Meinung

Taurus-Debatte: Scheingefechte und ein echtes Problem

Lesen die bundesdeutschen Politiker wirklich selbst aus der westlichen Presse nur jene Artikel, die nach wie vor von einem Sieg der Ukraine träumen? Oder warum wird jetzt gerade die Geschichte mit den Taurus-Raketen wieder hochgekocht, wo viele auf Distanz gehen?
Taurus-Debatte: Scheingefechte und ein echtes ProblemQuelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Wolfgang Maria Weber

Von Dagmar Henn

Wenn man nach der deutschen Presse geht, läuft derzeit eine Neuauflage der politischen Debatte um die Lieferung deutscher Taurus-Raketen an die Ukraine. Die Meldungen erwecken den Eindruck, es sei eine Entscheidung getroffen worden, vielmehr: Sie echauffieren sich, der Vorgabe des gegenwärtigen deutschen Haltungsjournalismus entsprechend, darüber, dass Bundeskanzler Olaf Scholz eine Lieferung ablehne, obwohl man doch allgemein unterstellt habe, er werde in angemessener Zeit schon weich werden.

Auslöser dieser PR-Runde für eine deutsche Taurus-Lieferung ist ein Artikel von Paul Ronzheimer in der Bild, der selbst im Kern auf inoffiziellen – also nicht überprüfbaren – Informationen über Aussagen Scholz' im nicht öffentlichen Teil einer Sitzung des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags in der vergangenen Woche beruht. Sprich, einer der Teilnehmer dieser Sitzung hat Ronzheimer vermeintliche Äußerungen des Bundeskanzlers kolportiert, die dementsprechend mit Vorsicht zu genießen sind, insbesondere, weil Ronzheimer selbst ein notorischer Ukraine-Propagandist ist.

"In der vergangenen Woche wurde der Bundeskanzler nach Bild-Informationen in einer internen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses gefragt, warum Frankreich und Großbritannien Marschflugkörper liefern, aber Deutschland weiterhin nicht. Scholz antwortet daraufhin in der Sitzung nach Angaben von Teilnehmern, dass die beiden Länder 'etwas können, was wir nicht dürfen, damit stellt sich die Frage nicht'."

Dieser Punkt ist überaus interessant, sollte dieses Zitat stimmen. Ronzheimer versucht, zu erläutern, was mit "etwas können, was wir nicht dürfen" gemeint ist, und kommt zu dem Schluss:

"Was Scholz damit offenbar meint: Großbritannien und Frankreich steuern die Geodaten für Raketenziele direkt selbst bei, Großbritannien auch mit eigenem Personal vor Ort."

Hoppla, das ist etwas Neues im deutschen Mainstream, das beiläufige, unauffällige Eingeständnis, dass zumindest die Briten "mit eigenem Personal vor Ort" seien. Übrigens erwähnt Ronzheimer dann noch, britische Regierungsvertreter hätten versucht, die Deutschen von der Lieferung von Taurus-Raketen zu überzeugen ...

Der wirkliche Hintergrund des "etwas können, was wir nicht dürfen" ist allerdings weitaus umfassender als die Frage des "eigenen Personals vor Ort". Dieses dürfte, ja müsste aller Wahrscheinlichkeit nach längst auch in der deutschen Variante gegeben sein, um all die tollen westlichen Hochleistungswaffen zu bedienen, mit denen ein von der Straße weggefangener ukrainischer Soldat mit drei Wochen Ausbildung nicht viel anfangen kann. Man erinnere sich an die Geschichte mit den deutschen Panzersoldaten jüngst, die eines auf jeden Fall war – eine Variante von "Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast".

Nein, den wirklichen Grund würde gerade die Bild nie benennen. Es ist die Tatsache, dass rechtlich zwischen Russland als Nachfolgestaat der Sowjetunion und der Bundesrepublik als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches bis heute nur ein Waffenstillstand herrscht, kein Frieden. (Übrigens, nur als unterhaltsames Detail: Wäre die "Wiedervereinigung" so erfolgt, dass die Bundesrepublik der DDR beigetreten wäre, wäre dieses Thema vermutlich keines mehr, eben wegen dieser Rechtsnachfolge.)

Sollte Scholz sich tatsächlich in dieser Form im Auswärtigen Ausschuss geäußert haben, wäre das das erste Eingeständnis, dass dieser Zustand des Nichtfriedens tatsächlich ein Problem darstellt. Aber natürlich begreifen das weder Ronzheimer noch der Politiker, bei dem er eine Stellungnahme zu seiner Nicht-Nachricht eingeholt hat. CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter nutzt die Gelegenheit für einen ganz besonders dummen Vorwurf, Scholz verwehre der Ukraine die Möglichkeit zum Sieg.

"Er opfert somit bewusst das Leben vieler unschuldiger Ukrainer und stellt sich gegen die Koalitionspartner FDP und Grüne, offenbar weil er nicht will, dass Russland verliert. Das ist bitter und schädlich für die europäische und die deutsche Sicherheit!"

In Wirklichkeit sind es gerade die westlichen Regierungen, die "das Leben unschuldiger Ukrainer" opfern, und das in Mengen, die man sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr vorstellen konnte. Doch wenn Kiesewetter Kontakt mit der Wirklichkeit hätte, müsste er den Ukrainern eine schnelle Kapitulation ans Herz legen, schließlich ist dieser Staat inzwischen nicht nur partiell entvölkert, sondern auch über beide Ohren hinaus verschuldet und wirtschaftlich nicht mehr funktionsfähig, sprich, auf dem besten Weg zu einem europäischen Somalia, auf dem dann vielleicht als große Errungenschaft ein westliches Etikett klebt.

