Was wollte Kissinger in Peking?
Von Rainer Rupp
Letzte Woche, am Donnerstag, dem 20. Juli, ist der hochbetagte ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger in China eingetroffen und es ging sofort zur Sache. Nach einem Treffen mit dem chinesischen Verteidigungsminister Li Shangfu und dem Topdiplomat Wang Yi hat er sich mit Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping zusammengesetzt. Bei diesem Besuch spielt auch bei seinen chinesischen Gastgebern etwas Nostalgie mit, denn untergebracht war Kissinger im Staatsgästehaus Diaoyutai in Peking, am selben Ort, an dem Kissinger vor über 50 Jahren Zhou Enlai getroffen hatte.
Seit Nixon 1972 die Tür zu den chinesisch-amerikanischen Beziehungen wieder geöffnet hat, haben beide Länder die Früchte einer für beide Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit in vielen Bereichen genossen. Es war natürlich nicht alles einfach. Die USA beschuldigten China, geistiges Eigentum verletzt zu haben, und China beschuldigte die USA, sich in Chinas innere Angelegenheiten (Platz des Himmlischen Friedens, Tibet, Xinjiang, Taiwan, Hongkong) eingemischt zu haben. Manchmal wurde der Krieg der Worte heiß, aber keine der Parteien zeigte einen wirklichen Appetit, ihre gegenseitig vorteilhaften wirtschaftlichen Beziehungen zu beschädigen. Das ging so lange gut, bis die Anti-China-Lobby in den USA begann, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas als Bedrohung für die Hegemonie Washingtons darzustellen, obwohl es die herrschenden US-Eliten selbst sind, die den Niedergang der USA und den Verlust ihrer globalen Macht zu verantworten haben.
Rückblickend lässt sich sagen, dass die chinesisch-amerikanischen Beziehungen schon immer von zentrifugalen Kräften auseinander- und zugleich von gegensätzlichen Kräften zusammengezogen wurden.
Hinter diesen Kräften stehen unterschiedliche Interessengruppen aus Wirtschaft und Politik. Henry Kissinger, der 2008 das "Kissinger Institute on China and the United States" gründete, hat fast 100 Besuche in China unternommen, aber die Entscheidung, diese Reise in einem so fortgeschrittenen Alter von 100 Jahren anzutreten, zeigt, wie besorgt er über den Zustand der chinesisch-amerikanischen Beziehungen sein muss. Kissingers selbst gestellte Aufgabe, um Verständnis und Geduld für die Haltung in Washington zu werben, ist schwierig genug, denn in dem Land USA ist der politische Realismus an den Rand gedrängt und durch Wunschdenken ersetzt worden.
Aber was motiviert diesen hundertjährigen Mann, noch in seinem Alter eine so lange Reise nach China anzutreten? In Anbetracht der Tatsache, dass Kissinger Friedensnobelpreisträger ist, werden viele Leser womöglich schließen, dass der greise Mann sich um den Frieden sorgt und aus humanitären Gründen wieder nach Peking gekommen ist. Aber Friedensnobelpreise haben immer weniger mit Frieden zu tun, wie die Verleihung an US-Präsident Barak Obama gezeigt hat. Zur Erinnerung: Obama hat in seiner Amtszeit sieben Kriege fortgeführt oder neu begonnen.
Auch der ausgemachte US-Machtpolitiker Kissinger hatte zeit seines Lebens mit Humanität und Rettung von Menschenleben nichts im Sinn. Im Gegenteil, um seine politischen Ziele zu erreichen, ging er buchstäblich über Hunderttausende Leichen. Nicht umsonst gilt Kissinger als einer der größten, wenn nicht sogar der größte Kriegsverbrecher der USA nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges.
(Die atomare Vernichtung der Zivilbevölkerung der zwei japanischen Großstädte Hiroshima und Nagasaki, die keine militärische Bedeutung hatten, und die nur zu Zwecken der Machtdemonstration durchgeführt wurde, war zweifelsfrei das größte US-Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkrieges.)
