Wittlich oder: Deutsche Behörden mit Stockholm-Syndrom?
Von Dagmar Henn
Es ist, als wolle man die gesamten geopolitischen Komplikationen um und in Deutschland in einem einzigen Moment zusammenballen. Inzwischen steht fest, das Opfer von Wittlich war ausgerechnet Deutschrusse, und die deutschen Behörden tun ihr Bestes, um mit dem Fall nichts zu tun zu haben.
In der Nacht auf vergangenen Samstag, so die bisher bekannten Details, kam es zu einem Streit zwischen Michael O., dem 28-jährigen Inhaber einer Sicherheitsfirma, und einer Gruppe aus zwei Männern und zwei Frauen, im Umfeld der Wittlicher Säubrennerkirmes, aber nicht auf dieser. Der Vorfall ereignete sich zwischen zwei und drei Uhr nachts.
Im Verlauf dieses Streits wurde der junge Mann durch mehrere Stiche in den Oberkörper schwer verletzt und ist, so das Ergebnis der Obduktion, verblutet, obwohl der Rettungsdienst schnell vor Ort war. Die vermutliche Tatwaffe wurde in einem nahe gelegenen Fluss gefunden. Es handelte sich nach Presseberichten um ein sogenanntes "taktisches Messer", was leider wenig besagt, weder, ob es ein Messer mit feststehender Klinge ist, noch, wie lang diese Klinge ist, sondern nur, dass die Klinge besonders stabil ist. Bezogen darauf, ob das Messer nach deutschem Recht als Waffe gesehen wird, wären die anderen Eigenschaften ausschlaggebend.
Bereits am Sonntag wurden zwei Verdächtige festgenommen, aber nach kurzer Zeit den US-Behörden übergeben, weil es sich um zwei US-Bürger handelt, die in den ersten Tagen vage als "Militärangehörige" bezeichnet wurden (was womöglich auch Zivilbeschäftigte mit einschließen könnte), inzwischen in der Presse aber Soldaten genannt werden. Wenige Kilometer von Wittlich entfernt liegt der US-Luftwaffenstützpunkt Spangdahlem, in dem die beiden Verdächtigen derzeit auch inhaftiert sind.
Worum es bei dem Streit ging, ist nicht näher bekannt. Einzig eine Pressemeldung kolportiert die Nachricht, einer der beiden Verdächtigen könne sich an nichts erinnern. Weitere Erkenntnisse sind auch kaum zu erwarten, da die deutsche Staatsanwaltschaft den Fall abgegeben hat, auch wenn die örtliche Polizei nach wie vor in Anspruch genommen werden wird, weil die US-Ermittler ihrerseits keinerlei polizeiliche Befugnisse gegenüber der deutschen Bevölkerung haben.
Der Ablauf der Tat legt eine Tötungsabsicht nahe. Mehrere Stiche in den Oberkörper eines Gegenübers, dem man noch dazu zwei zu eins überlegen ist, machen es schwer, das Ganze als Körperverletzung mit Todesfolge einzusortieren. Zumindest, wenn der Fall vor einem deutschen Gericht verhandelt würde. Gerade in Bezug auf diese Frage wird in der deutschen Presse, bis hin zur Tagesschau, entweder direkt gelogen oder zumindest nur die halbe Wahrheit erzählt. Denn es ist mitnichten so, dass das Verfahren vor einem US-Gericht stattfinden muss. In Wirklichkeit ist das eine politische Entscheidung.
Denn in den Protokollnotizen und Erklärungen zum Zusatzabkommen zur Stationierung ausländischer Truppen in Deutschland von 1963 heißt es in Bezug auf Artikel 19 explizit, wesentliche Belange der deutschen Rechtspflege könnten die Ausübung der deutschen Gerichtsbarkeit insbesondere bei "Straftaten, durch die der Tod eines Menschen verursacht wird", erfordern.
Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern hat es vor wenigen Tagen, das lässt sich unter anderem der Berichterstattung bei der Tagesschau entnehmen, nötig gefunden, wenigstens etwas genauer über die Frage der konkurrierenden Gerichtsbarkeit zu informieren, sprich, darauf hinzuweisen, dass das NATO-Truppenstatut keinesfalls zwangsläufig zu einer Verhandlung vor einem US-Gericht führe. Sie hat dann aber schlicht mitgeteilt (die Aussagen lassen sich nur aus den Zitaten rekonstruieren, weil die Webseite der Behörde keine Presseerklärung zu dem Fall liefert), in der Regel werde der Prozessführung durch US-Gerichte nur widersprochen, wenn den Tätern in den USA die Todesstrafe drohe.
