Meinung

Prigoschin und das Schreckgespenst Putin

Putin ist schuld, heißt es im deutschen Blätterwald, und dabei wird wieder einmal das Bild eines Ungeheuers gezeichnet. Dann sollten aber die ihm zugeschriebenen Eigenschaften wenigstens zum Ergebnis passen. Doch nicht einmal das funktioniert.
Prigoschin und das Schreckgespenst PutinQuelle: Sputnik © Aleksei Nikolskij

Von Dagmar Henn

Es geht wie immer ganz schnell. Schon lange, ehe die Fakten klar sind (und das bezieht so grundlegende Fragen mit ein, ob es sich nicht doch um einen Unfall handelte oder ob Jewgeni Prigoschin tatsächlich an Bord dieses Flugzeugs war), steht die Antwort bereits fest: Putin war's!

Deutschlands oberste Rüstungslobbyistin, Marie-Agnes Strack-Zimmermann, hat sich etwa bereits zu Wort gemeldet:

"Dass Prigoschin seinen Angriff auf Putin mit dem Leben bezahlen wird, davon war auszugehen: ein Teufel, der sich mit dem Teufel einlässt – Es zeigt aber auch, dass offensichtlich große Nervosität bei Putin und seinen Schergen im Kreml herrscht."

Gabor Steingart fügte in seinem Kommentar im Focus zu dieser Aussage der Frau mit der Dracula-Frisur noch seine eigenen Fantasien über Putin hinzu:

"Er verherrlicht Gewalt. Er zelebriert den Führerstaat. Der Andersdenkende bereichert ihn nicht, sondern weckt in ihm die Tötungslust."

Selbst das Lokalblatt Kölnische Rundschau leistet sich einen Politologen, der ihm erklärt, dass Putin an Prigoschin "das Exempel statuiert hat, auf das man gewartet hat". Es ist jetzt schon abzusehen, dass die Ergebnisse der russischen Ermittlungen auf die veröffentlichte Meinung in Deutschland keinerlei Einfluss mehr werden ausüben können, der Schuldige wurde bereits identifiziert, und daran wird sich auch nichts ändern.

Was übrigens, nur, um das Thema noch mal in Erinnerung zu rufen, belegt, wie absolut unmöglich es war, die Sprengung von Nord Stream Russland in die Schuhe zu schieben, und dass die Anweisung, dieses Thema zu beschweigen, sehr schnell erfolgt sein muss. Denn hätte es den geringsten Hauch einer Chance gegeben, sämtliche deutschen Blätter hätten sich mit der Botschaft überschlagen: Putin war's!

Auch die Frage, warum, scheint schnell geklärt. Die Ereignisse im Juni, die im Westen gleich zu einem "Putschversuch" aufgeblasen wurden, seien der Grund; der Schurke Putin wolle sich rächen. Wobei nähere Überlegungen, ob Art und Weise dieser vermeintlichen Rache überhaupt einen Sinn ergeben, konsequent unterbleiben.

Dass die ganze Vorstellung vom "Alleinherrscher" Putin völliger Unfug ist, weil es noch nie, nirgends, Alleinherrscher gegeben hat, sobald die entsprechende Gruppe Menschen größer als ein Dorf ist; dass das Verhalten, das der russischen Regierung und insbesondere Putin persönlich unterstellt wird, historisch weitaus eher als Verhalten der USA belegt ist, und dass selbst das Vorgehen während der militärischen Sonderoperation – mit statistischen Daten belegt – der Zivilbevölkerung gegenüber weitaus schonender ist als alle Kriege, die die USA seit 1945 vom Zaun gebrochen haben: Lassen wir das alles einmal dahingestellt.

Tun wir einfach mal so, als handele es sich beim russischen Präsidenten tatsächlich um das kaltblütige, gerissene, alles kontrollierende Ungeheuer, das die westliche Presse aus ihm macht, und überprüfen, ob die unterstellte Handlung dann Sinn ergäbe.

Der erste Punkt, der irritiert, ist ganz simpel. Wenn man einen ganzen Staatsapparat kontrolliert und, so die Meinung der westlichen Presse, auch die Justiz völlig in der Hand hat, warum dann überhaupt ein solches Drama abziehen, statt den vermeintlichen Gegner schlicht auf dem Flugplatz (oder sonst wo) zu verhaften, vor Gericht zu stellen, abzuurteilen und dann, so es wirklich nötig ist, in Haft versterben zu lassen? Klar, diese Schreckgestalt, die aus Putin gemacht wird, würde nicht davor zurückschrecken, mal eben zwei Piloten und eine Flugbegleiterin mit zu ermorden, aber wenn man schlechte PR vermeiden kann und es in der Hand hätte, alles zumindest legal aussehen zu lassen, warum sollte man dies nicht tun? Immerhin wären die Handlungen von Prigoschin im Juni in jedem Land strafbar und um Zehnerpotenzen gefährlicher als der deutsche Rollatorputsch.

