Nukleares Zeitalter 2.0: Moskau und Peking führen – der Westen auf dem Weg in die Finsternis
Von Elem Chintsky
Bis zum Jahr 2050 soll die Europäische Union "klimaneutral" werden. Der Bundesrepublik ist das auch in höchstem Maße wichtig, weshalb man 2012 unter Kanzlerin Angela Merkel festmachte, innerhalb einer Dekade den Atomkraftausstieg finalisiert zu haben. Trotzdem entschied man in der EU 2022 insgesamt noch einmal, der Atomkraft als Stromgewinnung das Prädikat "klimafreundlich" zu verleihen – was leichte Dissonanzen innerhalb des freiheitlich-demokratischen Staatenbundes erzeugte.
Paris hat da sicherlich keine unerhebliche Rolle gespielt – schließlich bezieht die französische Republik immer noch 70 Prozent ihrer nationalen Energie aus der Atomkraft. Hierbei handelt es sich um genau den volkswirtschaftlichen Sektor Frankreichs, bei dem Berlin nach seinem eigenen Ausstieg nun seinen Strom vermehrt überteuert einkauft. Noch unter Präsident Hollande – motiviert von Berlins Sturheit in dieser Frage – sollte auch Frankreich die Produktion und somit den Konsum bis 2025 zumindest auf 50 Prozent herunter takten. Im Jahr 2019 verschob man dieses Ziel weiter in die Zukunft – 2035. Nur um schlussendlich im aktuellen Jahr diese Energiepolitik ganz zu verwerfen und eine Rückbesinnung auszurufen. Dass die EU-Machtachse "Paris-Berlin" verkümmert, lässt sich unter anderem an ebendieser auseinanderführenden Zielsetzung erkennen.
Abgesehen davon, auf welcher Seite der Klimareligionsdebatte man sich befindet: Berlin, als noch größte Volkswirtschaft Europas, kehrte dem Atom den Rücken. Washington D.C. macht zwar weiter mit, ist aber verblüffend unselbstständig und erstaunlich angewiesen auf einen "ehemaligen Partner" – nämlich Russland.
Um Russlands Rolle auf dem globalen Markt der nuklearen Technologien und nuklearer Energie und ihrer Exporte in Kontext zu setzen, muss die US-Abhängigkeit von Russland in dieser Hinsicht aufgezeigt werden. Moskau ist konstant an dritter Stelle als einer der größten Lieferanten von angereichertem Uran an die USA. An den ersten beiden Stellen sind Kanada und Kasachstan, mit jeweils 22 Prozent – Russland macht 16 Prozent aus. Zu Kasachstans erstem Platz gibt es aber noch Kleingedrucktes, welches russische Präsenz buchstabiert—dazu gleich mehr.
Noch 2021 bezogen die USA 20 Prozent ihrer Energie aus der Atomkraft. Allein dieser Anteil macht die USA zum größten nationalen Atomkraftkonsumenten der Erde. Anders gesagt: im Hinblick auf Wärme und Strom ist jeder fünfte Amerikaner vollkommen auf Atomkraft angewiesen.
"Megatons to Megawatts", 1993–2013: der ausgelaufene Vertrag
Drei glatte Dekaden ist es her, seitdem der "Megatons to Megawatts"-Vertrag zwischen den USA und Russland unterzeichnet wurde.
Aufbereitet in den Jahren 1991–1992 unter US-Präsident George H. W. Bush und unterschrieben im Jahr darauf von US-Präsident Bill Clinton, sah die Vereinbarung vor, Russlands hochangereichertes Uran mit seinem Uran aus dem eigenen Arsenal an Atomsprengköpfen zu kombinieren. Diese neue Mischung – die Abrüstung der Atomwaffen der ehemaligen Sowjetunion fördernd – wurde anschließend als neues Energie-Produkt an die USA verkauft und geliefert.