Das mag sein, ist aber keine Antwort auf die Frage, warum die deutsche Justiz in diesem Fall nicht, wie das die Protokollnotiz explizit für derartige Straftaten vorsieht, eine Zuständigkeit der deutschen Gerichtsbarkeit einfordert. Das ist eine politische Entscheidung, die zumindest vernünftig begründet werden müsste. Praktischerweise ist die Presse derart handzahm und rechercheunwillig, dass die Frage nicht einmal ernsthaft aufgeworfen wird.
Die Familie des Opfers sammelt inzwischen Spenden, weil ein Prozess in den USA bedeutet, dass eine Nebenklage, die bei einem deutschen Gericht kein großes Problem wäre, zu einer finanziellen und organisatorischen Herausforderung wird. Aber warum sollte das überhaupt nötig sein? Es verbleibt noch eine weitere Woche, in der das Verfahren an die deutsche Gerichtsbarkeit geholt werden kann.
Das Motiv, warum die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern oder, wahrscheinlicher, der Innenminister des Bundeslands Rheinland-Pfalz einen Prozess fürchtet, in dem es womöglich um einen Mord an einem Einheimischen durch zwei US-Soldaten geht, ist leicht erkennbar. Die Bevölkerung von Rheinland-Pfalz ist sehr gespalten, was die Anwesenheit dieser Truppen betrifft. Einige machen gute Geschäfte damit oder arbeiten auf den Stützpunkten, sind also davon abhängig und darum für eine Fortsetzung dieser Anwesenheit (in Spangdahlem sind 5.000 Soldaten der US-Airforce stationiert, in ganz Rheinland-Pfalz die Hälfte der in Deutschland befindlichen US-Truppen). Andere protestieren gegen den Fluglärm oder engagieren sich seit Jahren gegen die Stationierung an sich und wünschen eine friedliche Eifel.
Ereignisse wie die Sprengung von Nord Stream dürften diese Gemengelage nicht gerade entschärft haben, ebenso wie der verstärkte militärische Verkehr, der rund um jede Niederlassung von NATO-Truppen zu verzeichnen ist. Örtliche Politiker versuchen in der Regel, einfach so zu tun, als gäbe es keine Probleme, und sich gar nicht weiter damit zu befassen, außer, es wären Arbeitsplätze bedroht ‒ aber ein Ereignis wie die Tat von Wittlich ruft natürlich viele Dinge wieder ins Gedächtnis, die meist verdrängt werden.
Wobei das Verhalten des rheinland-pfälzischen Innenministeriums politisch genau das Falsche ist, so denn signalisiert werden soll, dass es sich bei diesen Truppen um keine Besatzung handelt. Wollte man den Eindruck fördern, dem sei nicht so, dann wäre es geradezu eine Notwendigkeit, eine Verhandlung vor einem deutschen Gericht einzufordern. Es kann allerdings auch sein, dass Michael Ebling, der 2022 relativ plötzlich vom Amt des Mainzer Oberbürgermeisters in das des Innenministers wechselte, als sein Vorgänger Roger Lewentz wegen der Ahrtal-Flut zurücktreten musste, schlicht den Konflikt scheut. Bei der gegenwärtigen Generation von Politikern kann man das nie wissen, da muss man nur das wachsweiche Gehabe der Bundesregierung den amerikanischen "Freunden" gegenüber betrachten. So, wie das US-Militär in Rheinland-Pfalz eingegraben ist, könnte es sich schlicht um eine Form des Stockholm-Syndroms handeln.
Das Opfer vom vergangenen Wochenende jedenfalls war, das findet sich in den verschiedensten Meldungen, im Ort beliebt. Bis vor einigen Jahren hatte er an MMA-Wettkämpfen teilgenommen und danach zusammen mit einem Freund ein Sicherheitsunternehmen aufgebaut. Er wohnte mit seinen Eltern in dem Haus, vor dem er erstochen wurde. Selbst der Bürgermeister der Stadt nennt ihn einen "netten, umgänglichen jungen Mann". Die beiden US-Soldaten sind 25 und 26 Jahre alt. Das ist alles, was von ihnen bekannt ist, und dabei wird es vermutlich auch bleiben. Für die deutschen Behörden, so erklärte Polizeisprecher Marc Fleischmann, sei der Fall abgeschlossen.
