Dokument journalistischer Niedertracht: Die "Welt" unterstellt Russland Inszenierung des Genozids
Von Wladislaw Sankin
Obwohl es etwas ungewöhnlich ist, gleich zu Beginn des Artikels den Disclaimer zusetzen, tue ich es dennoch lieber jetzt schon, noch bevor es zur Sache geht: An dieser Stelle wird keine Position, weder für noch gegen die These bezogen, dass die ukrainischen Verbrechen an der Zivilbevölkerung im Donbass ein Genozid waren. Diese politisch äußerst aufgeladene Diskussion lasse ich außer Acht, denn es geht mir allem voran um Fakten, deren Glaubwürdigkeit, und um die Feststellung des aktuellen Propaganda-Pegels in der hiesigen Ukraine-Berichterstattung.
Dieser Pegel steht in den deutschen Medien schon seit Langem hoch genug. Aber das NATO-Sprachrohr Die Welt schafft es immer wieder, die neuen "Höhen" der Realitätsferne und einfacher journalistischer Niedertracht zu besteigen, von den "Verdiensten" seiner boulevardesken Springer-Schwester Bild natürlich abgesehen. Wobei … sollte Niedertracht eigentlich in Höhen und nicht lieber in Tiefen gemessen werden?
Was ist geschehen? Vergangene Woche verkündete kein Geringerer als der Welt-Chefkorrespondent für Außenpolitik Clemens Wergin, dass er wohl die größte und folgenreichste Kreml-Lüge unserer Zeit entlarvt hat: Die ukrainischen Kriegsverbrechen an Zivilisten seien reine Inszenierung gewesen. Seinen am 18. Juli veröffentlichten Artikel hat er "Kreml-Propaganda: Schauspieler inszenierten die Mär vom ukrainischen Genozid im Donbass" betitelt.
Gleich zu Beginn des Artikels stellt Wergin klar, dass er die Erzählungen über einen seit dem Jahr 2014 anhaltenden ukrainischen "Genozid an ethnischen Russen im Donbass" für eine "immer wieder von Moskau wiederholte Propagandalüge" hält. Den "Genozid" – einen von der russischen Regierung tatsächlich formulierten Vorwurf – setzt er mit den "angeblichen Attacken der Ukrainer auf Zivilisten im Donbass" gleich. Nun stelle sich heraus, dass diese inszeniert wurden, frohlockt er.
Einen "Kronzeugen" für diese Behauptung findet er in einem anonymen ehemaligen Mitarbeiter des inzwischen aufgelösten "Troll- und Medienimperiums" von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin. Dass der zitierte Journalist anonym geblieben ist, verschweigt Wergin, setzt aber einen Link zur Quelle – einem Bericht des in Russland als ausländischer Agent eingestuften Nachrichtenportals Bumaga (Papier). Das bei der Welt wiedergegebene Zitat im Wortlaut:
"So sagte ein Journalist der Nachrichtenagentur RIA FAN über die Geschichten zu angeblichen ukrainischen Übergriffen auf Zivilisten im Donbass: 'Die meisten der Leute, die wir in solchen Geschichten als 'Opfer' der ukrainischen Streitkräfte porträtierten, waren Doubles, angeheuerte Individuen. Diese Schauspieler haben ihre vorher einstudierten Sätze immer wieder wiederholt und damit versucht, noch einige Tränen rauszudrücken.' Sie seien auch hinter den Kameras von Assistenten angewiesen worden, langsamer zu sprechen oder einen bestimmten Moment noch einmal zu wiederholen."
Diese "Erkenntnis", die im russischen Artikel an keiner Stelle überprüft wurde, soll der Ex-Mitarbeiter aus den Originaldateien der Videointerviews gewonnen haben. Ein kaum bemerkbarer Übersetzungsfehler deutet dabei auf Manipulation hin. Die Anweisungen zur Ausdruckskraft der Aussagen kamen nicht von Assistenten (im Plural!), sondern von einem Kameramann (im Originaltext "оператор").