Ende 2007 hatte die Fachpresse das Auslaufen des Vertrages im Jahr 2013 thematisiert, und die bilateralen Pläne für eine Fortsetzung dieser Handelsbeziehung ausgelegt. Demnach sollen sich die russischen Uran-Exporte in die USA ab 2011 jährlich um 50 Prozent erhöht haben. Nur um ein Jahr nach 2013 eine Verzehnfachung zu erfahren – von 41.398 gelieferten Tonnen an angereichertem Uran, auf 485.279. Zwar versicherten die US-Gesetzgeber ihrer eigenen Fachbranche – darunter Centrus Energy Corp. (ehemals USEC Inc.) –, dass es nicht zu einem "Dumping russischen Urans" auf dem US-Markt kommen würde. Aber von einer langfristigen Abhängigkeit, die die eigene relevante US-Industrie verkümmern ließ, kann, mit der heutigen Gabe der Rückschau, allemal die Rede sein.
Die Abhängigkeit zeigt sich auch darin, dass die USA weder im Jahr 2008 (Georgien-Krieg), 2014 (Volksabstimmung auf der Krim und ihre Rückkehr nach Russland), noch in den Jahren 2022 bis 2023 signifikante Sanktionen auf russische Nuklearenergie verhängt haben. Zuletzt wurde im Juni 2023 berichtet, dass Washington D.C. eine Milliarde US-Dollar jährlich an die russische Nuklearagentur Rosatom überweist, um mit den Uran-Zahlungen hinterherzukommen. Dementsprechend haben bisher die USA die militärische Sonderoperation Russlands in der Ukraine, mit all ihren Zielsetzungen, mitfinanziert. Nur vorsichtig wird eine geregelte, langwierige Abkehr von russischen Uran-Lieferungen thematisiert – ohne die Öffentlichkeit darüber zu unterrichten, wie lange ein solch verspäteter Transfer zur Selbstständigkeit dauern würde.
Wie Russlands Rosatom Pionierarbeit leistet
Spätestens seit dem Jahr 2021 sind die Indikatoren für Pekings und Moskaus enge und präzedenzlose Atomkraft-Partnerschaft öffentlich erkennbar. Verträge dazu wurden schon im Jahr 2018 unterzeichnet. Neue, mit exklusiv russischer Technologie gebaute Nuklearreaktoren wurden bereits und werden weiterhin in Atomkraftwerken der Volksrepublik China installiert. Im Jahr 2021 erläuterten hohe chinesische Bedienstete, dass die beiden neu aufgerüsteten Kernkraftwerke – Tianwan (Block 7 und 8) und Xudabao (Block 3 und 4) – bereits 2026 mit voller Kapazität laufen würden und die jährlichen Kohlendioxidemissionen um 30,7 Millionen Tonnen senken könnten. Zahlen, von denen der grüne Bundesenergieminister und studierte Philosoph Robert Habeck nur träumen kann. Die Wahrscheinlichkeit, dass eher Eurasien als Europa die von der UNO diktierten Netto-Null-Emissionen bis zum Jahr 2050 erreicht, ist hoch. Zumal es auch wichtig ist, dies zu erreichen, ohne dabei einer vollkommenen Deindustrialisierung zum Opfer zu fallen – was die Berliner Führung eindeutig, vorsätzlich und gerne in Kauf nimmt.
Über all diese Prozesse wacht die Föderale Agentur für Atomenergie Russlands, Rosatom, welche im technologischen Know-how geradezu ein Monopol besitzt – wie dieser Autor bereits im August 2022 erläuterte. Die dutzenden von ausschließlich in Russland und China betriebenen "kleinen modularen Reaktoren" (SMR), deren Bau Rosatom nur 2–3 Jahre in Anspruch nimmt, sind extrem gefragt auf dem Weltmarkt. Zum Vergleich: der Bau und die Installation von herkömmlichen Reaktorblöcken dauert 5–10 Jahre. In 17 weiteren Ländern wird diese Technologie erst noch entwickelt. Das "schwimmende" Kernkraftwerk Akademik Lomonossow, welches sich in seiner mobilen Technologie stark von seinen "stationären" Pendants unterscheidet – verbleibt das einzige seiner Art.
