Meinung

50 Jahre nach Pinochets Putsch – Chiles Erbe der marktradikalen Terrorherrschaft mit "US-Mandat"

Im Jahr 1973 putschte sich in Chile eine Militärjunta unter Augusto Pinochet mithilfe der USA an die Macht. Deren mit Terror und Gewalt durchgesetzte marktradikale Umwälzungen zugunsten der Superreichen wirken bis heute nach. Fast nirgendwo ist die soziale Ungleichheit größer als in Chile.
50 Jahre nach Pinochets Putsch – Chiles Erbe der marktradikalen Terrorherrschaft mit "US-Mandat"Quelle: www.globallookpress.com © Global Look Press

Von Susan Bonath

Chile wird gern als das reichste Land Lateinamerikas gepriesen. Doch diese Darstellung verzerrt den Blick auf die reale Lage der Massen. Denn 50 Jahre nach dem Putsch am 11. September 1973, in dessen Folge der Diktator Augusto Pinochet 17 Jahre lang die Bevölkerung mit Gewalt und Terror unter das Diktat des Marktes zwang, sind die Unterschiede zwischen Arm und Reich in keinem Land der Erde größer als in Chile.

Beim wohlhabendsten Prozent der Bevölkerung konzentriert sich fast ein Drittel des gesamten Reichtums. Die Menschen leiden unter massiven Umweltproblemen und Luftverschmutzung. Öffentliche Daseinsvorsorge ist bis heute Mangelware, superreiche Clans beherrschen große Teile der Wirtschaft und mit ihrer ausufernden Propaganda-Maschine sorgen die USA dafür, dass das so bleibt.

Allende – gescheiterter Hoffnungsträger der Armen

Der Putsch unter General Pinochet war ein neoliberaler Raubzug gegen einen Großteil der chilenischen Bevölkerung, der ohne die finanzielle Unterstützung und den massiven propagandistischen Einfluss der US-Führung wohl undenkbar gewesen wäre. 17 Jahre lang verbreitete die Militärjunta Angst und Schrecken, ließ politische Gegner zu Zehntausenden einsperren, foltern und töten.

Pinochets Gegner waren vor allem Sozialisten, Gewerkschafter und alle Linken, die zuvor die Regierung seines gewählten Vorgängers Salvador Allende unterstützt hatten. Allende, der sich am Tag des Putsches nach offizieller Version das Leben genommen hatte, wohl um von der Militärjunta nicht umgebracht zu werden, gehörte der Unidad Popular an, die sich 1969 durch einen Zusammenschluss von Kommunisten, Sozialisten und mehreren linken Kleinparteien gegründet hatte.

Allendes Partei genoss hohes Ansehen unter den Armen. Und die Zahl der sozial Benachteiligten war hoch in Chile. Allendes Vorgänger, Eduardo Frei Montalva, hatte zwar in den sechs Jahren seiner Regierungszeit versucht, durch eine Landreform und kleinere soziale Zugeständnisse das Elend etwas abzumildern. Doch die reichen Dynastien von Land- und Unternehmenseigentümern wehrten sich massiv dagegen, während den Linken die Bemühungen zu klein erschienen.

Als Allende am 4. September 1970 die Wahlen mit relativer Mehrheit (gut 36 Prozent) gewann, war das Land politisch und sozial gespalten. Die absolute Armut und die Kindersterblichkeit waren hoch. Superreiche Clans und Teile der aufgehetzten Mittelschicht machten bereits während der Wahl gegen ihn mobil. Noch vor seinem Amtsantritt überlebte Allende einen Mordanschlag. Allende war der Hoffnungsträger der Armen.

Geld, Terror, Propaganda: Putsch mit CIA-Hilfe

Derweil mobilisierten die USA ihre Propaganda-Maschine, brachten ihre Geheimdienste in Stellung und begannen, Allendes Gegner zu finanzieren. Schon unter seinem Vorgänger lief ihre CIA-Operation FUBELT, die zuerst darauf abzielte, seine Wahl zu verhindern. Später ging die CIA dazu über, durch Terror und mediale Stimmungsmache das Land zu destabilisieren, um den Putsch vorzubereiten.

Dennoch gelang es dem Sozialisten Allende zu Beginn seiner kurzen Ära durch die teilweise Enteignung von Superreichen, die Verstaatlichung von Schlüsselindustrien und Bodenschätzen, die Übereignung von Land an kleine Bauern und Genossenschaften sowie Reformen im sozialen, im Gesundheits- und Bildungsbereich, die Armut und die Kindersterblichkeit einzudämmen. 1971 wuchs das Bruttoinlandsprodukt um fast zehn Prozent.

