30 Jahre Jelzins Putsch - Das Geburtsmal, das Russland bis heute trägt
Von Alexej Danckwardt
Am Mittwoch jährte sich ein das moderne Russland bis heute prägendes Ereignis zum 30. Mal: die gewaltsame Auflösung des in den letzten Sowjetjahren frei gewählten Obersten Sowjets der Russischen Föderation. Die Bilder des von Panzern zerschossenen "Weißen Hauses", des damaligen Parlamentssitzes in Moskau, in dem heute die russische Regierung residiert, gingen um die ganze Welt. Bis heute sind die Ereignisse nicht restlos aufgeklärt.
Juristisch gibt es keinen Zweifel: Es handelte sich um einen verfassungswidrigen Umsturz. Begangen – und an diesem Umstand scheitert das klare Denken bei einigen Betrachtern – von dem gewiss rechtmäßigen, wenn auch in seiner Legitimität davor und danach nicht unumstrittenen Präsidenten des Landes, Boris Jelzin. Das mag widersprüchlich klingen, doch auch ein legitimes Staatsoberhaupt kann einen verfassungswidrigen Putsch begehen, wenn es die ihm in der Verfassung eingeräumten Befugnisse überschreitet und damit die verfassungsmäßige Ordnung aushebelt. Und genau dies tat Jelzin in jenem Herbst des Jahres 1993.
Als Streit um Kompetenzen hatte die erste und bislang größte russische Staatskrise nach der Auflösung der Sowjetunion begonnen. In der sowjetischen Tradition und nach der bis dahin gültigen Verfassung war der Kongress der Volksdeputierten das Organ mit dem größten Umfang an Vollmachten. Aus seinen Reihen wählte er den Obersten Sowjet, das Gesetzgebungsorgan für die Zeit zwischen den Tagungen des Kongresses, und nur er war befugt, Änderungen an der Verfassung vorzunehmen.
Seit 1990 gab es jedoch systemwidrig mit dem Präsidentenamt eine zweite Quelle von Macht und Legitimität im russischen Staat. Das rechtliche Verhältnis zwischen dem Präsidenten und dem Kongress der Volksdeputierten wurde in der seit dem Jahr 1978 geltenden und bei Einführung des Präsidentenamtes nur unzureichend ergänzten Verfassung lediglich angerissen, keineswegs war es im Detail geregelt. Konnte der Präsident den Kongress auflösen? Konnte der Kongress den Präsidenten des Amtes entheben? Ausdrückliche Bestimmungen gab es dazu nicht, nur der damalige Artikel 104 deklarierte den Kongress der Volksdeputierten in der sowjetischen Tradition als höchstes Organ des Staates.
Nicht zuletzt wegen des gutsherrenartigen Charakters Jelzins, einem Karrieristen und Parteibonzen im schlechtesten Sinne des Wortes, vor allem aber, weil er die nach Macht und Eigentum an den noch in Volkseigentum stehenden Reichtümern des Landes strebende junge Kapitalistenklasse Russlands repräsentierte, konnte es keine friedliche Koexistenz von zwei faktisch parallelen Machtstrukturen geben. Nicht auf lange Zeit jedenfalls.
Natürlich war der Oberste Sowjet – anders als von der hasserfüllten Propaganda jener Monate behauptet – kein Hort kommunistischer Revanche. Er hatte in den Jahren 1990 und 1991 die zuverlässige Machtbasis Jelzins gebildet, der Auflösung der Sowjetunion zugestimmt und sogar die marktradikalen Reformen mitsamt Hyperinflation und Verelendung von Millionen mitgetragen. Doch, weil in ihm tatsächlich Vertreter des Volkes tagten, regte sich zunehmend Widerstand ob der im Laufe des Jahres 1992 offensichtlich werdenden Folgen von Jelzins Politik. Einer besonders räuberischen und zerstörerischen Privatisierung von Staatsbetrieben, wie sie sowohl von dem zu Oligarchen aufsteigenden Bündnis von ehemaligen Komsomolfunktionären und ehemaligen Mafiosi als auch von Jelzins Gönnern im Westen angestrebt wurde, stimmten diese nicht zu.
Jelzin suchte nach Wegen, den Obersten Sowjet durch eine grundlegende Verfassungsreform zu entmachten und so den Weg für die Privatisierung zu ebnen. Als Erstes setzte er ein Volksreferendum zur Wirtschaftspolitik der Regierung durch, das er am 25. April 1993 mit 58,1 Prozent der Stimmen gewann. Als Zweites legte eine von Jelzin mit zweifelhafter Legitimität einberufene "Verfassungskonferenz aller gesellschaftlichen Kräfte" im Juli den Entwurf einer neuen Verfassung vor.
Der Volksdeputiertenkongress lehnte den Verfassungsentwurf jedoch ab, woraufhin Jelzin ihn am 21. September per Dekret mit der in Russland berühmten Nummer 1400 auflöste und für den 12. Dezember Neuwahlen ankündigte. Der Volksdeputiertenkongress leitete im Gegenzug ein Amtsenthebungsverfahren gegen Jelzin ein. Zugleich vereidigte er den zusammen mit Jelzin direkt gewählten Vizepräsidenten Alexander Ruzkoi als amtierenden Präsidenten.
