Die Einübung der Käuflichkeit oder: Wie die deutsche Politik ihre Moral verlor – Teil 1
Von Dagmar Henn
Das ist der zweite Anlauf zu diesem Artikel. Es ist nicht ganz einfach, das Thema zu fassen; nicht jedes Nachsinnen über bestimmte Zusammenhänge und Veränderungen erreicht einfach die Form, in der man ihm folgen kann.
Fangen wir mit dem Auslöser an, den Skandalen, die keine mehr werden. Wenn die Tatsache, dass EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ein Milliardengeschäft mit Pfizer/BioNTech per SMS abschließt und diese anschließend löscht, was ein extrem starkes Indiz für Korruption ist, dann führt das nicht nur nicht zu ihrer sofortigen Absetzung, es landet noch nicht einmal für längere Zeit in den Schlagzeilen. Das könnte man noch mit der Kontrolle von Medienkonzernen und Parteien über die veröffentlichte Meinung erklären; aber es entsteht auch sonst wenig öffentliche Empörung. Von der Leyens Käuflichkeit ist auch in den sozialen Medien schlicht als Bestätigung einer Erwartung verbucht worden, die aber keinerlei Empörung mehr auslöst.
Das passt natürlich zusammen mit der resignativen Reaktion auf eine Regierung, die im günstigsten Fall, wenn sie gar nichts tut, gerade mal keinen Schaden anrichtet. Wenn man sich noch an politisch lebhaftere Zeiten erinnert, ein irritierendes Stillhalten; und die Veränderung geht so tief, ist so umfassend, dass sie nicht durch die dauernde Propaganda allein erklärbar ist. Warum also wird selbst die sichtbarste, offenste Korruption oder die erbärmlichste Unterwürfigkeit nicht einmal mehr zum dauerhaften Stammtischgespräch?
Wenn man versucht, die Wendepunkte festzumachen, von denen aus sich nicht nur der soziale Zustand, sondern auch die politische Kultur in Deutschland abwärts entwickelte, finden sich drei Punkte.
Der erste liegt bereits in der Regierungszeit von Helmut Schmidt und hatte langfristig massive Folgen, die aber im Moment selbst nicht absehbar waren. Die Krise, in der sich der gesamte Westen zu Beginn der 1970er befand und die unter anderem in den USA zur Aufhebung des Glass-Steagall Acts sowie zum Ende der Goldbindung des Dollar führte, beendete in der Bundesrepublik die Phase, in der der Sozialstaat ausgebaut worden war. 1976, als die Zahl der Arbeitslosen die Millionengrenze durchbrach, wurde die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes beschränkt; die erste Kürzung, auf die noch viele weitere folgen sollten, bis zur Einführung von Hartz IV im Jahr 2005.
Weitaus folgenschwerer dürfte allerdings ein Schritt gewesen sein, der damals kaum wahrgenommen wurde: die Aufhebungen der gesetzlichen Zinsbeschränkungen. Bis 1974 hatte es eine gesetzlich vorgegebene Maximalabweichung vom Leitzins gegeben, je 1,5 Prozent nach oben für Kreditzinsen und 1,5 Prozent nach unten für Sparguthaben (klar, bei den Kreditzinsen gab es noch eine Spanne für kurzfristigere Formen). Sobald diese freigegeben wurde, stieg insbesondere die Spanne bei den Kreditzinsen deutlich an; zuletzt waren bei Leitzinsen von 0,5 Prozent durchaus Dispositionskredite von 16,5 Prozent möglich.
Diese Freigabe bedeutete schlicht, dass der Anteil der Banken bei jedem Geschäft wächst. Es gelingt ihnen, immer mehr Gewinn aus dem Massenmarkt zu schlagen. Es wäre interessant, zu wissen, wie hoch diese Abflüsse hin zu den Bankerträgen waren, aber dazu gibt es keine Berechnungen. Praktisch bedeutet das schlicht, dass zunehmend Geld dem Konsum entzogen wird und der Anlagesphäre zufließt, die wiederum seit dieser Krise zunehmend auf Spekulation setzte. Eine Entwicklung, die sich übrigens in allen westlichen Kernländern parallel vollzog.
Die nächste Phase wurde mit dem Regierungswechsel 1982 eingeleitet. In etwa gleichzeitig gab es den großen Skandal um die Neue Heimat (NH), die große gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaft. Ein großer Teil der Sozialwohnungen, damals in der BRD 3,9 Millionen (heute in ganz Deutschland weniger als eine Million), wurden von der Neuen Heimat errichtet. Kern des Skandals waren zwei Punkte – der Versuch, mit Auslandsgeschäften ein neues Standbein zu schaffen, nachdem keine weiteren Großprojekte mehr anstanden, und die Tatsache, dass sich die Manager dieses Gewerkschaftskonzerns so verhielten wie andere Baulöwen auch, was ihre persönlichen Vorteile anging. Heute, in Zeiten von Cum-Ex, wäre die ganze Geschichte rund um die Neue Heimat keine Schlagzeile mehr wert.
