Gaza: Genozid durch "Ausdursten" mit Ansage
Von Dagmar Henn
Vermutlich muss man jahrelang darauf geeicht worden sein, um das jetzige Verhalten des Westens noch irgendwie akzeptabel zu finden. Man ist ja doppelte Standards gewöhnt. Aber inzwischen scheinen alle Maßstäbe dessen, was Menschlichkeit ausmacht, völlig entglitten zu sein.
Nur als Erinnerung: der Mensch überlebt ohne Wasser nur ganze drei Tage. Es sollte bekannt sein, dass Gaza nicht in einem Regenwald liegt und dass die ganze Gegend ohnehin ein Wassermangelgebiet ist. Der Sinai, der sich im Süden anschließt, wird nicht umsonst Wüste genannt.
Selbst wenn im südlichen Teil des Gazastreifens wieder ansatzweise ein wenig sauberes Wasser geliefert werden sollte, ist die Menge sehr begrenzt, weil ohne Treibstoff und ohne Strom Pumpen nicht funktionieren. Es wurde künstlich eine Lage geschaffen, in der Menschen gezwungen sind, verunreinigtes Wasser zu trinken, wenn sie überhaupt überleben wollen. Die Konsequenz ist die Ausbreitung von durch Wasser übertragenen Krankheiten wie Typhus oder Cholera. Die, nebenbei, beide behandelbar wären – gäbe es sauberes Wasser und Medikamente.
Man hat den Eindruck, dass dieser Punkt in der Wahrnehmung gar nicht ankommt. Eine Stadt aushungern, das dauert Wochen. Wenn das Wasser fehlt, dauert es nur Tage bis zur Katastrophe. Insbesondere Kinder und alte Menschen dehydrieren schnell.
Diese Art der Belagerung von Gaza ist unglaublich zynisch und menschenverachtend und ein Verstoß gegen das Kriegsrecht von einer Qualität, wie sie in der Geschichte selten zu finden ist. Und wie reagiert der Westen auf dieses israelische Verbrechen? Er fordert Sanktionen gegen Iran.
Die russische Resolution wurde im UN-Sicherheitsrat abgelehnt, die dafür vorgeschobene Begründung lautet, der Angriff der Hamas werde im Entwurf nicht verurteilt. Wenn man diplomatischen Gepflogenheiten folgt, kann man aber nur beide Seiten oder keine verurteilen. Eine Verurteilung Israels ist jedoch bisher jedes Mal am Veto der USA gescheitert. Angesichts der Tausenden, die bereits den israelischen Luftangriffen zum Opfer gefallen sind und der zwei Millionen, die durch die Belagerungspolitik unmittelbar bedroht sind, gibt es allerdings keinen Grund, die Hamas zu verurteilen, aber Israel nicht. Das wäre eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit.
Abgesehen davon müsste klar sein, dass diese Situation sofortiges Handeln erfordert. Jedes Hinauszögern einer Stellungnahme kostet wortwörtlich Menschenleben. Alles kein Ding, scheint man in den Hauptstädten des Westens zu denken, wir sind trotzdem einfach mit Israel solidarisch, so ein bisschen Völkermord ist nicht schlimm.
Mehr noch – das Recht Israels, jene Menschen, die seit fünfzig Jahren unter seiner Besetzung leben, durch Entzug des Lebensmittels Wasser zu töten, sollten auch die Deutschen, so sieht das der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter, mit ihrem Leben verteidigen.
Aber halt, Kiesewetter spricht ja von der "Sicherheit Israels", und man kann, ja man muss sich die Frage stellen, ob dessen Sicherheit mit einer Runde Genozid zur Erhöhung der regionalen Sympathiewerte wirklich gedient ist. Nein, eine rationale Politik im Interesse dieses Staates müsste jetzt die Bedingungen schaffen, nicht mit dem Sturz der USA unterzugehen; dazu bräuchte es einen Frieden, nicht die Zerstörung von Gaza. Kiesewetters Denken reicht nicht weiter als bis zum nächsten Scheck von der Rüstungsindustrie; was ihm an Verständnis fehlt, macht er mit Gefolgschaft wett.