Streitigkeiten zwischen Verfassungsorganen über den Umfang und die Abgrenzung ihrer Befugnisse sind überall auf der Welt keine Seltenheit. In einer auf Gewaltenteilung beruhenden Demokratie hat das Verfassungsgericht das letzte Wort in diesen Konflikten, in einer Bananenrepublik das Militär. Man könnte theoretisch auch jemand anderes zum obersten Schiedsrichter des Staates bestimmen (den obersten Religionsführer, einen Monarchen, ein Wächtergremium aus besonders angesehenen Bürgern, das Politbüro einer Partei, das Los), doch Russland hatte sich zuvor im Zuge von Gorbatschows Reformen entschieden, ein demokratisches Staatswesen nach westlichem Muster aufzubauen. Und darin hat eben das Urteil des obersten Verfassungsgerichts die höchste Autorität, der sich die streitenden Verfassungsorgane zu fügen haben.
Das russische Verfassungsgericht hat in der Herbstkrise des russischen Staates sein Wort gesprochen, und zwar noch am selben Tag, an dem Jelzin sein Dekret Nummer 1400 erlassen hatte. Das erklärte es ohne Umschweife für verfassungswidrig und damit unwirksam und urteilte darüber hinaus, dass die Handlungen Jelzins seine Amtsenthebung rechtfertigten.
Das juristisch letzte Wort war damit klar und deutlich gesprochen und niemand kann behaupten, dass die Verteidiger des "Weißen Hauses", die zwei Wochen später ihr Leben lassen mussten, im Unrecht waren. Doch Jelzin und seine sich "demokratisch" nennende Gefolgschaft fügten sich dem Verdikt nicht.
Die folgenden Tage hatten zunächst Züge einer Farce. Jelzins Anhänger nutzten ihre faktische Macht dafür, dem Parlament banal die Arbeitsmöglichkeit zu entziehen. Die Telefone wurden abgeschaltet – die Parlamentarier kommunizierten mit der Außenwelt per Funkgerät. Der Strom wurde gekappt – man tagte bei Kerzenlicht. Das Wasser wurde abgeschaltet – die Volksvertreter liefen unrasiert und ungewaschen durch die Flure. Das Gebäude wurde von der Miliz umstellt, also übernachteten die Abgeordneten im Parlamentssitz. Die Propagandamaschine im Westen war damals ganz auf die Linie "Jelzin ist der Gute" eingestellt, sodass die Welt über die ungepflegten und mürrischen Gestalten im Tagungssaal des Parlaments lachte, die sich mit patriotischen Liedern bei Laune hielten. Doch in Wahrheit galten diese Lacher Russland selbst, in dem eine solch dreiste Gesetzlosigkeit eines Staatsoberhaupts möglich war.
Rückblickend betrachtet waren all diese Schritte auf eine Radikalisierung der Abgeordneten und der Verteidiger des frei gewählten Parlaments ausgerichtet. Denn natürlich kann das Abstellen von Strom, Telefon, Wasser und Heizung diejenigen, die im Recht sind und ihre Existenzgrundlagen legal verteidigen, nicht in die Knie vor Willkür und Rechtsbruch zwingen. Ein längeres Vegetieren in einer belagerten Festung führt den Belagerten jedoch in grenzwertige Gemütszustände. Er verliert seinen Realitätssinn und denkt nicht mehr klar, überschätzt seine Kräfte und lässt sich früher oder später zu irrationalem Handeln verleiten. Es brauchte nur eines Funkens, damit das explosive Gemisch detonierte, das mitten in Moskau von einer geschickt und listig hinter den Kulissen planenden Macht zusammengebraut wurde.
Es knallte schließlich am 3. Oktober. Für den Mittag des Tages war eine Großkundgebung von Anhängern des Obersten Sowjets auf dem Oktoberplatz in Moskau geplant. Der Oktoberplatz liegt etwa vier Kilometer vom "Weißen Haus" entfernt, der Weg dorthin führt über die Krim-Brücke über die Moskwa, den Gartenring entlang bis zum Neuen Arbat und dann ein kurzes Stück über diesen nach links. Diesen Weg zu gehen, war zunächst nicht geplant, die Entfernung auch zu groß für Sicherheitsbedenken. Zehntausende hatten sich versammelt, eine beeindruckende Menge, kämpferisch und motiviert, aber gewaltfrei.
Unerwartet und ohne objektiven Grund dazu blockierten Sonderkommandos der Miliz den abgestimmten Kundgebungsort und forderten die Auflösung der Versammlung. Die versammelte Menge geriet dadurch in Rage. Teile der Demonstranten durchbrachen die Absperrungen an der Krim-Brücke. Die Miliz gab dem Druck zeitnah und ohne großen Widerstand nach, und die Menge lief auf der vorstehend beschriebene Route. In Höhe des Außenministeriums setzte die Miliz Tränengas gegen die Protestierenden ein, verschwand jedoch auch dort schnell wieder. Auch der Milizkordon am Weißen Haus selbst löste sich in Luft auf. Siegestrunken erreichten die Massen nach etwa einer Stunde den Parlamentssitz.