Aber selbst an die Zahl der Toten der beiden US-Atomwaffeneinsätze kommt der Schreibtischtäter Kissinger leicht heran oder übertrifft sie sogar, wenn man seine wichtigsten Kriegsverbrechen zusammenzählt. Hier seien nur einige kurz in Erinnerung gerufen:
Kambodscha: Anfang 1969, kurz nachdem Nixon ins Weiße Haus eingezogen war und den Vietnamkrieg geerbt hatte, wurde unter der Federführung seines Nationalen Sicherheitsberaters Kissinger ein neuer Plan für den Endsieg der USA in Südvietnam geschmiedet. Dazu wurde das Territorium des neutralen Staates Kambodscha heimlich massiv bombardiert. Verborgen vor der westlichen Öffentlichkeit sollten damit die Nachschubwege für die südvietnamesische Befreiungsfront zerstört werden.
Obwohl die Vereinigten Staaten sich nicht im Krieg mit Kambodscha befanden und auch der US-Kongress die Teppichbombardierung des Landes nicht genehmigt hatte, warf das US-Militär im Rahmen der völkerrechtswidrigen "Operation Breakfast" 540.000 Tonnen Bomben auf Kambodscha ab. Die haben nicht nur feindliche Außenposten getroffen, sondern westlichen Schätzungen zufolge wurden dabei zwischen 150.000 und 500.000 unbeteiligte kambodschanische Zivilisten getöteten.
Für die in Kambodscha begangenen Kriegsverbrechen und für den Massenmord an der kambodschanischen Bevölkerung ist der Schreibtischtäter Kissinger als Hauptschuldiger nie zur Verantwortung gezogen worden. Das war übrigens kein Hinderungsgrund, ihm später den Friedensnobelpreis zu verleihen.
Bangladesch: 1970 gewann in Ostpakistan, im heutigen Bangladesch, eine politische Partei die Parlamentswahlen, die sich für die Autonomie des hauptsächlich von Hindus bewohnten Landes einsetzte. Der pakistanische Militärdiktator General Agha Muhammad Yahya Khan verhaftete den Führer dieser Partei und befahl seiner Armee, die Bengalen zu vernichten. Damals war General Yahya ein Verbündeter der USA und ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt half er Kissinger und Nixon, die US-Beziehungen zu China nach Jahrzehnten der Pause wieder aufzubauen. Deshalb wollten die Amerikaner dem General Yahya bezüglich der Vernichtung der Opposition in Ostpakistan/Bangladesch nicht im Weg stehen.
Allerdings hatte der oberste US-Diplomat in Ostpakistan bereits ein Telegramm nach Washington gesandt, in dem er die von Yahyas Truppen begangenen Gräueltaten detailliert beschrieben hatte. Weiter hieß es in dem Telegramm, dass General Yahya und seine fast gänzlich mit US-Waffen ausgerüstete Armee in Ostpakistan "Völkermord" begingen. Nixon und Kissinger lehnten es jedoch ab, Yahya zu kritisieren oder Maßnahmen zu ergreifen, um den barbarischen Angriff zu beenden.
Dabei hätten die Amerikaner dem General leicht verbieten können, US-Waffen zum Abschlachten der Bengalen zu benutzen, was Yahyas Armee gelähmt hätte. Indem Kissinger und Nixon jedoch das wahllose Morden in Ostpakistan ignoriert, und damit stillschweigend gebilligt hatten, haben sie sich zumindest der Beihilfe zu Pakistans völkermörderischem Abschlachten von 300.000 zumeist hinduistischen Bengalen schuldig gemacht.
Chile: Nixon und Kissinger planten heimlich, die demokratische Wahl des sozialistischen Präsidenten Salvador Allende im Jahr 1970 zu vereiteln. Kissinger leitete und überwachte die geheimen Operationen, die darauf abzielten, Chile zu destabilisieren und einen Militärputsch auszulösen. Als Teil der Putsch-Vorbereitungen wurde der chilenische Oberbefehlshaber der Armee ermordet, und bei der Durchführung des blutigen Militärputsches wurde der demokratisch gewählte Präsident Allende getötet. Eine Militärjunta unter der Führung des faschistischen Generals Augusto Pinochet ergriff die Macht, tötete Tausende Chilenen und errichtete eine Diktatur. Nach dem Putsch erhielt der chilenische Tyrann und Neo-Nazi-Killer Pinochet vollumfängliche Unterstützung von Kissinger.
