Russen zogen ab, US-Militär blieb: Wie die Regierung Kohl die Souveränität verschenkte
Von Dagmar Henn
Im National Security Archive der George-Washington-Universität findet sich ein interessantes Dokument. Es handelt sich um das Protokoll eines Gesprächs zwischen dem damaligen US-Außenminister James Baker und Michael Gorbatschow am 9. Februar 1990. Zu diesem Zeitpunkt steht gerade einmal der Wahltermin in der DDR fest, und die Frage, ob und wie die beiden deutschen Staaten zusammengeschlossen werden, ist noch Gegenstand der Verhandlung. Das Konzept der 2+4-Gespräche wird gerade erst entwickelt.
Dieses Dokument wurde das erste Mal 1996 in Russland veröffentlicht, 2010 auf Englisch in einem Dokumentenband. Das National Security Archive begann Mitte der 1980er als unabhängige Initiative zur Veröffentlichung von Dokumenten, die durch das Informationsfreiheitsgesetz freigegeben werden mussten, und ist seit 1995 an die George-Washington-Universität angegliedert. Inzwischen sind große Teile des Archivbestands online.
Die Entwicklung Ende 1990, als die US-Regierung jeden Schritt zur ökonomischen Stabilisierung der Sowjetunion verweigerte, war zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbar. Im Gegenteil; im Laufe des Gesprächs sagt Baker explizit:
"Ich möchte sehr, dass Sie wissen, dass weder der Präsident noch ich beabsichtigen, aus dem Prozess, der stattfindet, irgendeinen einseitigen Vorteil zu ziehen."
Und er erwähnt:
"Ehe ein neues Preissystem eingeführt wird, ist es nötig, einen sozialen Schutzmechanismus zu schaffen, der die Interessen der ärmsten Teile der Gesellschaft sichert."
Also entweder Baker hat bereits damals, im Februar 1990, Gorbatschow gezielt belogen, oder die Strategie der US-Regierung änderte sich im Verlauf des folgenden Jahres komplett. Denn Baker erwähnt selbst in diesem Gespräch die problematischen Punkte, mit denen es die Sowjetunion bei einem Wechsel des Wirtschaftssystems zu tun bekommen würde, und befürwortet die Einführung goldgedeckter Schatzbriefe vor einer Änderung der Preisermittlung. Denn "andernfalls riskieren Sie, sich einer Inflation von 1.000 Prozent gegenüber zu finden." Wie Jeffrey Sachs berichtet, wurde dann sowohl im Frühjahr als auch im Herbst 1991 jegliche Unterstützung bei der Stabilisierung der sowjetischen Währung abgelehnt.
Aber zurück zur deutschen Entwicklung. Baker schildert die aktuelle Situation:
"Am 18. März wird das Volk der DDR wählen. Die überwiegende Mehrheit wird für Vereinigung sein, und sie werden eine Führung wählen, die die Idee einer deutschen Einigung unterstützt. Schon bald werden die beiden deutschen Staaten Diskussionen über die inneren Aspekte der Einigung beginnen, Fragen wie die Einigung von Regierung, Parlamenten, gemeinsamem Kapital, gemeinsame Währung, eine Wirtschaftsunion. All das passiert de facto."
Er erwähnt, dass die deutschen Nachbarn beteiligt werden müssten, wenn es um die nach außen wirkenden Aspekte geht. Und dann kommt ein sehr interessanter Abschnitt:
"Wir sprechen uns tatsächlich nicht dafür aus, dass Deutschland neutral ist. Die Westdeutschen haben uns ebenfalls gesagt, dass sie eine solche Entscheidung nicht befriedigend fänden. Ich möchte gern erklären, warum.
Wenn Deutschland neutral ist, heißt das nicht, dass es nicht militaristisch ist. Ganz im Gegenteil, es könnte sehr wohl beschließen, sein eigenes Nuklearpotenzial zu schaffen, statt sich auf die amerikanische Nuklearabschreckung zu verlassen. All unsere westeuropäischen Verbündeten und eine Reihe osteuropäischer Länder haben uns wissen lassen, dass es ihnen gefiele, wenn die Vereinigten Staaten ihre militärische Präsenz in Europa beibehielten. Ich weiß nicht, ob Sie eine solche Möglichkeit unterstützen. Aber ich möchte Ihnen zusichern, dass wir unsere Truppen nach Hause holen, sobald unsere Verbündeten uns sagen, dass sie gegen unsere Anwesenheit sind."
Der damalige sowjetische Außenminister Eduard Schewardnadse wandte ein: "Ich weiß nichts über Ihre anderen Alliierten, aber ein vereinigtes Deutschland könnte das fordern."
Darauf erwiderte Baker: "Wenn das passiert, kehren unsere Truppen heim. Wir werden jedes Land verlassen, das unsere Anwesenheit nicht wünscht. (…) Wenn die gegenwärtige westdeutsche Führung jedoch an der Spitze eines vereinten Deutschland steht, dann, das haben sie uns gesagt, werden sie gegen unseren Rückzug sein."
