erdbeben – (demokratisch) ausgerechnet im Landkreis Sonneberg?Quelle: www.globallookpress.com © Martin Schutt

Von Dagmar Henn

Jetzt geben sie sich also eine Runde lang bußfertig, nachdem der AfD-Kandidat Robert Sesselmann zum Landrat des Landkreises Sonneberg in Thüringen gewählt wurde. Ein leuchtendes Beispiel dafür liefert der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow, der es eigentlich als Politiker der Linken selbst lange genug mit der "Einheit der Demokraten" zu tun hatte: "Ich glaube, wir müssen den Geist der deutschen Einheit neu definieren, dass wir die Ostdeutschen mitnehmen und nicht das Gefühl auslösen, dass über sie gelacht oder über sie nur geredet wird."

Diese Antwort birgt in sich allerdings bereits einen Teil des Problems – Ramelow fällt es nicht einmal auf, dass er mit dieser "landesväterlichen" Äußerung selbst eben der Westdeutsche bleibt, der auf die Ostdeutschen herabblickt, und zwar sogar im höchsten Amt als Vertreter für die Einwohner eines ostdeutschen Bundeslandes. Allein die Tatsache, dass er ganz automatisch in diesem "wir" denkt, das eben nur die Alt-Bundesdeutschen meint und gleichzeitig die Neu-Bundesdeutschen als eine Gruppe kennzeichnet, die man "mitnehmen", also gewissermaßen pädagogisch betreuen müsse, sagt genug. Denn wer "mitgenommen" wird, sitzt eben nicht am Steuer, nicht einmal im eigenen Bundesland.

Ein "Wahlbeben" sei das, ein "Schlag in die Magengrube", ein "harter Schlag gegen die demokratische Mitte", heißt es überwiegend in der Presse. Positiv hervor sticht eigentlich nur der Cicero, der auch zwei Kommentare liefert, die zumindest ernsthafte Nachdenklichkeit erkennen lassen. Eine Schwalbe macht aber noch keinen Sommer, nach mittlerweile vielen Jahren, in denen jeder "Abweichler" – sei es in der Frage Corona, sei es in der bedingungslosen NATO-Hörigkeit, sei es in der katastrophalen "Klimapolitik" – nach Strich und Faden beschimpft und ausgegrenzt wurde, wollte man irgendwie signalisieren, auch nur an einem Punkt nicht einverstanden zu sein. Und das von einer angeblichen "Einigkeit der Demokraten", die Die Linke nun doch bereits kooptiert hatte und eben nur noch eine einzige Partei als "Bösewicht" per definitionem übrig ließ.

Ein "schwarzer Tag für unsere Demokratie" sei das, behauptet Omid Nouripour, Co-Vorsitzender bei den Grünen. Man könnte behaupten, dann sei ja alles normal, da sich zuletzt nur noch schwarze Tage aneinanderreihten. Außer natürlich, man verklärt den Fanatismus, mit dem sich nahezu der gesamte Bundestag in die militärische Unterstützung der Ukraine stürzt und zugleich jede wirklich demokratische Diskussion zu dieser in der Gesellschaft heißdiskutierten und entscheidenden Frage über Krieg und Frieden mit dem Totschlagargument angeblicher "russischer Propaganda" verhindert, zu einem Gipfelpunkt der demokratischen Kultur.

Ganz zu schweigen davon, wenn ausgerechnet Ricarda Lang als die andere "Hälfte" des Grünen-Vorstands erklärt, die AfD habe gar "kein Interesse daran, dass es dem Land gut geht". Das ist schon eine ganz besondere Art von schwarzem "Humor" von jenen, die es auch noch toll finden, dass die ihnen ohnehin verhassten Pipelines Nord Stream außer Gefecht gesetzt wurden.

Aber es geht hier "nur" um einen Landrat. "Der siegreiche Kandidat", monierte der Focus, "bestritt seinen Wahlkampf mit Themen, mit denen ein Landrat nichts oder fast nichts zu tun hat:" Nun, Gleiches gilt allerdings auch für die verschworene "Einheit der Demokraten", die sich gegen ihn gebildet hatte. Diesen Wahlkampf um einen Landratsposten für einen Landkreis mit nur 54.000 Einwohnern zu einem bundespolitischen Schlachtfeld zu erheben, müsste man demzufolge wohl beiden Seiten vorwerfen. Und das ganze Spektakel, das um ein gewähltes Verwaltungsoberhaupt in den unteren Rängen gemacht wurde, hat letztlich dazu geführt, dass aus einer Wahlbeteiligung von ehedem knapp über 30 Prozent eine von fast 60 Prozent wurde. Ein Teil des Empfindens von Erschütterung innerhalb der "Einheit der Demokraten" dürfte darauf zurückzuführen sein, dass sie von einem gewissen Wählerpotential für sich unter den Nichtwählern ausgingen, das man nur mobilisieren müsse. Doch nun mussten sie feststellen, dass auch die noch mobilisierbaren Nichtwähler eher gegen sie gestimmt haben.