Für die dort ausharrenden Abgeordneten schien das die Wende im Machtkampf mit dem Putschisten und Usurpator Jelzin zu sein. Euphorische Reden wurden gehalten, die frische Oktoberluft machte jeden Anwesenden siegestrunken. Gegen 15 Uhr Ortszeit machte Ruzkoi den wohl alles entscheidenden Fehler: Er rief dazu auf, Kolonnen bewaffneter Protestler in das Fernsehzentrum in Ostankino zu entsenden, dieses zu besetzen und von dort Ansprachen an die Nation zu halten.
Was dort geschah, ist bis heute Gegenstand kontroverser Debatten. Fakt ist, dass die Anhänger des Parlaments am Fernsehzentrum von schwer bewaffneten Einheiten der Miliz und der "inneren Armee" erwartet wurden. Es kam zum Schusswechsel, an dessen Ende mindestens 46 Menschen, darunter ein für die ARD arbeitender nordirischer Kameramann, tot waren. In die Studios gelangten die Verteidiger des Parlaments nicht. Die Regisseure der Krise nutzten den Vorfall jedoch für eine dramatische Unterbrechung der laufenden Sendungen, die im ganzen Land eine ganz andere als die von Ruzkoi angestrebte Stimmung machte.
Am nächsten Morgen rollten Panzer an. Ihr Werk, das brennende, rußgeschwärzte "Weiße Haus" hat die ganze Welt gut in Erinnerung. Über die Zahl der Todesopfer an jenem 4. Oktober gibt es teils plausible, teils wilde Gerüchte, die offiziellen Zahlen sprechen von 74 Getöteten unter den Demonstranten.
Vieles blieb unaufgeklärt, zum Beispiel, wer die "unbekannten Scharfschützen" waren, die sowohl am 3. als auch am 4. Oktober auf beide Seiten und auch auf Unbeteiligte geschossen und damit beide Konfliktparteien zusätzlich radikalisiert hatten.
Die Folgen für Russland können hingegen 30 Jahre später sicher beurteilt werden. Zwar hielt sich Jelzin, plötzlich ganz Staatsmann, mit Rache zurück (alle Beteiligten wurden schon im Februar des folgenden Jahres begnadigt; der Vorsitzende des Verfassungsgerichts, Waleri Sorkin, musste zwar zurücktreten, blieb aber Richter und wurde später von Wladimir Putin erneut zum Vorsitzenden des Verfassungsgerichts ernannt), doch die räuberische und für die Volkswirtschaft als Ganzes zerstörerische Privatisierung nahm ihren Lauf. Sie beraubte Russland ganzer Industriebranchen, beispielsweise des bis dahin Boeing und Airbus Konkurrenz machenden zivilen Flugzeugbaus. Sie ließ das kriminell-komsomolzische Konglomerat steinreich und Millionen einfacher Russen bitterarm werden. Millionen überlebten die verhassten 90er Jahre nicht: Selbstmord, unbehandelte Krankheiten, Drogenmissbrauch mit allen Begleiterscheinungen, Geburtenrückgang und kriminelle Bandenkriege addierten sich zu einer demografischen Katastrophe zusammen. Scott Ritter erinnerte kürzlich in mehreren Interviews zu seiner Russland-Reise daran. Und auch ich kann bezeugen, dass in meiner Geburtsstadt, einer Kleinstadt in tiefster russischer Provinz, ganze männliche Jahrgänge der in den 1980ern Geborenen fast vollständig ausgelöscht sind. Das weiß jeder und darüber wird viel und offen geschrieben.
Über die schlimmste Folge des Jelzin-Putsches wird aber viel zu wenig gesprochen, obwohl sie Russland bis heute prägt. Damals verlor das ganze Volk das Gefühl, dass es über das Schicksal seines Landes mitzuentscheiden hat. "Herr im Haus" war ab da eine kleine Clique von Oligarchen und käuflichen Politikern und das spürt bis heute jeder Russe. Ihr Einfluss konnte zwar unter Präsident Putin erheblich zurückgedrängt werden, geltend machen sie ihn bis heute, was das regelmäßige Auftauchen des portugiesisch-britisch-israelischen (wer weiß schon, welche Pässe er noch hat) Bürgers Roman Abramowitsch in Moskauer Regierungsstuben immer wieder anschaulich demonstriert.
Das Volk zum politischen Engagement wachzuküssen, gelang Wladimir Putin bis heute nicht, auch wenn es an Versuchen darum nicht gemangelt hat: Stundenlange Fragemarathons und die Gründung der Volksfront seien als Beispiele angeführt. Zu sehr steckt uns eben noch der "schwarze Oktober" in den Knochen. Zu sehr fürchten wir bis heute, dass man uns wie im Oktober 1993 zu Dutzenden, vielleicht zu Hunderten erschießen wird, wenn die sprichwörtlichen Abramowitschs es wünschen – auch wenn das Recht wie damals auf unserer Seite ist.
Mehr zum Thema – Zum 25. Jahrestag der russischen Verfassungskrise: "Schwarzer Oktober '93"
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