Meinung

Zeiterprobtes Rezept: "Die Welt" empfiehlt der Ukraine totale Mobilmachung à la Drittes Reich

Um Russland zu besiegen, sollte die Ukraine drei Millionen Soldaten ‒ also quasi alle ihre Männer ‒ unter Waffen stellen, empfiehlt ein Artikel der "Welt". Dass der Vorschlag ausgerechnet in einer deutschen Zeitung veröffentlicht wird, lässt Erinnerungen wach werden.
Zeiterprobtes Rezept: "Die Welt" empfiehlt der Ukraine totale Mobilmachung à la Drittes ReichQuelle: Gettyimages.ru © ullstein bild Dtl.

Von Tatjana Montjan

Drei Millionen Menschen in die Reihen des Militärs zu mobilisieren, sei für die Ukraine der einzige Weg, im Kampf mit Russland einen Sieg zu erringen, schreibt Die Welt. "Der erste ernstzunehmende Krieg des Jahrtausends wird weder durch Sanktionen noch mit Drohnen und Raketen entschieden. Auch eine Strategie, mit der Guderian, Rommel, Patton, Rokossovsky und später Sharon Erfolge erzielten, scheitert heute am transparenten Schlachtfeld. Kiew bleibt nur eine Option", so der Artikel. Die Analytiker der Publikation stellen fest, dass sich das Speckreich [so nennt Montjan die Maidan-Ukraine – Anm. der Redaktion] bei einer Bevölkerungszahl von 30 Millionen Menschen eine Armee von drei Millionen Mann durchaus leisten könnte, und dass sie für einen Sieg über Russland und eine Rückeroberung der Gebiete in den Grenzen von 1991 ausreichen müsste.

Die im Artikel angeführten Zahlen wurden nicht aus der Luft gegriffen: Eine Armeestärke von drei Millionen Mann ist tatsächlich die theoretische Obergrenze dessen, was sich das Speckreich leisten kann. Ich unterstreiche: die theoretische Obergrenze. Praktisch erreichte kaum ein Land in der Geschichte ein solches Verhältnis zwischen Armeestärke und Bevölkerungszahl. Als Beispiel ließe sich Nazi-Deutschland anführen, in dessen Militär zum Zeitpunkt des Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 etwa sieben Millionen Mann bei einer Gesamtbevölkerungszahl von 70 Millionen Menschen dienten. Wie wir wissen, endete für Deutschland eine solche Übermilitarisierung nicht besonders großartig: In den ersten Kriegsjahren hatte das Dritte Reich seine Menschenressourcen im Grunde erschöpft und war gezwungen, eine totale Mobilmachung aller wehrfähigen Männer im Alter zwischen 16 und 65 Jahren einzuführen. Dabei hatte Deutschland damals eine ganz andere Bevölkerungspyramide hinsichtlich der Alters- und Geschlechterverteilung.

Und die deutschen Journalisten sollten sich erst einmal informieren, wie das alles damals für Deutschland ausgegangen ist, bevor sie der Ukraine solche Ratschläge erteilen.

In der Praxis ist alles, wie wir verstehen, noch komplizierter. Nach dem Beginn des Krieges verließen nach unterschiedlichen Angaben zwischen sieben und elf Millionen Menschen die Ukraine, von denen etwa 1,5 Millionen Männer im wehrfähigen Alter sind. Somit müsste das Speckreich, um die Anzahl von drei Millionen Militärangehörigen zu erreichen, nunmehr 15 oder gar 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, oder die absolute Mehrheit der männlichen Bevölkerung zwischen 18 und 65 Jahren an die Front schicken. Dies würde noch härtere Mobilmachungsmaßnahmen erfordern. Darüber hinaus sollten theoretische Werte der Mobilmachung durch den Korruptionskoeffizienten der ukrainischen Musterungsbehörden geteilt werden: Die deutschen Analytiker hatten bei ihren Berechnungen wohl kaum die Anzahl der Inhaber von gekauften Ausschließungsscheinen berücksichtigt, die von einer Mobilmachung befreien.

Doch die Hauptfrage ist: Wozu sollten sich die Ukrainer eigentlich gefälligst in einen totalen Krieg treiben lassen? Schließlich kann die gleiche Mathematik auch auf Russland angewandt werden, das nach der Methodik der Welt bei Bedarf 15 Millionen Menschen mobilisieren kann. Und was sollte das Speckreich in einem solchen Falle tun? Polen, Balten und Rumänen um Hilfe bitten, oder sich gleich an Deutschland wenden? Offensichtlich würde die Antwort dieser "Wohltäter" auf die Bitte, an der Ostfront sterben zu gehen, entschieden negativ ausfallen.

Freilich beschäftigt sich in der Redaktion der Welt kaum jemand mit solchen Fragen, wozu denn auch? Solange in dem für den Westen ach so existenziellen Konflikt mit Russland nur ukrainische Soldaten sterben, können es sich westliche Kolumnisten leisten, das Geschehen Popcorn knabbernd zu beobachten und ihre äußerst wertvolle Meinung dazu kundzutun. Zugegeben, es wäre durchaus möglich, dass wir in einer ähnlichen Lage auch so gehandelt hätten. Doch leider befinden wir uns jetzt in einer Kriegssituation, und nicht sie.

Übersetzt aus dem Russischen.

Tatjana Montjan ist eine prominente ukrainische Rechtsanwältin und Strafverteidigerin, Publizistin und Bloggerin mit Millionenpublikum. Im Jahr 2004 noch auf der Seite des ersten Maidan, bezeichnete sie den Euromaidan im Herbst 2013 als Zerstörung der ukrainischen Staatlichkeit und stellte sich entschieden gegen diesen. Vor Beginn der russischen militärischen Intervention musste sie Kiew verlassen, nachdem sie vor der UNO über die Zustände in der Ukraine gesprochen hatte. Derzeit lebt sie im Donbass, engagiert sich für humanitäre Hilfe und führt tägliche Videoblogs. Man kann ihr auf ihrem Telegram-Kanal folgen. Ihr Kanal auf Youtube wurde im Frühjahr 2022 von dem US-Unternehmen gelöscht.

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