Das erweist sich natürlich als ein künftiges taktisches Problem. Schließlich bestand die Gegenreaktion auf die AfD bisher schlicht darin, das "Nazi, Nazi"-Geschrei noch ein bisschen lauter aufzudrehen – ungeachtet der Tatsache, dass jemand, der gerne deutsche Panzer gegen Russland rollen sieht, den verbrecherischen historischen Nazis weit näher steht als jemand, der etwa nur nicht immer weiter Flüchtlinge aufnehmen will.

Wenn ein zunehmender Teil der Deutschen auf die Warnung vor "Rrrächts" nicht mehr reagiert, hat das durchaus auch damit zu tun, dass an vielen Punkten die herrschende Politik der Einheitsparteien – nämlich nach klassischen Kriterien, wessen Interessen sich ausdrücken dürfen und wessen Interessen umgesetzt werden, wer Rechte hat und wer nicht – selbst bereits so weit "rechts" angesiedelt ist, dass die Verwendung dieses Begriffs "rechts" in der deutschen Gegenwart eigentlich schon völlig absurd ist. Das gilt nicht nur im Zusammenhang mit Panzerlieferungen, sondern auch im Umgang mit demokratischen Rechten für alle, mit der Meinungsfreiheit, bei der Verwischung der Grenze zwischen Wort und Tat im Rechtssystem und angesichts der weitgehenden Gleichschaltung der Medien.

Es hat schon einen besonderen Charme, wenn wie in der Berliner Zeitung vielerorts darauf hingewiesen wird, dass sich ein Landrat "mehr um Straßen, Schulen und die Abfallentsorgung kümmern sollte und weniger um Kriegsgeschehen, Grenzschutz oder Energiepolitik". Wenn man nur daran denkt, wie auf allen politischen Ebenen die "Solidarität mit der Ukraine" nicht nur gepredigt, sondern unter völliger Missachtung demokratischer und sonst dafür üblicher Regeln auch noch öffentliche Gebäude beflaggt wurden, als lebe man überhaupt nicht mehr in Deutschland, sondern irgendwo bei Lwow. Oder auch als anderes Beispiel, wie auf jeder politischen Ebene das Lied vom Klimaschutz gesungen wird. Auch das ist schließlich ein Grund für das grundlegende Unbehagen, dass nämlich die konkreten Alltagsprobleme von "Otto Normalverbraucher" in diesem Wertegewoge ohnehin keine Rolle spielen. Oder wie Außenministerin Annalena Baerbock das mal kurz und klar verständlich ausdrückte: "Es ist mir egal, was meine Wähler denken."

In einem anderen Artikel fasste die Berliner Zeitung das Dilemma sogar selbst zusammen: "Wer mit der Politik der Ampel und der sonstigen Opposition grundlegend unzufrieden ist, kann ihnen an der Wahlurne oder beim Anruf eines Umfrageinstituts nur so einen echten Denkzettel verpassen. Eine Stimme für die Union oder die Linken empört niemanden." Das hat im echten Leben schlicht damit zu tun, dass beide Fraktionen bei so vielen Fragen mittlerweile schlicht die gleiche Politik verfolgen wie diese "Ampel".

Aber was wird letztlich daraus folgern? Logisch: erst einmal wird der Lautsprecher noch weiter aufgedreht. Das zeigt sich schon daran, dass die Tagesschau sogleich Charlotte Knobloch in Stellung brachte, um die "Nazi, Nazi"-Version zu bekräftigen. Der Cicero-Kommentar von Mathias Brodkorb, des ehemaligen SPD-Finanzministers von Mecklenburg-Vorpommern, erklärt zumindest die bisherige Strategie für gescheitert und fordert "die Rückkehr zu einer der Demokratie angemessen politischen Kultur, die auf sachliche Argumente und überzeugende Politik setzt".

Man kann allerdings nie ausschließen, dass es geradezu beabsichtigt ist, möglichst alle Menschen, denen die gegenwärtig herrschende deutsche Politik schwer im Magen liegt, der AfD zuzutreiben. Die Linke hat sich schließlich auch ihr oppositionelles Potential in jahrelanger Arbeit austreiben lassen. Weder die bundesdeutsche Medienlandschaft noch die einzig "demokratischen" Parteien erwecken den Eindruck, als würden sie demnächst gern eine Wagenknecht-Partei begrüßen, ganz zu schweigen von der Bildung anderer politischer Strukturen, die ebenso den Kotau vor dem Mantra vom "russischen Angriffskrieg" unterlassen.