Selbst wenn es, aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen eines Mafia-Kodex, unverzichtbar wäre, einen Mord zu begehen, es gibt doch so viele Möglichkeiten dazu. Derart sichtbar, auf eigenem Gebiet? Die Argumentation, die sich dafür in der deutschen Presse findet, lautet, Putin habe den Oligarchen eine Botschaft schicken wollen, dass Ungehorsam mit dem Tod bestraft werde. Wenn es darum geht, gibt es eine ganze Reihe von erstklassigen Kandidaten, die sich im Westen aufhalten, am Tegernsee beispielsweise, die, im Gegensatz zu Prigoschin, unter keinerlei Umständen mehr nützlich wären. Und um einer begrenzten Zahl von Personen eine Botschaft zu schicken, braucht es auch keinen öffentlich sichtbaren Flugzeugabsturz. Da hätte es ein etwas zweifelhafter Autounfall oder eine plötzliche Überdosis auch getan.

Aber davor liegt eigentlich noch eine ganze Reihe weiterer Fragen. Die Berichterstattung damals, insbesondere die Aussagen des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko, legt nahe, dass es zu einer Art Übereinkunft zwischen Prigoschin und Putin gekommen ist. Nun, wenn man alle drei Teile des Paten gesehen hat, weiß man, dass es nie eine gute Idee ist, sein Wort zu brechen. Nicht einmal für den Kopf der Köpfe, den Capo dei Capi. Jede Form menschlicher Organisation besitzt eine Binnenverfassung, ein eigenes Rechtssystem, und informelle Rechtssysteme, in denen persönliche Loyalität eine starke Rolle spielt, legen einen sehr hohen Wert auf die Verbindlichkeit von Abmachungen.

Mit anderen Worten: Wollte man tatsächlich einen Mafia-Kodex anlegen, dann wäre es zwar völlig in Ordnung, wenn nicht gar erforderlich gewesen, den aufmüpfigen Untergebenen aus dem Weg zu räumen, wenn es keine Vereinbarung gegeben hätte; da es aber eine solche gab, würde eine solche Handlung die Ehre desjenigen, der seine Zusagen durch diese Tat bricht, irreparabel beschädigen. Das würde in solchen Zusammenhängen noch immer nicht bedeuten, dass das Gegenüber sicher wäre, aber es würde das erfordern, was die US-Geheimdienste so lieben, die "plausible deniability", die glaubwürdige Abstreitbarkeit.

Mit dem Bild des Paten Putin kommen wir also nicht weiter. Falsche Methode, falsche Umstände. Verschieben wir den Charakter also ein bisschen und nehmen eine andere Charakterisierung, die gerne genutzt wird: die des eiskalten KGB-Killers.

Auch hier passen die Umstände nicht (nur noch einmal, damit es klar ist – wir reden hier nicht vom wirklichen KGB, sondern von dem Bild, das die westlichen Medien davon zeichnen, so etwas wie die CIA auf Steroiden). Geheimdienste heißen deshalb Geheimdienste, weil sie vor allem im Geheimen handeln. Strukturen wie die ukrainische SBU, die eher so etwas wie eine Kreuzung aus CIA und Werbeagentur ist, sind wirklich die Ausnahme. Außerdem sind Kollateralschäden in diesem Gewerbe rufschädigend. Das Militär mit seinen recht groben Mitteln kann sich das leisten, aber selbst die CIA hat ihre vielen Mordanschläge auf Fidel Castro nicht mit großen Bomben verübt.

Wenn wir aber jetzt schon bei kaltblütig-berechnend sind – warum eigentlich überhaupt auf eine solche Weise eingreifen? Wenn ein Geheimdienst jede Person, der er nicht vertrauen kann, gleich um die Ecke brächte, dann wäre er von Leichenbergen umgeben. Im Normalfall wird noch nicht einmal ein enttarnter gegnerischer Agent aus dem Verkehr gezogen; das passiert nur, wenn es unvermeidlich ist. Es ergibt viel mehr Sinn, ihn weiter agieren zu lassen, aber dafür die Informationen, die er erhält, oder die Dinge, zu denen er Zugang hat, im eigenen Interesse zu kontrollieren.

Der kaltblütige Agent, der ja, wie die deutsche Presse weiß, auf Wiederherstellung des russischen Imperiums aus ist, würde den Teufel tun und Prigoschin jetzt ermorden, wenn er in Afrika noch äußerst nützlich sein könnte. Menschen, denen man nicht vertraut, die aber noch nützlich sein können, entfernt man nicht; man stellt sie nur an jene Stelle auf dem globalen Spielbrett, an der sie mehr nutzen als schaden.

Mit einem Schema moralisch unbegrenzter Effizienz kommen wir also auch nicht weiter. Bliebe noch die Version des rachsüchtigen Irren. Selbst das wird Putin immer wieder unterstellt. Lassen wir einmal die doch längere Liste übergangener Kandidaten beiseite (wie jenes Herrn am Tegernsee), und stellen uns vor, Prigoschin wäre das Ziel eines rachsüchtigen Putin gewesen.