Doch harte Wirtschaftssanktionen durch die USA und andere westliche Staaten sorgten zunehmend für Warenknappheit. Das befeuerte die Inflation und ließ den Schwarzmarkt boomen; Chile rutschte in eine vom Westen mit forcierte Wirtschaftskrise. Die Chancen für den geplanten Putsch wuchsen, schließlich gelang er der chilenischen Bourgeoisie in Zusammenarbeit mit der CIA am 11. September 1973.

Neoliberales Experiment unter Fuchtel der "Chicago-Boys"

Nach Pinochets Machtübernahme flohen tausende Chilenen vor Folter und Mord. Die DDR nahm offiziell etwa 2.000, wahrscheinlich aber mehr, politisch verfolgte Chilenen auf. Indigene Stämme, wie beispielsweise die Mapuche, die den größten Anteil dieser Bevölkerungsgruppe stellen, wurden ihres Landes beraubt, das Allende ihnen zuvor zurückgegeben hatte. Pinochet übergab es an wohlhabende Privatiers.

Statt Demokratie und sozialer Errungenschaften sollten die wirtschaftsliberalen "Reformen" dem Land nun Wohlstand bringen. So jedenfalls verkündeten es die Militärjunta und die westliche Propaganda. Chile war sozusagen das Versuchslabor für die Doktrinen des "freien Marktes", das Kernelement der Lehre der Chicagoer Schule, die sich auf die neoliberalen Thesen der Ökonomen Friedrich August von Hayek und Milton Friedmann stützte.

So übergab der Diktator 1975 vier wirtschaftsliberalen Hardlinern der sogenannten "Chicago-Boys" die Führung zentraler Ministerien. Er ernannte Sergio de Castro, Jorge Cauas, Pablo Baraona und Roberto Kelly zu einflussreichen Ressortchefs. Die Ökonomen begannen umgehend mit radikalen Maßnahmen zur Deregulierung des Industrie- und Finanzmarktes, schafften beispielsweise Preiskontrollen ab und senkten die Einfuhrzölle.

Den öffentlichen Sektor hingegen privatisierten sie größtenteils. Unternehmen und Grundstücke gingen an frühere Eigentümer zurück. Auch das öffentliche Bildungssystem verschacherten sie an Privatiers. Wer fortan seine Kinder in eine weiterführende Schule schicken wollte, musste dafür viel Geld bezahlen. Genauso verfuhren sie mit dem Renten- und Sozialversicherungssystem, Anfang der 1980er-Jahre zerschlugen sie nach den Gewerkschaften auch die Berufsverbände, um Gegenwehr zu verhindern.

Hunger und Naturzerstörung

Knapp drei Jahre, nachdem die Militärjunta unter General Pinochet die Macht an sich gerissen hatte, war die Kindersterblichkeit in Chile rapide angestiegen, Armut und Hunger breiteten sich aus. Millionen Kinder waren unterernährt, wie eine Recherche des Spiegels aus dem Jahr 1976 ergab. Doch anstatt den Opfern zu helfen, drosselte das Regime die Sozialleistungen weiter und steckte die Millionen in Touristen-Unterkünfte.

Die Privatisierung und Ökonomisierung fast sämtlicher Ressourcen führte zu gigantischen Umweltschäden. Konzerne holzten endlose Waldflächen ab, sorgten für riesige Müllberge und eine massive Luftverschmutzung, was vor allem in der Hauptstadt Santiago de Chile bis heute ein Problem ist.

Hayek – Ideengeber und Fürsprecher Pinochets

Pinochets theoretischer Vordenker Hayek zeigte sich nach zwei Besuchen 1977 und 1981 in Chile auch persönlich sehr angetan von dessen autoritären, marktradikalen Umwälzungen. In Interviews mit einer chilenischen Zeitung rechtfertigte Hayek die Militärdiktatur, erklärte diese sogar für angemessen, um einen "freien Markt" durchzusetzen.

Obwohl die westliche Presse damals eher wenig über Chile berichtete und schärfere Kritik nur vereinzelt auftauchte, beklagte Hayek nach seinen Chile-Besuchen, es werde ein "unfaires Bild der wirtschaftlichen Situation" unter dem Pinochet-Regime gezeichnet, wie der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler und Historiker Bruce Caldwell in einer umfangreichen Forschungsarbeit von 2014 analysierte.

Schwere Krise nach kurzem Boom

Der vom Westen teils gelobte, aber brutal erkaufte Wirtschaftsboom, der fast ausschließlich die Superreichen und eine eher kleine, aufsteigende Mittelschicht begünstigte, fand aber bald sein Ende. Schon Anfang der 1980er-Jahre stürzte Chile in eine schwere Rezession: Die Realeinkommen sanken in den Keller, die Arbeitslosigkeit wuchs, die Massenverarmung ebenfalls. Und der Finanzmarkt brach weitgehend zusammen; etwa ein Drittel der privaten Banken ging pleite.