In Wirklichkeit will Kiesewetter vor allem der FDP und den Grünen ein Angebot machen, dass im Zweifelsfalle der Kriegskurs mit der CDU besser fortzusetzen sei als mit Scholz. Was sich aber außerdem hinter diesem scheinbaren Kampf um die Linie verbirgt, ist eine Widerspiegelung der Entwicklung in den USA und jener innerhalb der NATO.

Es ist kein Zufall, dass Ronzheimer von britischem Drängen schreibt. Während nach allen Indizien die Haltung der USA selbst sich momentan im Wandel befindet, sprich, die Ukraine fallen gelassen oder günstigenfalls mit einem Schleifchen versehen den Europäern zur weiteren Finanzierung überreicht wird, und langsam die Brüche innerhalb der EU sichtbarer werden, weil man sich diesen Krieg eigentlich nicht mehr leisten kann, wird aus Großbritannien immer noch auf Eskalation gedrängt.

Abgesehen natürlich von diesem putzigen Rückzieher, den der britische Ministerpräsident Rishi Sunak hinlegte, nur Stunden, nachdem der neue britische Verteidigungsminister seine Ausbilder gleich direkt in die Ukraine hatte verlegen wollen. Ganz so munter scheint das "mit eigenem Personal vor Ort" nicht mehr zu laufen. Auch wenn sich die entsprechenden Meldungen immer im Bereich von "nicht überprüfbar" bewegen, es gibt deutliche Indizien dafür, dass Dichte und Zahl russischer Angriffe auf Söldnerunterkünfte oder Koordinierungszentren, in den auch westliches Personal vertreten ist, zugenommen haben.

Und der Artikel in der New York Times, in dem bestätigt wurde, dass US-Söldner aus der Ukraine in Landstuhl behandelt werden, dürfte nicht deshalb erschienen sein, weil man solche Geschichten gerne öffentlich erzählt. Abgesehen von dem momentan erkennbaren Umschwung in der US-Strategie gibt es noch ein weiteres Motiv, solche Informationen zu veröffentlichen: wenn man fürchten muss, nein, eher, wenn man sich sicher ist, dass sie in nächster Zukunft ohnehin öffentlich werden, und man die letzte Gelegenheit nutzen will, die Erzählung rund um die Information noch kontrollieren zu können.

Zurück zur Taurus-Inszenierung. Inzwischen ist den Grünen aufgefallen, dass die ganze Geschichte, an der nach wie vor nicht mehr dran ist als im ersten Moment (eine Regierungssprecherin teilte mittlerweile trocken mit, es gebe "keinen neuen Sachstand"), zu einem gigantischen Schaulaufen für den CDU-Politiker Kiesewetter wird, was man sich wenige Tage vor Landtagswahlen nicht wirklich gefallen lassen kann. Also meldete sich inzwischen auch Anton Hofreiter zu Wort und erklärte ebendiesen nicht neuen Sachstand zu einem "verheerenden Signal" an Moskau. Ja, ebenjener Hofreiter, der jüngst gemeinsam mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann daran scheiterte, eine Mail an den Bundeskanzler richtig zu adressieren. Wahrscheinlich sagte er sich, wenn er über die Presse kommuniziere, sei die Wahrscheinlichkeit höher, dass die Botschaft den Adressaten auch erreicht.

Seine besondere Art von Humor zeigte Hofreiter auch darin, dass er forderte, Deutschland müsse als "ökonomisch mächtigstes Land Europas" eine "klare Haltung" zeigen; schließlich hat gerade seine Partei viel dazu beigetragen, diesen Zustand zu beenden.

Nüchtern betrachtet wäre die EU gar nicht imstande, den USA die Aufrechterhaltung des ukrainischen Krieges vollständig abzunehmen, mit oder ohne Schleifchen drum herum, und selbst in der morgendlichen Pressemappe von Hofreiter oder Strack-Zimmermann müssten inzwischen einige jener Presseberichte aufgetaucht sein, die die ukrainische Niederlage zumindest andeuten. Von den Auseinandersetzungen in den Vereinigten Staaten ganz zu schweigen, die sich mittlerweile mit dem Stichwort Korruption in der Ukraine auf ein Gebiet begeben haben, auf dem ein bodenloser Sumpf garantiert ist, von dem man sich dann empört und enttäuscht abwenden kann.

Und eines ist eindeutig: Die deutsche Nase steckt jetzt bereits zu tief im ukrainischen Krieg. Wenn aber die US-amerikanische Deckung entfällt, das Geschenkpäckchen also ausgepackt werden soll, dann sind all die Punkte, die schon bei der Lieferung der Panzerhaubitzen kritisch waren, noch weitaus kritischer. Vielleicht ist dieser Groschen bei Scholz bereits gefallen, und er hat mit Schrecken erkannt, dass Deutschland ziemlich nackt und allein dastünde, würde die Nummer mit dem Waffenstillstand gezogen, während die USA damit beschäftigt sind, im Pazifik zu zündeln.

Insofern umweht diese ganze künstlich aufgezogene Debatte ein Hauch von Torschlusspanik. Denn der Zeitraum, in dem man in Deutschland noch politischen Honig aus besonders entschlossener Unterstützung des Kiewer Regimes saugen kann, dürfte knapp bemessen sein.

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