Meinung

Droht Ungarn eine Farbrevolution?

Nach dem Treffen zwischen Viktor Orbán und Wladimir Putin in Peking vor einigen Tagen tauchen nun in immer mehr Medien Berichte auf, in denen Vertreter von NATO-Staaten betonen, wie gefährlich diese ungarische Politik sei. Doch die bizarren Aussagen haben einen ernsten Hintergrund.
Droht Ungarn eine Farbrevolution?Quelle: Sputnik © Grigori Sisojew

Von Dagmar Henn

Seit dem Treffen des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán erschienen eine Reihe von Artikeln, in denen betont wird, wie verwerflich diese Begegnung doch gewesen sei. Die Vorhaltungen sind dabei irgendwo zwischen zynisch und komisch, wenn man die aktuelle Weltlage mit in Blick nimmt, aber sie sind vor allem eines – ein Anzeichen dafür, dass sich im kollektiven Westen etwas gegen Ungarn zusammenbraut.

Den Anfang machte der CIA-Kanal Radio Free Europe/Radio Liberty (RFE). Er zitierte den US-Botschafter in Ungarn David Pressman mit "Sicherheitsbedenken" wegen der "sich vertiefenden" Beziehungen zwischen Russland und einem NATO-Mitglied.

"Wir sehen Ungarn als Verbündeten, aber gleichzeitig sehen wir ebenso, dass Ungarn seine Beziehungen mit Russland vertieft, trotz seinem brutalen Krieg in der Ukraine."

Angesichts der Bilderflut westlicher Regierungsvertreter, die gerade ihre Loyalitätsbekundungen zu Israel persönlich abliefern, und den noch vielfältigeren Bildern des Elends palästinensischer Zivilisten in Gaza eine Bemerkung, die zumindest schwer irritiert. Vermutlich liegt es daran, dass die Bombardierung von Zivilisten (die übrigens Russland nie betrieben hat) so lange kein Problem ist, solange man sie nicht "brutal" nennt.

Washington erwarte, dass "diese legitimen Sicherheitsbedenken" von der ungarischen Regierung ernst genommen würden, schreibt RFE weiter – und bleibt mit diesem Thema nicht allein.

Der britische Guardian erklärt, ein Schreiben des tschechischen Präsidenten Petr Pavel erhalten zu haben; richtig, von jenem Petr Pavel, dem ehemaligen NATO-General, der in einem Interview mit RFE (wie klein die Welt doch ist) erklärt hatte, in Europa müssten eigentlich alle Russen interniert werden. So viel zur Verteidigung der Menschenrechte. Pavel jedenfalls soll geschrieben haben:

"Wie wiederholt gezeigt wurde, trifft Putin europäische Staatschefs nicht mit dem Ziel, Frieden in der Ukraine zu erreichen. (…) Er hält diese Treffen nur mit dem Ziel ab, die Einheit der europäischen Länder und der gesamten demokratischen Welt aufzubrechen."

Die Formulierung "gesamte demokratische Welt" lässt sich natürlich nur einem Publikum verkaufen, das bei internationaler Berichterstattung auf strenge Diät gesetzt wurde. Schließlich gilt eine ganze Reihe Länder des Südens selbst dem Westen als Demokratien, beteiligt sich aber nicht an Sanktionen oder gar an Waffenlieferungen an die Ukraine. Nun gut, diese Aussagen richten sich auch nicht an ein, sagen wir einmal, brasilianisches Publikum.

Dann taucht auch noch die estnische Premierministerin Kaja Kallas auf. Die Dame, die sich auf allen europäischen Foren lebhaft um die maximal antirussische Haltung bemüht, deren Ehemann aber derweil gute Geschäfte mit Russland macht. Sie erklärte, die Bilder, wie der ungarische Ministerpräsident Putin die Hand schüttle, seien "sehr, sehr unangenehm" und widersprächen der Logik.

Auch US-Botschafter Pressman wird angeführt, diesmal mit einem Tweet.

"Ungars Staatschef hat sich entschieden, bei einem Mann zu stehen, dessen Truppen in der Ukraine für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, und das als Einziger unserer Verbündeten. Während Russland ukrainische Zivilisten angreift, bittet Ungarn um Geschäfte."

Das ist noch ein klitzekleines bisschen extremer vor dem Hintergrund der US-Blockade im UN-Sicherheitsrat, die zwei Resolutionsentwürfe verhinderte, die sich gegen die israelische Blockade von Gaza aussprechen sollten; als redeten wir hier nicht, insbesondere beim Kappen der Wasserversorgung und der Bombardierung von schlicht allem, was sich über die Erdoberfläche erhebt, von einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Man muss inzwischen gar nicht mehr ins Detail gehen, was die russische Militäroperation in der Ukraine betrifft – es reicht die nüchterne Anzahl, wie viele palästinensische Zivilisten in den bisher zehn Tagen israelischer Angriffe ums Leben kamen. Hat irgendwer im Westen davon geredet, Geschäfte mit Israel deswegen einzustellen?