Selbst ein Teil der neoliberalen Hardliner sah daraufhin das US-gestützte Experiment unter Pinochet als gescheitert an. Trotzdem gibt es heute noch zahlreiche Wirtschaftsexperten und Professoren, auch in Deutschland, die den Thesen Hayeks vom "freien Markt" verbissen anhängen. Das sogenannte Atlas-Netzwerk rund um die von Hayek selbst mitgegründete Denkfabrik Mont Pèlerin Society in der Schweiz, hat bis heute einen enormen Einfluss auf einige Regierungen, Parteien und staatliche Institutionen.

Das Erbe der neoliberalen Diktatur

Heute, mehr als 30 Jahre nach dem Ende der Ära Pinochet, leiden viele Chilenen unter den Nachwirkungen der neoliberalen Diktatur: extreme Ungleichheit, dadurch bedingte schwere soziale Verwerfungen und eine hohe Kriminalitätsrate, wirtschaftliche und politische Korruption, einflussreiche Oligarchen und eine gespaltene Gesellschaft. Der Staat bekam 1990 zwar ein demokratisches Korsett, doch bis zum März vergangenen Jahres wurde vom neoliberalen Kurs nur wenig abgewichen.

Der seit Frühjahr vergangenen Jahres amtierende Präsident der sozialdemokratischen Partei Convergencia Social, Gabriel Boric, unterstützt nun zwar die sozialen Forderungen der abgehängten Bevölkerungsgruppen, die 2019 zu Hunderttausenden auf Chiles Straßen protestiert hatten. Doch zu tiefgreifend sind die Hinterlassenschaften des vergangenen halben Jahrhunderts.

Es gibt kein Krankenversicherungssystem, der Mindestlohn liegt aktuell umgerechnet bei gut 500 Euro monatlich. Offiziell hat Chile zwar das höchste Bruttoinlandsprodukt Lateinamerikas. Doch allein 30 Prozent des gesamten Vermögens konzentrieren sich beim reichsten Prozent der Bevölkerung. In kaum einem Land der Erde sind die sozialen Unterschiede zwischen Arm und Reich so riesig wie in dem vermeintlichen lateinamerikanischen Vorzeigeland.

Nur schleppend kommt auch die Aufarbeitung der Verbrechen der Militärdiktatur voran. Noch forschen viele Chilenen nach dem Schicksal verschollener Angehöriger, die unter Pinochets Diktatur spurlos verschwanden. Immer wieder tauchen Massengräber aus diesen Zeiten auf, wie Betroffene berichten.

Oligarchenclans und US-Propaganda verhindern Reformen

Jede noch so winzige von Boric angestrebte Sozialreform wird dabei nicht nur von der chilenischen Bourgeoisie heftig bekämpft. Der Einfluss westlicher Propaganda, vor allem aus den USA, ist riesig. Auch dadurch scheitern Borics Bestrebungen, und die Zustimmung für ihn schwand. Seine Anhängerschaft beschränkt sich inzwischen weitgehend auf indigene und andere sehr arme Gruppen.

So konnte der Präsident sein Versprechen einer neuen Verfassung, die von den Protestierenden im Jahr 2019 gefordert wurde und damals in Umfragen 80 Prozent Zustimmung fand, vergangenes Jahr nicht durchsetzen. Diese sah unter anderem soziale Grundrechte, die Dezentralisierung der Politik, den Schutz unterdrückter Minderheiten und verschiedene Umweltauflagen vor.

So gilt in Chile bis heute die "Verfassung" der Militärdiktatur unter Pinochet, die zwischenzeitlich nur leicht modifiziert wurde. Die indigene Bevölkerung, die einen Anteil von etwa elf Prozent stellt, leidet weiterhin unter Diskriminierung. Das Übereinkommen 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) für den Schutz der Rechte Indigener hat Chile noch immer nicht unterzeichnet.

Eine rechte Mehrheit im Parlament verhinderte außerdem eine von Boric anvisierte Steuerreform, wonach reiche Unternehmer mehr von ihren Profiten abgeben sollten. Damit wollte der Sozialdemokrat die Renten erhöhen und das mangelhafte staatliche Gesundheits- und Bildungssystem ausbauen.

Borics Scheitern freut freilich die westlichen Führungen, allen voran die der USA, die stets stramm und freigiebig an der Seite der chilenischen Oligarchen stehen, ihnen notfalls mit brutaler Gewalt die ökonomische Macht nach dem Recht des Stärkeren sichern, während Millionen Arme in Knechtschaft verharren. Vielleicht meinte Pinochets Ideengeber Hayek insgeheim dies, als er sein Werk "Der Weg zur Knechtschaft" verfasste.

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