Dieser kleine Unterschied ändert jedoch die ganze dargestellte Szenerie auf grundsätzliche Weise. Das Vorhandensein der Assistenten setzt auch Regisseure und damit auch größere Dreh-Sets voraus. Das ermöglicht Wergin von "gekauften und gecoachten Schauspielern" und systematischer Inszenierung zu sprechen. Doch der Mitarbeiter redet lediglich von einem Kameramann.
Ich weiß aus eigener Erfahrung der zahlreichen Reportagen aus dem Krisengebiet, dass man oft wenig Zeit und Leute für einen Dreh hat. Oft sind es die sogenannten Stringer, die als Erste vor Ort sind und Videoaufnahmen der zerbombten Häuser und Opfer oder Augenzeugen des Beschusses liefern. Sie sind in der Regel Fahrer, Kameraleute und Autoren der Berichte in einer Person. Und diese Menschen wie alle anderen brauchen Geld zum Leben und für Transport und Kameraausrüstung. Deshalb sorgen auch sie für die Verwertbarkeit der Aufnahmen – sonst werden sie ihnen nicht abgekauft.
Die Protagonisten ihrer Berichte können im Stresszustand verwirrt sein und undeutliche Aussagen tätigen und es kann durchaus sein, dass die Person hinter der Kamera sie darum bittet, das bereits Gesagte noch einmal besser zum Ausdruck zu bringen. Es ist deshalb sehr gut möglich, dass der zitierte anonyme "Kronzeuge" des Welt-Chefkorrespondenten diese Situationen als Inszenierung missinterpretiert hat. Der Ex-Mitarbeiter könnte auch eine proukrainische Einstellung haben und vorsätzlich lügen, um Russlands Image zu schädigen. Schließlich wurden im russischen Artikel zwei Prigoschin-Mitarbeiter erwähnt, die heimlich proukrainische Telegram-Kanäle leiteten.
Diese Möglichkeit schließt der Welt-Korrespondent von vornherein komplett aus. Für ihn ist jede Äußerung, die sein Weltbild stützen könnte, die Wahrheit der letzten Stunde. Ihm ist es egal, dass im Originalbericht von "Bumaga" keine weiteren Details zum angeblichen Schauspiel genannt werden – wer, wann, in welchem Video, worüber gelogen haben soll. Ohne diese Hinweise ist die Aussage allerdings völlig wertlos. An Zeichenzahl gemessen, nimmt das Zitat kaum mehr als zwei Prozent Platz des Textes ein und wird nur beiläufig erwähnt. Offenbar stellt es selbst für proukrainisches Medium, was Bumaga zweifellos ist (Mariupol sei von Russland okkupiert und zerbombt), nichts Verwertbares dar.
Der Artikel von Bumaga wurde am 5. Juli veröffentlicht, vom befreundeten Meduza am nächsten Tag zweitverwertet und von ein paar propagandistischen Telegram-Kanälen in russischer Sprache zitiert – bis er knapp zwei Wochen später von der Welt "entdeckt" und beinahe als Enthüllung des Jahrhunderts hoch posaunt wird.
Lassen wir die moralische Komponente einer vor solch frecher Manipulation und Hass strotzenden Sprache des Welt-Korrespondenten erst mal außer Acht und widmen einige Zeilen den Grundsätzen des journalistischen Handwerks, die der Artikel gänzlich vermissen lässt – eigene Recherche und Quellenkritik. Es muss für einen "Chef"-Korrespondenten ziemlich beschämend sein, dass es die Leser sind, die ihn in der Kommentarspalte zahlreich daran erinnern:
"Eigenartig, Prigoschinleute sind jetzt plötzlich glaubhafte Zeugen?"
"Wie wäre es mit einer sauberen Recherche?"
"Wer garantiert denn, dass diese Mitarbeiter jetzt (auf einmal) die Wahrheit sagen?"
Dass der Chef der "brutalen" Söldner-Gruppe Prigoschin, Kreml-Scherge mit krimineller Vergangenheit, Putins Mann fürs Grobe, antiukrainischer Hardliner (alles Welt-Zitate) von Wergin plötzlich als ernstzunehmender Querverweis und weiteres Beleg für seine These zitiert wird, ist den kritischen Lesern natürlich nicht entgangen.
