Neiddebatte: Bürgergeld und Lohnabstandsgebot
Von Gert Ewen Ungar
Es sind bizarre Zahlen, die darauf hindeuten, dass in Deutschland etwas grundlegend gegeneinander arbeitet. Das Bürgergeld wird zum 1. Januar 2024 um 12 Prozent erhöht, der Mindestlohn – ebenfalls zum 1. Januar – um 3,4 Prozent, und die Reallöhne stiegen in diesem Jahr real minimal um 0,1 Prozent. Konkret heißt das, einen nennenswerten realen Zuwachs verzeichnen lediglich die Bezieher von Bürgergeld. Die Anhebung des Mindestlohns gleicht die für das Jahr 2023 prognostizierte Inflationsrate von 5,1 Prozent nicht aus, denn dem minimalen Zuwachs der durchschnittlichen Reallohnsteigerung um 0,1 Prozent waren im vergangen Jahr massive Reallohnverluste vorausgegangen. Den Zahlen fehlt jede Balance, und die sich dahinter verbergende Realität hat das Zeug dazu, den sozialen Frieden in Deutschland weiter zu stören und die deutsche Gesellschaft noch tiefer zu spalten, als das ohnehin schon der Fall ist.
Dass die Zahlen auf eine Fehlentwicklung deuten, steht außer Frage. Die offene Frage ist, wie darauf zu reagieren ist. In Deutschland wurde gerade wieder eine Neiddebatte ausgelöst – wie das in Deutschland nun einmal so üblich ist. Arbeit müsse sich wieder lohnen, ist die These – die im Kern auch richtig ist. Die daran angeknüpfte Forderung nach einer Senkung des Bürgergelds und nach sozialen Einschnitten ist dagegen falsch.
Dass in der Diskussion das Wort "Lohnabstandsgebot" ausgegraben wurde, ist zu begrüßen. Lohnabstandsgebot bedeutet aber nicht, dass diejenigen, die arbeiten, am Ende des Monats mehr Geld in der Tasche haben müssen, wie der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz es auslegt und damit die Realität grob verzerrt. Im Moment haben sowohl lohnabhängig Beschäftigte, deren Lohn sich am unteren Ende der Gehaltsskala bewegt, als auch Bürgergeld-Empfänger – zumindest am Ende jedes Monats – gleich viel Geld in der Tasche, nämlich gar keins mehr. Das aber ist das wirkliche Problem. Merz aber suggeriert, sowohl Lohnempfänger als auch die Empfänger von Bürgergeld hätten am Monatsende das gleiche Sparguthaben angehäuft. Das ist unlauter – und Merz und all die anderen, die sich dieses schrägen Arguments bedienen, wissen das auch.
Dass jemand, der staatliche Leistungen in Anspruch nimmt, kein Sparguthaben anhäufen kann, ist sogar legitim. Dass ein lohnabhängig Beschäftigter das auch nicht schafft, dagegen nicht. Genau das meint nämlich der Begriff Lohnabstandsgebot. Nun kann man lange überlegen, welche staatlichen Leistungen nötig wären, durch welche Steuersenkungen man Lohnempfänger gegenüber Bürgergeld-Empfängern besser stellen könnte, um darüber die wichtigste Maßnahme zu unterschlagen: In Deutschland müssen die Löhne kräftig steigen.
Sofort wird der Einwand zu hören sein, es herrsche schließlich Tarifautonomie in der Bundesrepublik, die "Politik" mische sich in die "Lohnfindung" nicht ein. Dass dieses Argument bestenfalls fadenscheinig ist, liegt leider spätestens seit der Durchsetzung der Agenda 2010 durch die SPD auch auf der Hand. Außerdem besitzen die verantwortlichen Politiker mit dem Mindestlohn eigentlich einen wirkungsvollen Hebel, um diese Lohnfindung zugunsten der Beschäftigten zu beeinflussen. Der Mindestlohn muss deutlich steigen, um weit mehr als die angekündigten 41 Cent zum 1. Januar 2024. Dass sich ausgerechnet der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil für eine Anhebung um diesen Minimalbetrag selbst lobt, wirkt zynisch, zumal auch er gleichzeitig auf das Lohnabstandsgebot hinweist.
Die Mindestlohnkommission, die für die Festsetzung des Mindestlohns verantwortlich ist, muss mit einem anderen Auftrag ausgestattet werden. Der Mindestlohn hat eine die gesamte Gesellschaft betreffende Funktion. Ihn nur allein zwischen Unternehmern und Beschäftigten, vertreten durch Gewerkschaften, aushandeln zu lassen, wie das jetzt der Fall ist, greift daher zu kurz. Gleichzeitig muss das Prinzip von Flächentarifverträgen wiederbelebt werden. Unternehmer müssen verbindlich zur Kenntnis nehmen, was die Überlassung von Arbeitsleistungen durch die Beschäftigten landesweit üblicherweise kostet. Diese Lohnabhängigen für die möglicherweise mangelhafte Innovationsfähigkeit von Unternehmen den Preis in Form von Lohnsenkungen bezahlen zu lassen, muss wieder der Vergangenheit angehören.
Lohn muss armutsfest sein und den Empfängern den Gang zu irgendeinem Amt ersparen, um erst dort die Existenz sichernde Leistungen zu beantragen. Löhne müssen außerdem die Binnennachfrage der Wirtschaft antreiben und so zum Wachstum beitragen, zumal jetzt klar absehbar ist, dass es mit einem weiterhin durch Export getriebenen Wachstum in Deutschland für lange Zeit vorbei sein wird. Das deutsche Geschäftsmodell "Exportweltmeister" existiert nicht mehr. Es ist den eigenen Sanktionen zum Opfer gefallen. Deutschland muss daher mehr Binnennachfrage generieren, und das geht nur über steigende Löhne.
Lohn muss zudem eine mobilisierende Funktion haben. Das heißt, die maßgeblichen Politiker in Deutschland müssen ihr Denken und den Ton grundlegend ändern. Die Regierungspolitik in Deutschland arbeitet seit Jahren damit, die Angst vor einem drohenden sozialen Abstieg aufrechtzuerhalten. Sie müsste dagegen die Bedingungen für die Freude am Aufstieg schaffen: Ausbildung fördern, Aufstiegsperspektiven eröffnen, soziale Mobilität ermöglichen. Davon ist man in Deutschland jedoch himmelweit entfernt.
Statt Solidarität in der Gesellschaft zu fördern, fördert man Neid und Missgunst. Damit errichtet man aber keine erfolgreiche Volkswirtschaft, wie die vergangenen Dekaden gezeigt haben, sondern zersetzt das zuvor Erreichte. Es ist daher ein grundlegendes wirtschaftspolitisches Umdenken in Deutschland notwendig. Ja: Arbeit muss sich lohnen – aber sie muss sich wirklich lohnen und sie muss wirklich belohnt werden. Sie muss individuellen Wohlstand ermöglichen und dadurch auch den gesellschaftlichen Wohlstand fördern. Bleibt das aus, so steigt Deutschland weiter ab.
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