Auch das führt nirgendwohin. Die bisher bekannteste Theorie spricht von einem Sprengsatz im Radkasten; das Hauptargument, das gegen einen Unfall spricht, ist, dass aus dem Flugzeug nicht kommuniziert wurde, obwohl vor dem Absturz eine längere Phase des Sinkens lag. Mal ehrlich, ein Knall und dann Bewusstlosigkeit, was ist das für eine Rache, wenn man angeblich einen ganzen Staatsapparat mit einem Fingerschnipsen in Bewegung setzen kann?

Da gäbe es ganz andere Optionen. Der Einstieg wäre erst einmal, das Ziel finanziell auszutrocknen. Jedes Stück Besitz und Macht einzeln und langsam zu entziehen. Das eine oder andere persönliche Unglück zu arrangieren. Und dann, wenn das Opfer völlig zermürbt ist, entspannt auf eine Tasse Tee vorbeimarschieren und fragen, wie es so geht.

Wirklich, man muss nur Shakespeare gesehen haben, und man hat eine präzisere Vorstellung von Rache. Oder diese alten Fernsehserien wie Dallas. Eine wirklich rachsüchtige Persönlichkeit agiert anders, denn dann geht es nicht um Effizienz, es geht um Befriedigung. Um Demütigung. Bei dieser Version würde zwar die Sichtbarkeit überhaupt nicht stören, aber es wäre alles zu schnell.

Habe ich noch eine Variante eines fiktiven Putin vergessen? Irgendeines dieser Schreckgespenster nicht abgearbeitet?

Bezogen auf den realen Kreml in der wirklichen Welt, nicht dem Gruselroman, den die deutsche Presse gerne macht, ist übrigens die Frage des gegebenen Worts alles andere als irrelevant, auch wenn das nichts mit Mafia-Regeln zu tun hat. Denn interessanterweise ist es auch im diplomatischen Handeln wichtig, und viele der diplomatischen Erfolge Russlands beruhen auf seiner Verlässlichkeit. Dies ist viel zu wichtig, als dass ein russischer Präsident einfach mal sein Wort brechen könnte. Nur, weil der kollektive Westen das für sein natürliches Recht hält und nach Strich und Faden betrügt, wie bei den Minsker Abkommen, heißt das noch lange nicht, dass es der Kreml ebenso halten kann oder will.

Auf der Liste jener, die von diesem Absturz möglicherweise, sofern sich die Passagierliste bestätigt, profitieren könnten, steht die Regierung der Russischen Föderation ohnehin weit unten. Angeführt wird diese Liste von Frankreich, dessen Regierung derzeit in ziemlicher Panik ist, weil ein Verlust der afrikanischen Kolonien schlicht nicht zu kompensieren wäre. Auf die Wucht der antikolonialen Bewegung, die sich derzeit in Afrika entfaltet, hat Paris keine Antwort. Selbst wenn die Vorstellung, dass Wagner durch diesen Absturz handlungsunfähig würde, eher ins Reich der Träume gehört (ein Unternehmen dieser Größe, gleich, in welcher Branche, hat immer Ersatz für seine Führung), die Lage ist verzweifelt genug, dass es jeden Versuch wert wäre, der auch nur einen Hauch einer Chance auf Erfolg hat.

Ach ja, und dann ist da noch der Nationalfeiertag der Ukraine mit der dortigen Angewohnheit, sich dazu etwas Unsinniges und Blutiges einfallen zu lassen. Zumindest, solange die westlichen Freunde dabei Händchen halten und bei der Umsetzung helfen.

Man könnte getrost auch noch die ganze US-Buchstabensuppe mit auf die Liste nehmen und eine Reihe von Konzernen, die Westafrika bisher ausplündern konnten (das vergisst man gerne, dass fast jeder große Konzern seinen eigenen Geheimdienst betreibt, nicht nur die Staaten), und man könnte sogar die unmittelbare Konkurrenz wie Academi-Blackwater dazunehmen.

Übrigens, interessant ist ein kleiner Artikel auf t-online in diesem Zusammenhang. Er thematisiert, dass der brasilianische Hersteller von kleineren Passagierflugzeugen, Embraer, bisher eine makellose Bilanz gehabt habe, was Unfälle angeht, und dass der Absturz bei Twer der Firma schaden könnte. Nachdem t-online ein Medium ist, das zumindest gern das Sprachrohr für den deutschen Inlandsgeheimdienst gibt, also womöglich auch für andere Zweige ein offenes Ohr hat, und Brasilien Teil von BRICS ist, fragt man sich, ob das Berichterstattung ist oder eine Drohung. Letzteres würde allerdings nur funktionieren, wenn – nun ja, noch eine Position auf der Liste.

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