Überhaupt stelle man sich einmal die Konsequenzen vor, wenn im Deutschen Bundestag eine Verurteilung der regierungsoffiziellen Corona-Maßnahmen oder eine wohlbegründete Ablehnung der NATO-Politik als eine ganz normale, demokratisch legitimierte politische Sicht ausgesprochen werden dürfte. Darum handelt es sich nämlich in letzter Konsequenz, aber es sollte mit dem Teufel zugehen, wenn das jemals eingestanden würde. Deshalb kursiert ja auch bereits die andere Variante – die Idee zumindest wurde bereits lanciert, ausgerechnet von Bundesinnenministerin Nancy Faeser –, mit Hilfe eines AfD-Verbots auch noch das letzte Loch zu stopfen, durch das ein Stück Wirklichkeit in das Machtgefüge eindringen kann. Wie das Beispiel Moldawien zeigt, darf man den Versuch sogar gegen mögliche Mehrheitsparteien wagen.

Das wäre natürlich vom jetzt erreichten Punkt aus einfacher und auf den ersten Blick weit weniger anstrengend und gesichtswahrend, als mit einem Ende des bisherigen "Haß-und-Hetze-Nazi-Nazi"-Geschreis die Bundesrepublik wenigstens etwas zu redemokratisieren. Und ein Verbot kurzerhand würde jedes Risiko vermeiden, dass die Deutschen sich irgendwie doch noch zur Wehr setzen, während der "Große Bruder" ihnen weiterhin das Fell über die Ohren ziehen will und zieht. Diese Bundesregierung hat am Beispiel von Nord Stream klar gezeigt, dass sie sich nicht dem Wohl und Willen der Wähler hierzulande, sondern vor allem dessen Interessen verpflichtet fühlt.

Aber ganz so einfach ist das "leider" gar nicht. Das Parteiverbot, das in der Alt-Bundesrepublik im Jahre 1956 gegen die KPD ausgesprochen wurde, zielte vor allem darauf, die unliebsamen Stimmen gegen die Wiederbewaffnung der BRD einzuschüchtern. Und das Verbot war vor allem deshalb durchsetzbar, weil erst kurz zuvor noch unter den Nazis große Teile der linken Mitgliedschaft schlicht ermordet worden waren, und danach (trotz eines strikten innerparteilichen Verbots) weitere Teile mit dieser Gesinnung lieber in die DDR gingen, als sich der Verfolgung durch Adenauer auszusetzen. Eine Partei verbieten zu wollen, die in ähnlich grundlegenden Fragen wie der damaligen – dennoch von der Mehrheit der Bevölkerung abgelehnten – Wiederbewaffnung abweicht, aber nicht nur ein Fünftel der Wählerschaft anzieht und außerdem noch über geographisch zusammenhängende Hochburgen verfügt, ist nicht so einfach. Die Umsetzung würde wohl bereits an den Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden scheitern.

Nein, vermutlich wird man demnächst schlicht den Landkreis Sonneberg von der Landkarte jeglicher positiver Berichterstattung streichen, außer man kann dabei mit einer Runde "Nazi, Nazi"-Geschrei nachlegen. Und ansonsten wird weitergemacht wie bisher, mit der gleichen Arroganz, der gleichen Verachtung für den annektierten Teil Deutschlands und der gleichen NATO-Hörigkeit, dem "Großen Bruder" zuliebe. Währenddessen wird man den Rahmen des Sagbaren immer enger ziehen. Bei Bedarf zaubert man einen neuen Rollator-Putsch aus der Trickkiste und setzt darauf, einzelne Personen durch Rufmord unmöglich zu machen.

Aber ist eine Rückkehr zu halbwegs normalen demokratischen Verhältnissen denkbar? Das wird nicht passieren, denn dafür gibt es zu viele zentrale politische Projekte, die schlichtweg gegen die Interessen der Bevölkerungsmehrheit gerichtet sind: vom Krieg in der Ukraine über die Deindustrialisierung bis hin zu den Heizungsvorgaben. Diese Mehrheit dagegen darf sich nicht sammeln, nicht artikulieren und vor allem nicht durchsetzen.

Allerdings gibt es ja noch die Meloni-Variante: Einen Wahlkampf zu führen, der den Eindruck erweckt, man sei gegen EU und NATO, und dann – endlich an der Macht – auch dort wieder schlicht das Gegenteil tun. Das ist der Punkt, in dem der Blick aller Enttäuschten und aller Sympathisanten auf die AfD vor allem kritisch bleiben sollte. Mit dem Amt eines demokratisch gewählten Landrats in Thüringen hat das allerdings wirklich nichts zu tun.

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