Prigoschin, der Meuterer und Fast-Putschist mit klaren politischen Ambitionen, habe ihm zufolge kurz vor dem 24. Februar 2022 "nichts Außergewöhnliches" von der ukrainischen Seite und keine Aggressionen feststellen können. An dieser Stelle muss natürlich dem zwielichtigen Söldnerchef und Medienmogul geglaubt werden! Es macht ja nichts, dass im russischen "Bumaga"-Artikel fast die ganze Zeit über seine Einflussnahmen auf die Berichterstattung seiner Medien die Rede ist. Das kann und muss der deutsche Leser wegen seiner fehlenden Russischkenntnisse ja nicht wissen, er kauft ihm die vorgekauten Infos ja auch so ab. Zahlreiche Hasskommentare gegen Russland sind dafür ein Beleg:
"Kaum zu glauben; da hat Putin ja den 'Master der Propaganda' Joseph Goebbels übertroffen."
"Hoffentlich lesen dies alle 'Freunde von Russland'. So peinlich!"
"Russen sind genetisch nicht in der Lage, die Wahrheit zu sagen."
"Vielen Dank für diesen Artikel!!! Wunderbare Argumentationshilfe gegen die Putinetten"
"Wann bitte, wann werden die UNO-Gremien reformiert und dieser Mafia-Staat dort entfernt?"
Insgesamt haben mehr als 600 Leser ihre Kommentare unter dem Artikel gelassen und die Welt-Redaktion nimmt sie sehr ernst, indem sie das Leser-Lob mit einer persönlichen Würdigung erwidert. Viele, zu viele fühlen sich durch die Welt-Informationen bestätigt, viele nutzen sie, um gegen die "Friedensschwurbler" von der AfD oder die Linken auszuteilen oder Putin eine neue "Gleiwitz-Lüge" zu unterstellen. Da sieht man, wohin der politische Auftrag des Artikels führt. Die unsichtbare, aber undurchlässige Wand gegen die Wirklichkeit wird in Deutschland mit diesem Artikel um einen Tick dicker.
Denn in Wirklichkeit gibt es den systematischen, tagtäglichen ukrainischen Artillerieterror gegen die Zivilisten, was ich aus eigener journalistischer Erfahrung bestätigen kann und jeder, der ihn als Inszenierung ins Lächerliche zieht, ist ein vorsätzlicher Berufslügner und Schreibtischtäter. Da diese Lüge auch der deutschen politischen Führung eine Bestätigung für ihr äußerst gefährliches und geschichtsvergessenes Handeln in der Ukraine-Krise liefert, kann sie schließlich den Staat und das Volk letztlich sehr teuer zu stehen kommen.
Dieser Artikel zeigt auch, wie moralisch verkommen und niederträchtig die journalistische "Elite" in diesem Land geworden ist. Denn kein einfacher ahnungsloser Schreiberling hat diese menschenverachtende Fake-Nachricht in die Welt gesetzt, sondern ein "Chef"-Korrespondent höchstpersönlich.
Nur ein Schock könnte ihn und seinesgleichen vielleicht aus dieser selbstgefälligen Starre hinausführen. Ein Schock, vergleichbar mit jenem, den die deutschen Zivilisten der NS-Zeit bei den Zwangsführungen in die KZs kurz nach deren Befreiung erleben mussten. Machen wir hier und jetzt so eine Führung.
Wergin würde ich beispielsweise vorschlagen, jene makabre "Mosfilm-Requisite" zu besichtigen, die ich mit meiner Handykamera am 7. Dezember in Donezk dokumentiert habe. Es geht um die gefrorenen Gehirnteile, die auf dem Asphalt vor dem Eingang zum Haus der Jugend auf der Artjom Straße zerstreut waren. Sie gehörten der humanitären Helferin und Donezker Abgeordneten Maria Pirogowa, die von der ukrainischen Rakete am vorherigen Tag zusammen mit dem Besitzer eines Ton-Studios zerfetzt wurde. Auch könnte er die Schauspielkunst der Freundinnen von Maria bewerten, die ihre Tränen unterdrückend vor unserer Kamera erzählten, wie sehr sie die Verstorbene vermissen.