Warum hatte einer der beiden überhaupt ein Messer dabei? Worum ging es bei diesem Streit? Wenn man sich die Selbstbeschreibung der Sicherheitsfirma betrachtet, hat man eher den Eindruck, da handele es sich um Personen, die wissen, wie man deeskaliert. Man kann natürlich nichts ausschließen, aber es scheint eher unwahrscheinlich, dass das Opfer Streit gesucht hat. Hat die ganze Geschichte womöglich mit seiner Abstammung zu tun? Auch das kann man heutzutage nicht ausschließen...
Für den Ort Wittlich wie für die ganze Region wäre ein offener Umgang, sprich, eine Gerichtsverhandlung vor einem deutschen Gericht, wichtig. Orte in der Gegend überlegen bereits, ob sie für ihre Volksfeste ein neues Sicherheitskonzept brauchen. Das spricht für eine tiefere Verunsicherung. Die Tatsache, dass der Wittlicher Bürgermeister wegen seiner Entscheidung, die Kirmes dennoch fortzusetzen, Drohbriefe erhielt, ist eigentlich auch ein Anzeichen für verdrängte Konflikte. Wobei die Reaktion darauf in einem Abspulen des bereits vertrauten Musters bestand: Der Geschäftsführer des Städte- und Gemeindebunds Rheinland-Pfalz äußerte sogleich, es brauche "ein Aufstehen der schweigenden Mehrheit gegen Hass und Hetze".
Das klingt eigenartig vertraut und folgt dem Muster, das man beispielsweise aus Chemnitz noch erinnert, dessen Bürgermeisterin sich damals nach dem Mord in der Innenstadt vor allem darum sorgte, die Tat könne von Rechten ausgenutzt werden, und darüber sogar das Beileid an die Familie des Opfers vergaß. Statt solche Drohungen als Signal zu sehen, dass da wohl vieles nicht ausgesprochen wird und dass da womöglich ein schon länger schwelender Zorn ist, der sich nur zufällig gegen den Bürgermeister richtet, weil dieser über die Tat hinwegzugehen scheint, wird einfach die Schublade "Hass und Hetze" geöffnet und das Problem dort abgelegt.
Wie gesagt, eine kluge politische Reaktion wäre es, den Prozess vor ein deutsches Gericht zu bringen. Das würde auch signalisieren, dass man die Sache ernst nimmt. Es mag ja sein, dass unter Umständen die Strafen, die das US-Gericht verhängt, schwerer werden (wobei das Gegenteil eher der historischen Erfahrung entspricht, wenn es um US-Soldaten in Deutschland geht), aber den Fall einfach wegdrücken, weil es so bequem ist, das sorgt mitnichten dafür, dass sich die Atmosphäre zwischen jenen Einheimischen, die lieber keine US-Truppen dort stationiert hätten, und diesen Truppen verbessert.
Dass da einiges im Argen liegt, lässt sich aus einem aktuellen Bericht über einen Verein namens "Host Nation Council Spangdahlem" entnehmen (übersetzt so etwas wie "Rat des Gastlandes"). "Dem Verein sei aber wichtig, dass ein solches furchtbares Ereignis nicht dazu führen dürfe, dass ein Standort wie Spangdahlem wieder mehr als Ghetto betrachtet werde, wo die Menschen eher unter sich bleiben sollen", sagt der Vorsitzende Jan Niewodniczanski. Wäre diese blutige Nacht in Wittlich der einzige Vorfall, würde dieser Satz anders klingen. Das erweckt eher den Eindruck, es sei in letzter Zeit, womöglich in den letzten Jahren, eine ganze Menge mehr passiert, und jetzt bestünde ernsthafte Gefahr, dass die einen mit den anderen nichts mehr zu tun haben wollten.
"Junge Soldatinnen und Soldaten kommen fast jede Woche am US-Luftwaffenstützpunkt Spangdahlem an. Sie bleiben meist nicht lange und haben vom Leben in Deutschland oft keine Vorstellung." So der SWR-Bericht. Der Verein hat sich Integration auf die Fahnen geschrieben. Das ist bei einem vorübergehenden Aufenthalt natürlich utopisch. Aber die Mitglieder dieses Vereins gehören ohnehin nicht zu den Kritikern der US-Präsenz – er wurde 2003 gegründet, während des Irakkriegs, als die Mehrheit der Deutschen mit den US-Stützpunkten in Deutschland eher die Vorbereitungen zu einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg verband.
Diesen Samstag begeht dieser Verein im Gemeindehaus Spangdahlem sein 20-jähriges Bestehen, und der rheinland-pfälzische Innenminister soll aus diesem Anlass auch erscheinen. Vielleicht hat er ja dort die Gelegenheit, zu erklären, warum er das Verfahren nicht für die deutsche Gerichtsbarkeit reklamiert.
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