Nicht alle Innovation in dieser Domäne ruht in Russland auf den Schultern Rosatoms: Ein Tochterunternehmen des größten russischen Schiffsbauunternehmens United Shipbuilding Corporation entwickelt zurzeit ein Unterwasser-Kernkraftwerk, das seine Umgebung aus einer Meerestiefe von 400 Metern mit Strom versorgen soll. Das Tochterunternehmen ist das Sankt Petersburger Ingenieursbüro "Malakhit". Ein solches "Unterwasser-Energie-Modul" wird Strom für Felder in russisch-arktische Schelfgebiete und andere abgelegene nördliche Sphären liefern können – Gegenden, in denen herkömmliche Kraftwerke nicht zu finden sind. Dieser Prototyp besteht aus zwei Kernkraftwerken und wird mit einer Gesamtleistung von 20 MW ausgestattet sein. Damit betreten russische Projekte im weltweiten Wettbewerb als erste energietechnisch vollkommenes Neuland. Wobei diese russische Pionierarbeit einen gänzlich neuen Markt eröffnen wird, in dem sie lange die Führung halten werden und mit Gesuchen um Partnerschaft aus aller Welt überhäuft werden.
Die 3 Phasen der Dominanz: die russisch-chinesisch dominierte, nukleare Wertschöpfungskette
Als Erstes kommt der Uranabbau. Auf den ersten Blick sieht es schon bei dieser Stufe anders aus, als angenommen: Es ist das geostrategisch ambivalente Kasachstan, das mit einem Marktanteil von 43 Prozent mit Abstand vorn liegt. An zweiter Stelle ist das NATO-Mitglied Kanada mit 15 Prozent und Namibia mit 11 Prozent. Russland ist mit seinen 5 Prozent auf dem vierten Platz, während China mit 3,4 Prozent erst den sechsten Platz belegt. Der Haken ist, dass Rosatom bei den fünf größten Tochterunternehmen des kasachischen Bergbauunternehmens Kazatomprom – das größte für Uranabbau auf der Welt – über einen Aktienanteil von 50 Prozent verfügt. Nach ähnlichem Prinzip kontrolliert die Chinese National Nuclear Power Group (CGN) 49 Prozent der Aktien der kasachischen Kazatomprom-Tochterunternehmen "Semizbay-U LLP" und "Ortalyk LLP". Die große Mehrheit der im bereits erwähnten Namibia aktiven Uran-Bergwerke sind in chinesischem Besitz.
Im Falle von G7-Mitglied Frankreich werden 15–20 Prozent des Urans aus dem afrikanischen Land Niger importiert. Hierbei handelt es sich um dasselbe Land, welches gerade eben einen militärisch geführten Regierungswechsel erlebte, den Brüssel augenblicklich als illegitim und rechtswidrig erachtete. Die EU insgesamt bezieht 20 Prozent ihres Urans aus Niger. Die neue Führung in Niamey gilt als prorussisch und konterte westliche Drohungen auf Sanktionen mit dem Lieferstopp von ihrem Uran. Nun steht sogar eine französische Intervention in Niger auf dem Tisch, um die alte Ordnung wieder herzustellen – immerhin geht es um die Energiesicherheit und somit den Wohlstand Frankreichs, welche beide – wir erinnern – zu 70 Prozent auf Atomkraft angewiesen sind. Kurz: Frankreichs "Energieunabhängigkeit" ist abhängig von Niger.
Die zweite Phase der Uran-Wertschöpfungskette ist die Umwandlung – damit ist die Umwandlung von Uranoxid in UF6 gemeint. Frankreich, Kanada, Russland und China sind mit dieser kommerziellen Dienstleistung beschäftigt. Russland allein repräsentiert darin einen Marktanteil von 38 Prozent – China erfühlt 25 Prozent. Eine einzige US-Umwandlungsanlage ist seit Längerem geschlossen, soll aber 2023 vermutlich wieder in Betrieb genommen werden und den derzeitigen US-Marktanteil von null Prozent wieder steigern. Wenn man Moskau und Peking nicht berücksichtigt, gibt es, außer in Kanada und Frankreich in vermindertem Maße, keine weiteren Alternativen für diesen entscheidenden Produktionsschritt.