Eine weitere "Requisite" könnten die verschütteten Familienreliquien und Habseligkeiten in den zerstörten Wohnungen am Schewtschenko-Boulevard und der Straße 50 Jahre KPdSU bilden. Diese hielten die wie durch ein Wunder am Leben gebliebenen Einwohner vor unserer Kamera in den Händen. Inwieweit ihre Gesichter Wut, Trauer und Hilflosigkeit in diesem kurzen Augenblick äußern konnten, könnte der Welt-Experte für Schauspielkunst gleich mitbewerten.
In all diesen Fällen kamen die Geschosse nachweislich von den Positionen der ukrainischen Armee nördlich und westlich der Stadt angeflogen, was den Leugnern ukrainischer Verbrechen auch das letzte Argument aus der Hand schlagen würde, die Russen würden nur sich selbst beschießen, um die Ukraine zu beschuldigen.
Aber die Vorstellung, derlei Kenntnisnahmen über die wahren Zustände des Krieges könnten bei Propagandisten einen seelischen Wandel hervorrufen, ist eine Illusion. Weglin und seine "Leser-Gemeinde", oder besser, Glaubensgemeinschaft sind Fanatiker und sie haben sich in ihrem Welt-Bild womöglich für die Dauer bis zum Ende ihrer Tage eingerichtet. Sonst würde dieser "Autor" seine Texte nicht so mit Lügen vollstopfen, wie er es im besagten Artikel getan hat. Denn schließlich hat jeder das Recht auf Fehler und Missinterpretation.
Weglins Fake News sind es aber nicht. Der Welt-Korrespondent lügt ständig und systematisch. Sonst würde er nicht noch einmal die angebliche Geschichte über drei (in Wirklichkeit nur einen Jungen) "gekreuzigten Kindern" in die Welt setzen. Ihm zufolge stellt sie "weiterhin einen Grundpfeiler der Kreml-Propaganda im In- und Ausland" dar.
Das ist aber falsch, denn die Erzählung einer verwirrten Frau über die angebliche Kreuzigung eines Jungen durch ukrainische Nationalisten im Juli 2014 in der Stadt Slawjansk hat der russische Erste Kanal fünf Monaten später als ungeprüfte Falschnachricht in einer Nachrichtensendung zu Prime-Time dementiert. Weder russische staatliche Medien noch offizielle Personen haben diese Geschichte je als Argument im Informationskrieg benutzt – weder vor noch nach dem Dementi. Nicht nur, weil die Geschichte falsch war. Es gab leider genügend andere Geschichten über getötete Kinder des Donbass, deren Zahl seit langem im dreistelligen Bereich liegt.
Die Propaganda der Welt und ihrer gleichen Medien ist dreist und menschenfeindlich. Sie lehrt auf das menschliche Leid mit Häme und Zynismus zu reagieren. Sie ist auch rassistisch, denn sie teilt die Welt auf unfehlbar-edle "Unsere" und lächerlich-peinliche "Fremde", die entweder aus niederen Motiven handeln oder einfach nur zu dumm sind, um zu erkennen, dass sie den falschen Werten hinterherrennen. Zudem ist sie penetrant und alternativlos.
Was bleibt aber denjenigen Medienkonsumenten, die sich im Hagel der gleichlautenden Meldungen immer noch keiner Glaubensgemeinschaft anschließen möchten? Weiterhin gesunden Menschenverstand und das Recht auf "Unglaube" bewahren. "Ich bin inzwischen in der glücklichen Lage, dass ich keiner Seite mehr glaube", schreibt schließlich der Leser Felix D. und erntet gleich 175 zustimmende Klicks. Seine Anmerkung unter dem Artikel bleibt bislang der meistgelikte Kommentar. Die einzig erfreuliche Nachricht in diesem Propaganda-Trauerspiel.
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Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.