Osttimor: Das ist ein weiteres Beispiel für Kissingers "Beihilfe" zu einem anderen Völkermord. Nach der Unabhängigkeitserklärung Timors von Portugal im Jahr 1975 gab US-Präsident Gerald Ford auf Anraten seines damaligen Außenministers Henry Kissingers dem durch einen Militärputsch mit US-Unterstützung an die Macht gekommenen indonesischen Diktator Suharto bei einem Treffen in Jakarta grünes Licht für die Invasion der Insel Osttimor. Dabei ging es darum, dort die Wahl einer links-orientierten Regierung zu verhindern. Dank des "grünes Lichts" von Kissinger forderte die brutale Invasion in Osttimor 200.000 Tote, fast ausschließlich in der Zivilbevölkerung.
Argentinien: Im März 1976 stürzte eine neofaschistische Militärjunta Präsidentin Isabel Peron und startete den sogenannten "Schmutzigen Krieg". Die Militärjunta folterte, tötete oder ließ auf andere Art ihre politischen Gegner verschwinden. Die Opfer wurden allesamt als Terroristen gebrandmarkt. Auch zu dieser Kampagne des Terrors und des Mordens, die schätzungsweise 30.000 argentinischen Zivilisten das Leben gekostet hat, hatte niemand anders als der hochverehrte, "ältere Staatsmann" Henry Kissinger das "grüne Licht" gegeben.
Hat es in den Jahrzehnten seines mörderischen Wirkens irgendwelche negativen Folgen für Kissinger gegeben? Nein! Weder ist er je juristisch zur Rechenschaft gezogen worden, noch haben westliche Mainstream Medien aufgehört, ihn zu bewundern und bis heute als diplomatischen und sicherheitspolitischen Überflieger zu feiern.
Wenn die Führung der Volksrepublik China heute Henry Kissinger als weisen alten Staatsmann feiert, dann nicht wegen seiner Kriegsverbrechen, sondern weil er der Architekt der diplomatischen Wiederannäherung der USA an China und der wirtschaftlichen Öffnung zum gegenseitigen Vorteil ist. Im Rahmen der neoliberalen Globalisierung hat diese Politik der US-Öffnung zu China den US-Wirtschaftseliten – im Gegenteil zur Masse der US-Arbeiter – ungeahnte Profite gebracht und auf der anderen Seite China auf die Schienen in Richtung einer modernen, technologischen Gesellschaft gesetzt. Inzwischen steht China gleichberechtigt neben der einzigen anderen wirtschaftlichen Supermacht, während es zugleich auf dem Weg zu einer militärischen Supermacht ist, neben Russland und den USA.
Aber diese Entwicklung hatte Kissinger vor 50 Jahren sicherlich nicht im Sinn, als er sich mit Erfolg darum bemühte, nach der jahrzehntelangen Eiszeit zwischen USA und China die Beziehungen zu verbessern. Vielmehr handelte Kissinger damals nach dem Grundsatz, dass der Feind meines Feindes mein Freund oder zumindest mein Verbündeter sein sollte. Der Feind in diesem konkreten Fall war die Sowjetunion, mit der auch die VR China zu dieser Zeit alles andere als freundschaftliche Beziehungen unterhielt.
Natürlich verstand auch die chinesische Führung, dass es nicht Kissingers Bewunderung der chinesischen Kultur und Traditionen war, die ihn zu seiner China-freundlichen Politik motivierte. Tatsächlich beugte China diesbezüglich eventuellen Missverständnissen vor, indem es die amerikanische Seite wissen ließ, dass Peking Washington "nicht erlauben wird, sich auf die Schultern Chinas zu stellen, um Moskau auf den Kopf zu schlagen".
Dennoch kam es gegen Ende der 1970er-Jahre bereits zu einer militärischen Annäherung zwischen China und den USA, die von der Öffentlichkeit und den eigenen West-Politikern total geheim gehalten wurde. Dies hatte ich bei einem meiner offiziellen Besuche im Pentagon in Washington – diesmal zum Thema China – erfahren. Der Besuch war von der US-NATO-Botschaft für mich als Mitarbeiter der "Politischen Abteilung" im NATO-Hauptquartier in Brüssel vorbereitete worden. Damit standen die Türen für mich offen.