Die Uran-Anreicherung ist an dritter Stelle und wird ebenfalls von Moskau dominiert. Zwar sind hier schon Deutschland, Großbritannien, die Niederlande, die USA, Frankreich und China wichtige Teilnehmer an der Uran-Anreicherung. Aber Russland beherrscht 46 Prozent des Marktanteils – mit den chinesischen 13 Prozent sind das nahezu zwei Drittel des gesamten Weltmarktes.
Die letzten drei Stufen der Uran-Wertschöpfungskette – das heißt die Herstellung von Urandioxid-Brennstäben, die Stromerzeugung und die Entsorgung abgebrannter Brennelemente – sind bei allen Teilnehmern weltweit sehr viel gleichmäßiger verteilt.
Theoretisch und praktisch haben Moskau und Peking mit den Optionen, den globalen Uran-Preis zu beeinflussen oder die Nuklearenergie-Lieferungen "anzupassen", eine enorme, globale geostrategische Hebelkraft – besonders gegenüber dem sich feindlich benehmenden Wertewesten. Explodierende Strompreise in Ländern, die langfristig auf Atomkraft angewiesen sind, wären die Folge.
Zu der allseits bekannten russischen Präsenz auf dem weltweiten Erdöl- und Erdgasmarkt, zeigte sich im Jahr 2021, dass die Volksrepublik China 79 Prozent der Polysilikon-Produktion kontrolliert. Polysilikon ist ein Rohmaterial, welches aus kleinen Kristallen besteht und unentbehrlich für die globale Solarzellen-Herstellung ist. Die Dominanz im Sektor der Fotovoltaik ist also offensichtlich. Hinzu kommt, dass die Chinesen mit den zehn größten Unternehmen für die Lieferung von 80 Prozent des globalen Marktanteils Fotovoltaik-relevanter Materialien ausmachen. Dies ist ein weiterer weltwirtschaftlicher Aspekt für die globale Klimaagenda der CO₂-Senkung, der nicht in den Händen des Wertewestens liegt. Zu guter Letzt sollte die Kobalt-Gewinnung erwähnt werden, ohne die das Phänomen der Elektrofahrzeuge gar nicht erst vom Boden heben würde: 70 Prozent des Abbaus wird in der Demokratischen Republik des Kongo betrieben. Der Kongo ist weitestgehend mit chinesischen Investitionen dazu befähigt worden, diesen Marktanteil überhaupt erst zu realisieren.
Wenn man es also unbedingt darauf ankommen lassen würde, hat das russisch-chinesische Bündnis die mehrheitliche Kontrolle über die drei größten Quellen nachhaltiger Energie auf der Erde. Somit tänzeln der Drache und der Bär perfekt im vorherrschenden Öko-Zeitgeist der Gegenwart.
Es grenzt an Unmöglichkeit, dass man sich im "besten Westen aller Zeiten" über diese für starke Erschütterungen anfälligen Befindlichkeiten nicht bewusst ist. Zumal es offenkundig der partnerschaftsunfähige Westen ist – mit seinem Beharren auf moralische und wirtschaftliche Überlegenheit – der in all dem den großen Nachteil bereits erntet. Umso mehr zeigt es, dass sich die westlichen Eliten sehr wohl darüber bewusst sein müssen, welchem sozioökonomischen und kulturellen Sturz sie ihre Völker aussetzen – auf was für eine Krise sie die eigenen Bürger zusteuern lassen. Äußerst tragisch, dass die Menschen dort stattdessen wählen, mehrheitlich im Dunkeln zu schlendern.
Elem Chintsky ist ein deutsch-polnischer Journalist, der zu geopolitischen, historischen, finanziellen und kulturellen Themen schreibt. Die fruchtbare Zusammenarbeit mit RT DE besteht seit 2017. Seit Anfang 2020 lebt und arbeitet der freischaffende Autor im russischen Sankt Petersburg. Der ursprünglich als Filmregisseur und Drehbuchautor ausgebildete Chintsky betreibt außerdem einen eigenen Kanal auf Telegram, auf dem man noch mehr von ihm lesen kann.
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