Hätte man den verschiedenen israelischen Regierungen nicht jeden Rechtsverstoß durchgehen lassen, so wäre die heutige Lage niemals entstanden. Aber es ist das gleiche Muster wie im Umgang mit dem Bürgerkrieg im Donbass und dessen langer Vorgeschichte, als jede aus Kiew gelenkte Untat weder kritisiert noch überhaupt erwähnt wurde. Schritt für Schritt ging es weiter abwärts, und jetzt sind wir bei einer offiziellen Billigung eines Genozids im Schnellverfahren angekommen.
Es überrascht nicht, dass die USA dabei die treibende Kraft sind. Ihre letzte Erfahrung, die im eigenen Land ansatzweise zeigte, was ein großer Krieg bedeutet, liegt fast 160 Jahre zurück. Es gibt dort keine kollektive Erinnerung an die Verwüstungen, die langwierige Kriege hinterlassen. In den Boden Europas sind die vielen Kriege über die Jahrhunderte als Brandschichten eingeschrieben.
Und nicht umsonst liegt der Ursprung des Völkerrechts im Westfälischen Frieden, der vor mehr als 350 Jahren den Dreißigjährigen Krieg beendete. Nach diesen dreißig Jahren Krieg, in denen die deutsche Bevölkerung halbiert wurde, war die Frage, wer angefangen oder wer recht hatte, schlechthin nicht mehr relevant. Damit aus der zerstörten Landschaft wieder eine Heimat werden konnte, brauchte man zuallererst ein Ende des Krieges.
Das ist der Boden, auf dem das humanitäre Völkerrecht entstand. 1907 wurde die Haager Landkriegsordnung unterzeichnet; ein Versuch, auch die kriegerische Gewalt einzuhegen, Regeln zu unterwerfen. Die Genfer Konventionen entstanden dann als Präzisierung nach dem zweiten Weltkrieg, in dem die Zahl der zivilen Opfer weit über der der militärischen lag. Die Konsequenz war eine rechtliche Festlegung, wie man sich gegenüber der Zivilbevölkerung zu verhalten habe – wodurch Handlungen, die gegen dieses Recht verstoßen, zu Kriegsverbrechen werden.
Es ist eine Sache wahrzunehmen, dass all diese Vorgaben immer wieder gebrochen werden. Es ist etwas ganz anderes, wenn eine Handlung, die nach diesem Recht eindeutig und unverkennbar ein Kriegsverbrechen ist, wie es die gegenwärtige Belagerung von Gaza ist, auch noch öffentlich angekündigt wird. Wenn darauf keinerlei Reaktion erfolgt, dann ist damit dieses Recht preisgegeben.
In einer Morgensendung von CNN konnte man jüngst beobachten, was bei US-Vertretern als "Zurückhaltung" angesehen wird. Der Gesprächspartner des Moderators ist der pensionierte Brigadegeneral Steven M. Anderson, der bei CNN häufig als militärischer Experte auftritt.
"Anderson: 'Mit Zurückhaltung meine ich, dass sie keine Bodenoperationen in Gaza Stadt selbst durchführen müssen. Wir reden über ein Gebiet, in dem überall eng gebaute Häuser stehen, vielleicht 50.000 Häuer, über eine Million Zivilisten, die Hamas als menschliche Schilde nutzen wird – ich glaube nicht, sie müssen sich in einer Stadt und einer urbanen Umgebung dieser Art festnageln lassen. Ich denke, sie müssen es einkreisen. Sie müssen weiter den Druck dieser Blockade ausüben, die sie eingerichtet haben.'"
Noch einmal – das ist ein US-General. "Zurückhaltung" ist hier eindeutig nicht das militärische Verhalten, das möglichst wenigen Zivilisten Schaden zufügt, sondern dasjenige, bei dem die eigenen Truppen (und er sieht eindeutig die israelische Armee als eigene Truppen) ein möglichst geringes Risiko eingehen.
