"Nadelöhr für Führungskräfte": Wie sich die Herrschenden die Universitäten unterwarfen
Von Susan Bonath
Dashboards mit fragwürdigen Zahlenkolonnen, moralgeschwängerte Propaganda, getarnt als Berichterstattung, und die immergleichen "Experten", welche "die Wissenschaft" verkörpern sollen: Medienrealität und Wirklichkeit driften zunehmend auseinander, eine unsichtbare politische Moralkeule schwingt über jedem Aufstiegswilligen. Viele spüren das, ob bei Corona, Klima, Energie oder Ukraine. Und viele wundern sich: Warum bleibt der Aufschrei aus den akademischen Institutionen aus?
Wer das Ende August erscheinende neue Buch des Journalisten und Medienwissenschaftlers Michael Meyen liest, bekommt eine Ahnung, warum das so ist. In "Wie ich meine Uni verlor" beschreibt der aus Ostdeutschland stammende, heute an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München lehrende, inzwischen als Abweichler geschasste Professor die in mehr als 30 Jahren von ihm erlebten Veränderungen im akademischen Betrieb. Deutlich wird: Die Saat spross bereits, als Meyen begann, wenn auch gut getarnt.
Unis formen Führungspersonal
"In den Universitäten wird das Personal geformt, das später unser Leben bestimmt." Sie seien, so Meyen, "das Nadelöhr, das jeder passieren muss, der irgendwann irgendwo etwas zu sagen haben will: Lehrer und Schuldirektoren, Staatsanwälte und Richter, Pfarrer, CEOs und Chefredakteure, Landräte, Theaterintendanten und Ärzte, Minister und Behördenleiter – sie alle haben studiert." Wer die Universitäten beherrsche, dominiere die gesellschaftliche und politische Entwicklung, sagt Meyen.
Wie das deutsche Führungspersonal heute geformt wird, beschreibt der Autor mit harten Worten: Wissenschaft sei zur "Religion der Gegenwart" geworden, Professoren zu Priestern. Die Neugier, die Forscher antreiben sollte, wurde, so Meyen, "korrumpiert von einem System, das mit Geld und Ruhm lockt." Dem akademischen Nachwuchs werde "von kleinauf eingetrichtert, dass sich Anpassung und Nachbeten besser bezahlt machen, als jeder Trip ins Ungewisse."
Dem Professor, Jahrgang 1967, ist klar, dass er spätestens mit diesem Buch seine akademische Reputation im "demokratischen Westen" an den Nagel gehängt hat. Er wird den neuen Vorgaben, die durch die Bologna-Reform eine wachsende Rolle spielen, nicht mehr genügen. Er beißt in die Hand seines Brotgebers, von dem er eigentlich profitiert habe. "Ich dürfte dieses Buch nicht schreiben", betont er.
Nun wird Meyen wohl nicht mehr interessant sein für das "Shanghai-Ranking" seiner Uni, die "Exzellenzinitiativen", den H-Index – zu Deutsch: Seine Pflichtpunkte, die Wissenschaftler heute für ihr und das Ansehen ihrer Uni permanent sammeln müssen, mit willkommenen Studien, möglichst vielen daraus zitierten Passagen, vor allem aber mit Bekenntnissen zur erwünschten bürgerlichen "Moral" als "letzter Schritt", wie er schreibt, sind wohl in der Cancel-Culture-Realität versiegt.
Vom Makel, ein Ossi zu sein
Das war nicht immer so. Er habe es zu einem angesehenen Forscher in seinem Fachgebiet geschafft. 2002 berief ihn die Münchner Uni auf einen Lehrstuhl. Er fuhr von Tagung zu Tagung, bekam Auszeichnungen. Als Ostdeutscher von der Insel Rügen, der sich Anfang der 1990er plötzlich im westdeutschen Medien- und Uni-Betrieb zurechtfinden musste, sei das nicht selbstverständlich gewesen. "Ich habe damals gedacht, diese BRD ist doch nicht so verkehrt." Immerhin habe sie ihn als "Ossi" integriert.
Natürlich mit Vorbehalten: Die Diktatur-Erzählung schwang immer im Raum. Ostdeutsche, so Meyen, mussten sich ständig gegen ihre Vergangenheit bekennen, mussten besser sein als Westdeutsche, die dann auch festgelegt hätten, wie die DDR zu sein gehabt habe. "Ossi" zu sein, galt von Anfang an als Makel. Bekamen "Ossis" eine Chance, hatten sie dankbar zu sein, sollten sich doppelt und dreifach bewähren. "Auch ich wollte beweisen, dass die Uni-Berufung kein Fehler war, mein neues Nest nicht beschmutzen", schreibt Meyen.