Aber damals gab es in der gesamten Gesellschaft noch moralische Erwartungen, wie sich das leitende Personal von Gewerkschaftsunternehmen zu verhalten habe. Persönliche Bereicherung stand nicht auf dieser Liste. Im Skandal um die Neue Heimat wurde diese Moral eingesetzt, um einen gemeinnützigen Wohnungsbaukonzern, der mehrere Hunderttausend Wohnungen besaß, zu zerschlagen und letzten Endes, um die Gemeinnützigkeit im Wohnungsbau ganz abzuschaffen. Mit betroffen waren noch andere gemeinwirtschaftliche Unternehmen, wie die gewerkschaftseigene Supermarktkette Konsum. Innerhalb eines Zeitraums von etwa zehn Jahren gelang es, den gesamten Sektor dieser Gemeinwirtschaft bis auf klägliche Reste zum Verschwinden zu bringen.
Die Zerschlagung der Neuen Heimat und die Abschaffung der Gemeinnützigkeit waren zusammen mit der Freigabe der Zinsen (in allen Mieten steckt ein beträchtlicher Teil Zins, der an die Banken geht) schufen den Motor, der die Mieten nach oben trieb und der seitdem nicht mehr innegehalten hat. Das ist einer der Punkte, die letztlich eine starke Rückwirkung auf das Denken haben. Selbst eine weniger mieterfreundliche Gesetzgebung ist kein Problem, wenn ein großes Angebot an bezahlbaren Wohnungen vorhanden ist, und alle Risiken des Lebens, sei es eine Scheidung, sei es Arbeitslosigkeit, sind weit weniger gravierend als in einer Umgebung mit zu wenigen, meist unbezahlbaren Wohnungen, selbst wenn die rechtliche Lage vergleichsweise mieterfreundlich ist. Es ist unschwer zu erkennen – die Entwicklung seitdem hat ein Niveau an Angst in das Alltagsleben gebracht, das in den 1970ern nicht vorstellbar gewesen war. Die Ängste zu Beginn der 1980er waren politisch; Angst vor einem Atomkrieg. Die Gegenwart lässt für diese Ängste schon keinen Atem mehr übrig, weil die Gefahren des gewöhnlichen Daseins schon so viel Aufmerksamkeit verlangen.
Als Helmut Kohl durch einen ziemlich unmoralischen Koalitionswechsel der FDP während der Legislaturperiode Bundeskanzler wurde, löste sein Gerede von der "geistig-moralischen Wende" noch weitgehend Befremden aus. Für diese vergleichsweise nüchterne Zeit war das schon viel zu viel Pathos, viel zu dick aufgetragen. Hätte man damals eine Rede wie die von Bundeskanzler Scholz zur "Zeitenwende" vor jungen Leuten verlesen, die hätten sich vor Lachen auf dem Boden gewälzt. Das private Fernsehen mit seinen Boulevardsendungen wurde erst unter Kohl eingeführt; auch da gab es einen sehr schmierigen Deal mit seinem Freund Leo Kirch, der sich die freigegebenen Frequenzen mit Bertelsmann teilte. Es waren die Sendungen der privaten Sender, die anfingen, Nachrichten zu emotionalisieren; inzwischen sind alle Unterschiede zu den öffentlich-rechtlichen Sendern längst gefallen.
Wobei diese Verlotterung am Anfang sogar auf Sympathien setzen konnte, indem der Alltag der weniger Wohlhabenden zugelassen wurde, während es bei den Öffentlich-Rechtlichen so etwas wie Arbeiterschaft nur in der Lindenstraße und bei Schimanski gab; das Tittytainment war da so etwas wie eine Dreingabe, die man auch übersehen konnte. Auch hier war es die Langzeitwirkung, die letztlich entscheidend war. Ohne die Eingewöhnung durch RTL und Sat.1 wäre die emotionale Aufladung, die der Kern der heutigen Propaganda auch in den öffentlich-rechtlichen ist, nicht möglich gewesen.
Mit dem dritten Wendepunkt, dem Jahr 1989, gewann das richtig an Fahrt. Schließlich ging es darum, eine Verfassungsdebatte und eine deutsche Neutralität zu verhindern und nach Möglichkeit das annektierte Gebiet so gründlich wie möglich zu unterwerfen. Es ist dieser propagandistische Druck, der den Grundstein für die heutige Einförmigkeit legte; bei der Schaffung der Legende von der finsteren Stasi-Diktatur DDR konnte man den heutigen Apparat zur Meinungslenkung das erste Mal in voller Blüte erleben.