Das ist das genaue Gegenteil dessen, was die Absicht der Genfer Konventionen ist. Sie versuchen nämlich, das Risiko auf die Kombattanten zu begrenzen, also auf jene erwachsenen Menschen, die tatsächlich mit einer Waffe kämpfen. Anderson müsste das eigentlich in seiner Ausbildung gelernt haben.
Wenn man sich an die Rührstücke erinnert, die durch die westliche Presse gingen, um hervorzuheben, dass der russische Militäreinsatz in der Ukraine besonders "brutal" und "grausam" sei, dann entsteht hier eine ganz eigenartige Kollision. In 18 Monaten sind in der Ukraine auf beiden Seiten und trotz fortgesetzter ukrainischer Neigung, die Wohnviertel des Donbass zu beschießen, weniger Kinder umgekommen als in einer Woche israelischer Bombardierung von Gaza. Was ist nun das passende Adjektiv? Superbrutal? Enthemmt unmenschlich? Nein, das ist angeblich nur "legitime Selbstverteidigung".
Auch die Behauptung, die Hamas benutze die Bevölkerung im Gazastreifen als Schutzschild, ein Vorwurf, der auf die ukrainische Armee bezogen immer zurückgewiesen wurde, passt nicht. Denn während in der Ukraine die Kiewer Truppen viel Land rund um die Orte zur Verfügung hätten und ihre Geschütze auch aufs Feld stellen könnten, statt neben Wohngebäude, gibt es in Gaza gar nichts anderes. Haus neben Haus neben Haus, eine einzige Stadt ohne Umland.
Aber zurück zur Belagerung:
"Moderator: 'Bedeutet das, das palästinensische Volk auszuhungern? Weiter – weil sie so hungrig sein werden, und so verzweifelt Wasser und Medizin brauchen, dass sie die Hamas ausliefern?'
Anderson: 'Das mag hartherzig klingen, aber ich meine, das ist ein Krieg. Denken Sie daran, was die Hamas dem israelischen Volk angetan hat, dieser unprovozierte Angriff. Also ja, sie müssen – ich sage nicht aushungern.'"
Nein, nicht aushungern, denn beim Verdursten lassen geht es um Tage.
In der badischen Stadt Bretten wurde einer örtlichen Sage zufolge während einer Belagerung ein Hund gemästet und dann vors Stadttor geschickt, um den Eindruck zu erwecken, alle hätten sie immer noch alle genug zu essen und die Belagerung sei deshalb sinnlos. Die vielen Varianten dieser Geschichte an vielen verschiedenen Orten belegen, wie häufig solche Belagerungen waren. Die Genfer Konventionen untersagen eine Belagerung der Zivilbevölkerung. Genauso, wie humanitäre Lieferungen für die Zivilbevölkerung nicht behindert werden dürfen.
Wenn man die Aussagen des pensionierten US-Generals hört, könnte man fast glauben, nach dem weltweiten Skandal, den vor Jahren das von Julian Assange veröffentlichte Video eines US-Kriegsverbrechens im Irak oder die Aufnahmen aus Abu Ghuraib auslösten, sei beschlossen worden, die Erinnerung an die Genfer Konventionen im Westen auszulöschen, anstatt ihre Einhaltung durchzusetzen.
Wird in der Berichterstattung je erwähnt, dass diese Belagerung ein eindeutiges Kriegsverbrechen ist? Nein. Stattdessen gibt es Äußerungen wie jene von Roderich Kiesewetter, die schon fast wie eine Reprise des ersten Weltkriegs klingen, während die tatsächliche Belagerung von Gaza eigentlich nur noch ein Vorbild in der jüngeren Geschichte hat, das allerdings zeitlich noch zwei Jahre vor der Entstehung der Haager Landkriegsordnung liegt – den Genozid an den Herero und Nama durch die deutschen Kolonialtruppen in Namibia beginnend im Jahre 1904. Denn dieser Völkermord erfolgte nicht durch Aushungern. Er erfolgte durch Vertreibung und dann Umzingelung in einem Gebiet ohne Wasser.
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