So erfuhr ich 1982 von einem US-Oberst in der besonders gesicherten und geheimen Abteilung "Net-Assessments", dass die USA bereits eine Reihe von sogenannten "defensiven Waffen" für den Landkrieg, u. a. moderne Panzerabwehrraketen an China geliefert hatten und weitere Lieferungen vorgesehen waren. Nach etlichem Winden und Zögern und einem erneuten Anrufen meines Gegenübers im Rang eines Obersten bei seinem Vorgesetzten, ob meine Geheimhaltungsstufe auch ausreichte für die hochsensiblen Informationen, die ich von ihm wollte, erfuhr ich dann u. a., dass die USA und China gemeinsam eine von den USA technisch ausgerüstete, hochmoderne Abhörstation in der Inneren Mongolei in der Nähe zur sowjetischen Grenze betrieben.
Heute sind diese Ansätze einer antisowjetischen, militärischen US-chinesischen Kooperation längst Geschichte und durch eine tiefgreifende, strategische Partnerschaft zwischen Russland und China, auch auf militärischen und militärtechnischen Gebieten ersetzt und um Meilen überholt worden.
Vor dem Hintergrund der neu ausgebrochenen Eiszeit zwischen Washington und China hatte Kissinger sicherlich keine Neuauflage der US-chinesischen militärischen Zusammenarbeit von vor 40 Jahren im Sinn. Das "Ei" ist zerbrochen und kann von niemandem mehr zusammengesetzt werden. Was also hat den hundertjährigen Kissinger nochmals zu einem privaten Besuch in Peking getrieben?
Leider gibt es keine Interviews oder öffentlichen Erklärungen im Umfeld des Kissinger-Besuchs, die uns weiterhelfen könnten. Um uns dieser Frage anzunähern, sollten wir uns zuerst daran erinnern, dass Kissinger nie ein idealistischer Tagträumer war, sondern ein knallharter Realist, der stets den strategischen Vorteil der USA zum Erhalt ihres hegemonialen Status als unersetzliche Supermacht verfolgt hat und dafür – wie wir gesehen haben – über Leichen gegangen ist. Zugleich versuchte Kissinger in Anlehnungen an Gleichgewichtsstrategen vergangener Jahrhunderte stets die Kräfte auszubalancieren, wie er es im Dreieck Sowjetunion, China, USA zugunsten Washingtons getan hat.
Wenn früher aus US-Sicht die Sowjetunion der Hauptgegner der USA war, so ist das inzwischen China. Ein Verschwinden Russlands von der politischen Landkarte hätte daher langfristig negative Folgen für die USA, die sich eigentlich bemühen müssten, ein intaktes Russland auf ihre Seite zu ziehen. So lässt sich ein Kommentar von Kissinger vom 25. Juni dieses Jahres interpretieren.
Demnach kann der Westen nicht wirklich von einem Zusammenbruch Russlands profitieren, denn der würde "die Welt in Schutt und Asche legen", und letztlich würde die Welt auch aus der Sicht der Washingtoner Falken dadurch "ein weit weniger sicherer Ort werden". "Sie", die Kriegstreiber-Clique um Präsident Biden, verkauften der Öffentlichkeit hehre moralische Ziele, obwohl sie genau wissen, wie das alles hinter den Kulissen enden wird.
Beim "Ukraine-Projekt" gehe es eigentlich nur darum, "Russland an die Leine zu legen und auf den Status eines drittklassigen Staates zu reduzieren, wohl wissend, dass sie es sich nicht leisten können, Russland zu zerstören", so Kissinger. Der Westen verfolge in sich widersprüchliche Ziele. Er wolle ein entwaffnetes Russland und könne zugleich seine totale Zerstörung nicht akzeptieren. Andererseits könne der Westen auch das Ukraine-Projekt nicht aufgeben, da er bereits so viel darin investiert hat, und ein Rückzug würde einen Gesichtsverlust bedeuten, der den Kriegstreibern die Karriere kosten würde.
All das beantwortet immer noch nicht die Frage, was Kissinger in Peking wollte. Vielleicht war es einfach nur Nostalgie, vermischt mit der Sorge um sein politisches Vermächtnis, nämlich der guten sino-amerikanischen Zusammenarbeit. Die könnte endgültig abgeschrieben werden, wenn China seinem strategischen Partner Russland bei Bedarf unter die Arme greifen würde. Damit es erst gar nicht so weit kommt, müssten alsbald ernsthafte Verhandlungen zur Ukraine zwischen den USA und Russland stattfinden. Vielleicht war das der Zweck von Kissingers Besuch, nämlich die Chinesen als Vermittler in dieser Sache zu engagieren.
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