Kohl war der Einstieg in den Neoliberalismus, auch wenn er im Rückblick betrachtet an vielen Punkten links von Gerhard Schröder stand. Er war der Einstieg in einen neuen, alten deutschen Machtanspruch, der sich bei der Zerlegung Jugoslawiens das erste Mal austobte. Er sorgte dafür, dass die DDR-Bürger ihre Maggie-Thatcher-Erfahrung machten; der Westen bekam diesen Teil der Geschichte erst von Schröder serviert.
Allein die Mengenverhältnisse bei den Sozialwohnungen lassen erkennen, dass der Sozialstaat im heutigen Deutschland mit jenem der 1970er nicht mehr viel zu tun hat. Wobei natürlich die Schaufensterfunktion eine Rolle spielte, aber der Zufluss aus den Ländern der Peripherie weniger, als man auf den ersten Blick annehmen mag – die Krise der 1970er wurde unter anderem dadurch ausgelöst, dass es, nachdem viele afrikanische Kolonien in den 1960ern die Unabhängigkeit errungen hatten, sie tatsächlich einige Jahre lang bessere Preise für ihre Rohstoffe durchsetzen konnten, und eine der Antworten auf diese Krise bestand eben darin, das System kolonialer Kontrolle zu erneuern und die Rohstoffpreise wieder zu drücken. Der Putsch in Chile 1973 zielte unmittelbar auf die Kupferpreise.
Aber zurück zur eigentlichen Fragestellung. Die relative Sicherheit, die damals auch für die arbeitende Bevölkerung bestanden hatte, ist mittlerweile zu großen Teilen verschwunden, obwohl die Rhetorik gleich geblieben ist, man also glauben müsste, es sei alles noch immer so, wie es damals war. Wenn sich die wirklichen Umstände ändern, hat das zwangsläufig Auswirkungen auf Wahrnehmung und Denken. Wie kommt es nun dazu, dass die Toleranz gegenüber feindseligen oder korrupten Handlungen der Politik immer weiter zu steigen scheint?
Wenn man den Skandal um die Neue Heimat betrachtet, so war der Ansatzpunkt für diesen Angriff auf gewerkschaftliche Macht in der Gesellschaft ein moralischer, und die Moral, die verletzt wurde, stammte aus der Arbeiterbewegung, die Deutschland über viele Jahrzehnte geprägt hatte. Selbst in der sozialdemokratischen Variante gab es eine bestimmte Vorstellung, wie man sich unter Kollegen zu verhalten hat, und gegen diese Vorstellungen hatte der Chef der Neuen Heimat Albert Vietor verstoßen.
Dass die reale sozialdemokratische Führung sich oft völlig anders verhielt, ist eine andere Sache; es gab gewissermaßen einen proletarischen Kodex, der zwar nicht Teil der offiziellen Kultur war, aber dennoch weite Teile der Gesellschaft prägte und beispielsweise dazu führte, das bestimmte Berufe damals einen sehr schlechten Ruf hatten. Immobilienmakler und Werbeleute beispielsweise, Banker und Börsenspekulanten. Also viele der Berufe, die dann in den Neunzigern des vergangenen Jahrhunderts modisch wurden, in denen das große Geld gemacht wurde.
Die Erwartung an die Politik entsprang weitgehend dieser Moral. Sie soll sich um die Probleme kümmern und dafür sorgen, dass alles gut funktioniert, die Züge pünktlich sind, die Mülltonnen geleert werden und die Kinder in der Schule das lernen, was sie brauchen. Auf der heutigen Skala würde man diese proletarische Moral als konservativ einsortieren (obwohl sie eines nie war, nämlich prüde). Ehrlichkeit, Disziplin und Verantwortlichkeit hatten einen hohen Wert. Raum für exzessiven Individualismus gab es nicht. Es war in Ordnung, ein Häuschen oder ein Auto anzustreben, aber Mercedes oder Porsche standen schon für einen Wechsel auf die feindliche Seite.
Das erste Zeichen dafür, dass diese Moral erodierte, war das Auftauchen von Bekleidungsmarken, mit denen nichts anderes zur Schau gestellt wurde, als dass man es sich leisten konnte, Geld nur dafür auszugeben, um zu zeigen, dass man es nutzlos ausgeben konnte. Es begann mit Fruit of the Loom und endete bei Gucci und Luis Vuitton. Heute ist es kaum noch vorstellbar, dass ein sichtbares Prangen mit Reichtum nicht nur als obszön galt, sondern auch als ausgesprochen lächerlich.
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