Bologna und die Fetische der Ökonomisierung
Heute, im vierten universitären System, das er jetzt erlebe, sieht er das anders: Meyen begann in der DDR, die – zwar mit autoritären Vorgaben – Arbeiterkindern auch langes Studieren in einem Alltag ermöglichte, der dem der Schule ähnelte. Die kurze Wendezeit beschreibt er als Zeit weitgehender Anarchie in seiner Uni. Anschließend unterscheidet Meyen zwischen der Zeit vor und jener nach Bologna.
Politische Einflussnahme auf die Unis habe es immer gegeben, schränkt er ein. Aber vor Bologna hätten die jungen Studenten Zeit für Forschung und Selbstfindung gehabt. "Sie konnten sich ausprobieren", dies sei heute "den Fetischen der Ökonomisierung zum Opfer gefallen: Effizienz, Leistung, Rentabilität".
Seit der Bologna-Reform gehe es nur noch darum, Leistungspunkte zu sammeln, möglichst viel zu publizieren und zitiert zu werden, gerne gegenseitig im eigenen akademischen Club. Jeder kleine Aufsatz werde bewertet und festgehalten. Ein Patzer, ein unpopuläres Thema oder "falsche" Ergebnisse könnten, so Meyen, schnell das Ende der Karriere einläuten, bevor sie begonnen habe. Ausprobieren braucht Zeit – die hätten Studenten heute nicht mehr.
Anreiz- und Abschreckungssystem
Meyen springt in seinem Buch zwischen den Zeiten hin und her. Er zitiert Professoren, die von den 1960er und 1970er Jahren berichten. Im Vergleich zu heute klingen ihre Geschichten über Partys und experimentelle Forschung, über gemeinsames politisches Nachdenken und Handeln irgendwie aus der Zeit gefallen. Er blickt zurück auf den Beginn seiner eigenen Karriere, wo er mit Studenten abends beim Bier gesessen und endlos diskutiert habe, und driftet zurück in die Gegenwart.
All das gebe es heute nicht mehr, berichtet Meyen. Heute jagten die Studenten ihren Punkten und Reputationen hinterher, hätten verinnerlicht, das Zeit Geld sei, wüssten, wie man sich anpasst, um weiter, um hoch zu kommen. Es werde nicht mehr diskutiert, nur noch gepaukt. Die Entwicklung von Persönlichkeit und eigenständigem Denken behindere nur den Aufstieg.
Fast die Hälfte aller Forschungsgelder würden heute als Drittmittel aus der Wirtschaft eingeworben. "Wer das Geld gibt, bestimmt, was und wie geforscht wird", weiß er. Gezielte Mittelvergabe nennt sich das. So etwas gibt es zunehmend auch aus den Ministerien. "Die Politik hat sich über gezielte Mittelvergabe einen Weg in die Unis gebahnt, der viel eleganter ist, als einst der Radikalenerlass", resümiert Meyen.
Mit dem Radikalenerlass katapultierte die Politik ab 1972 vermeintliche Extremisten aus den akademischen und institutionellen Betrieben, vor allem Kommunisten und Linke aller Couleur. "Heute", schreibt Meyen, "säubert man nicht mehr, man infiltriert." Soll heißen: Der Staat und seine Organe schwingen die Moralkeulen und assimilieren mögliche Kontrahenten schon präventiv, besetzen Lehrstühle nach politischem Wohlwollen – ihre "Bestenauslese" bringe Werbeträger für das System hervor.
"Hinter jeder Zahl steht ein Interesse"
Karrieren würden heute von Zahlen bestimmt, die Auskunft über Reputationen geben sollen. Reputation erlange man nur mit Forschung, die von Politik und Wirtschaft erwünscht ist. Aber, so hält Meyen fest: "Hinter jeder Zahl steht ein Interesse – Zahlen sind nicht die Wirklichkeit." Oder anders ausgedrückt: Kaum etwas ist leichter unbemerkt zu manipulieren, als Zahlen, die komplexe Vorgänge darstellen sollen.