Die NATO sei weiter erforderlich, weil ohne sie kein Grund bestehe, US-Truppen in Europa zu halten. Und jetzt die entscheidenden Sätze:
"Wir verstehen, dass es nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für andere europäische Länder wichtig ist, Garantien zu haben, dass sich, wenn die Vereinigten Staaten ihre Gegenwart in Deutschland im Rahmen der NATO aufrechterhalten, die augenblickliche militärische Zuständigkeit der NATO nicht um einen Zoll gen Osten erweitert wird."
Dieses Dokument belegt einige zentrale Punkte, die bisher unklar waren, deren Verknüpfung aber zu vermuten war. Zum einen: Die Regierung Kohl beabsichtigte bereits im Februar 1990, eine Verfassungsdebatte, die nach dem Grundgesetz erforderlich gewesen wäre, zu vermeiden, weil diese Verfassungsdebatte zu einer deutschen Neutralität geführt hätte. Mehr noch, sie legte Wert darauf, US-Truppen in Deutschland zu halten.
Der wirklich knifflige Punkt daran ist die Verknüpfung der Anwesenheit dieser US-Truppen in Deutschland mit der Zusage, die NATO nicht nach Osten zu erweitern. Daraus lässt sich schließen, dass diese Zusage die Voraussetzung dafür war, dass die sowjetischen Truppen aus Deutschland abgezogen wurden, obwohl die US-amerikanischen blieben (wenn auch in verringerter Zahl).
Die sowjetische Armee ist damals freiwillig abgezogen, was bedeutet, dass dieser Abzug nicht in einer Form erfolgte, die vertraglich verbindlich ist. Rechtlich können nicht die Ansprüche einer Besatzungsmacht gewahrt bleiben, wenn die einer anderen aufgehoben sind. Das könnte auch bedeuten, dass der Rechtsnachfolger der Sowjetunion, in diesem Fall die Russische Föderation, angesichts der Tatsache, dass die Vereinbarung bezüglich der NATO-Osterweiterung gebrochen wurde, einen Anspruch auf die alten Besatzungsrechte hat. Ein Gedanke, der durch den Beleg dieser Verknüpfung möglich wird.
Und mehr noch. Der Verdacht, dass die Bewegung der Antideutschen eine US-Erfindung ist, beruht bisher vor allem auf der Beobachtung, in welche Richtung sie die politische Entwicklung in Deutschland beeinflusst haben. Ja, man könnte sagen, dass die Bedenken, die Baker äußert, nicht ganz unbegründet waren, vor allem, wenn man sich an das deutsche Verhalten in der Euro-Krise erinnert.
"Wenn Deutschland neutral ist, heißt das nicht, dass es nicht militaristisch ist."
Die technischen Voraussetzungen für das Streben nach eigenen Atomwaffen waren tatsächlich vorhanden, und das Thema findet sich immer wieder in der Politik der 1970er Jahre.
Aber hätte das wirklich so geendet, hätte es eine Verfassungsdebatte gegeben? Klar ist: Die feindliche Übernahme wäre in der Weise, wie sie stattgefunden hat, nicht möglich gewesen, weil diese Debatte auch die Bevölkerung im Westen politisch aktiviert hätte. Die Regierung Helmut Kohl hatte offenkundig einen Plan, bei dem die Bevölkerung möglichst wenig zu sagen haben sollte. Aber wäre es mit dieser Debatte einfach möglich gewesen, die gewünschte Neutralität ins Militaristische zu wenden?
Und nun gibt es in der damaligen Zeit noch ein Rätsel. Am 2. Dezember 1990 fanden Bundestagswahlen statt. Gegenkandidat von Helmut Kohl war damals Oskar Lafontaine, der in der westlichen Republik weit vor Helmut Kohl lag, bis es Ende April zu einem Anschlag auf ihn kam, den er knapp überlebte und dessen Folgen den Wahlkampf deutlich behinderten. Unter einer Regierung Lafontaine hätte es nicht nur eine andere Form der wirtschaftlichen "Vereinigung" gegeben, sondern auch einen Verfassungsprozess und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Entscheidung für eine deutsche Neutralität.
Wir haben also eine Entscheidung über NATO-Mitgliedschaft und Neutralität, die im entscheidenden Moment durch einen Mordanschlag verzerrt wird. Die antideutsche Seuche, die die deutsche Linke wesentlich zerstören half, die feindliche Übernahme der DDR mit all ihrer volkswirtschaftlichen Verheerung, ihrer kontinuierlichen Demütigung, selbst die Rückgratlosigkeit der heutigen Bundesregierung, all das hat seinen Ursprung in diesem Moment. Wirklich überraschend, dass eine unter paranoider Schizophrenie leidende Arzthelferin für ihren Anschlag unter 80 Millionen Deutschen spontan genau die eine Person wählte, ohne die Deutschland brav unter der Herrschaft der USA verblieb.
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