Wer sich in den vergangenen drei Jahren mehr als nur ein paar Gedanken über die Corona-Dashboards machte, ahnt vermutlich, wovon Meyen schreibt. Diese Zeit, in der der Spiegel den einst anerkannten Medienforscher per Schlagzeile zum "Prof. Dr. Kokolores" erklärte, weil er skeptisch gegenüber politischen Maßnahmen war, mit den falschen Leuten sprach, in unerwünschten Blättern publizierte, der neuen medialen Kriegsrhetorik eine Absage erteilte, ist eine Ära der Daten- und Zahlenmanipulation zugunsten einer Politik, die keinen Widerspruch duldete.
"Unterwerfung der Unis war Generationenprojekt"
Die "Cancel Culture" erblüht wie nie. Wer nicht passt, wird ausgesondert, niedergebrüllt, persönlich und wenn es geht, auch finanziell vernichtet. Es war ein langer Weg bis zur heutigen universitären Realität, glaubt Meyen. Er schreibt:
"Die Unterwerfung der Universitäten war ein Generationenprojekt, gestartet in den 1990ern und ausgestattet mit einer enormen Gestaltungsmacht, zu der nicht nur Geld und Gesetze gehören, sondern auch intellektuelle Ressourcen und die Hoheit über die Kommunikationskanäle, die den Siegeszug der Identitätspolitik genauso auf dem Kerbholz haben wie den Aufstieg von Expertendarstellern, den Abschied der Linken von ihren Kernthemen und ihrer Klientel sowie das, was Paul Schreyer 'entkoppelte Regierung' genannt hat oder das 'Verschwinden von Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht' auf allerhöchster Ebene."
Eine Befreiung von diesen Verknüpfungen werde mindestens genauso lange dauern, also mehr als 30 Jahre, glaubt Meyen – wenn sie denn erkämpft würde. Doch das ist das Heimtückische: Das System nährt sich nicht nur von der Macht der Geldgeber, sondern aus sich selbst. Es hat sich schleichend in den Köpfen seiner Nutznießer verwurzelt. Ob die wenigen, um so widerständigeren Köpfe, die sich durchbeißen – und auch in Meyens Geschichte vorkommen – eines Tages fähig sein werden, es zu überwinden:
Diese Frage kann er natürlich nicht beantworten.
Vom westlichen Hegemon und seinem "Ossi"
Am Ende führt die Geschichte – man hätte es fast ahnen können – wieder zurück zur ostdeutschen Identität. Ein Kollege habe Meyen kürzlich gefragt, ob er "noch im Widerstand der DDR" verharre oder "schon in der modernen PR" angekommen sei. Es ging um seine unliebsamen Arbeiten für eine unliebsame Zeitung, die sich in der Coronazeit gegründet hatte – unliebsam wie Meyens Geburtsland DDR.
"Der Klassenfeind, ich hör ihn trapsen: Wer etwas sagt, was mir nicht passt, kommt einfach nicht hinein in die Schublade der demokratischen Parteien", resümiert Meyen. Aus anderer Perspektive könnte man meinen: Der Ossi, vom westlichen Hegemon mit allerlei widerborstigen und unschönen Eigenschaften versehen, scheint auch weiterhin in westdeutschen Stein gemeißelt zu sein.
Dieser Ossi habe gefälligst permanent Pluspunkte zu sammeln: durch wiederholte Bekenntnisse, durch Andienen und Buhlen, durch Mitmachen und Stillhalten, durch besonders vorauseilenden Gehorsam. Ostdeutsche sollen stets und überall beweisen, dass sie "Demokratie können". Widerspenstige bekommen schnell den Stempel "Nazi" aufgedrückt.
Dass dies oft zum Gegenteil führt, als gewünscht, beweist der Osten Deutschlands seit 30 Jahren. Je mehr Zeit nach der "deutsch-deutschen Hochzeit" verstreicht, desto mehr Widerstand scheint sich zwischen Elbe und Oder zu regen. Es wirkt wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – vielleicht auch ein bisschen für Michael Meyen, der in seinem Buch explizit als Ostdeutscher "Bilanz zieht".
Ironisch könnte man sagen: In diesem Punkt war die Identitätspolitik der modernen Moralkeulen-Minister anscheinend doch ein wenig erfolgreich, wenn auch nicht zur Freude der gefühlten Einheitsparteien-Elite in Deutschland. Doch ein Hoffnungsschimmer am fernen Horizont?
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