Mal sehen, wann Kallas in Tel Aviv aufschlägt. Es kann sich nur noch um Tage handeln. Dann wird ihr nächster Satz besonders erheiternd:

"Wie kann man die Hand eines Verbrechers schütteln, der einen Aggressionskrieg führt, vor allem, wenn man aus einem Land kommt, das eine Geschichte wie Ungarn hat?"

Der erste Ansatz, diese Geschichte auch in Deutschland zu verbreiten, erfolgte inzwischen durch ntv. Dort wurde sogar eine besonders hübsche Formulierung gefunden.

"Dass Orbán den Kremlchef damit wieder hoffähig macht, gefällt den anderen NATO-Mitgliedern gar nicht."

Ganz leise klingt da Josep Borrells Vorstellung vom Garten und vom Dschungel an. Egal, was die weit überwiegende Mehrheit der Welt so denkt, der Hof des Sonnenkönigs liegt in Versailles, Verzeihung, im Westen, und an diesem Hof zählt nur, wer dort auch empfangen wird.

Nun, schon zur Zeit Ludwigs XIV. war es global gesehen bedeutender, wer in Peking empfangen wurde. Nach einem kurzen Zwischenspiel westlicher Dominanz verschieben sich die globalen Gewichte wieder dorthin, wo sie rein nach dem Anteil an der Weltbevölkerung hingehören. Glauben die Autoren immer noch, es sei wichtiger, wer für Brüssel oder Washington als Gesprächspartner gilt, als für Peking oder Neu-Delhi?

Wie auch immer, zumindest die Antworten aus Budapest sind treffend. So erklärte Gergely Gulyás, der Stabschef des ungarischen Ministerpräsidenten:

"Es ist nicht die Aufgabe des US-Botschafters, die ungarische Außenpolitik festzulegen. Das ist die Aufgabe der ungarischen Regierung."

Das sollte mal jemand Außenministerin Annalena Baerbock sagen. Die ist immerhin zusammen mit der Mehrheit ihrer EU-Kollegen eifrig damit beschäftigt, eine Politik zu verfolgen, die einem Land bestimmt nicht nützt – Deutschland. Und auch nicht den anderen Ländern der EU, ausgenommen vielleicht den baltischen Zwergen, die damit ihr "Bürgergeld" von der EU sichern.

Das große Vergehen der ungarischen Regierung besteht schließlich darin, die eigenen Interessen des Landes über den aus Washington vorgegebenen Kurs zu stellen. Also nicht, wie die Bundesregierung, die Energiesicherheit preiszugeben, weil wieder einmal ein Böser bestraft werden soll, oder auf einen Konflikt mit Liebesentzug zu reagieren. Vor einiger Zeit, ehe der Dialog über Interessen durch "Werte" ersetzt wurde, war dieses Verhalten die selbstverständliche Aufgabe einer Regierung. Die Neigung zur auftragsgemäßen Selbstentleibung, die augenblicklich die EU beherrscht, ist historisch betrachtet die Ausnahme.

Der ungarische Regierungssprecher Zoltán Kovács kommentierte das durchaus treffend:

"Ich finde es durchaus unterhaltsam, wie diese Politiker sich zusammenscharen, um die ungarische Regierung und unser offen erklärtes Interesse daran zu kritisieren, diplomatische Beziehungen zu Russland aufrechtzuerhalten, während ihre moralische Überlegenheit bestenfalls eine Fassade ist."

Der Auslöser für diese unverkennbar koordinierte Kampagne dürfte jedoch nicht die Begegnung Orbáns mit Putin gewesen sein, sondern das Umfeld, in dem diese Begegnung stattfand – die Konferenz der chinesischen Seidenstraßen-Initiative in Peking. Eine Umgebung, in der Orbán nur ein einzelner Vertreter eines Staates war, von mehr als 140. Man könnte es auch so sagen – in Peking trafen sich drei Viertel der Länder auf diesem Planeten, nur der ganze kollektive Westen war nicht dabei, abgesehen von Ungarn.

Das war die bisher deutlichste Manifestation des Umbruchs, der derzeit stattfindet, und die USA wie die EU deuten das als ungarischen Verrat. Schließlich sind sie nach wie vor der Überzeugung, sie könnten entscheiden, wer wann und wo mitspielen darf, und sind jederzeit bereit, mit Förmchen zu werfen, wenn jemand dem anderen, großen Sandkasten auch nur nahekommt.

Selbstverständlich ist es für Ungarn ein vernünftiger Schritt, in Peking teilzunehmen. Das wäre es auch für die übrigen Europäer. Denn die chinesischen Infrastrukturprojekte liefern die Grundlage für einen gewaltigen globalen Entwicklungsschub. Der Westen reagiert aber ungefähr so, wie im Mittelalter reagiert wurde, als sich durch Handel und Handwerk neue Wohlhabende neben dem Adel erhoben – er erlässt Kleiderordnungen, in denen dem gemeinen Volk das Tragen von Pelzen untersagt wird.

Eine ökonomische Politik, die die Möglichkeit einer friedlichen Entwicklung negiert, um die Privilegien jener kleinen Minderheit zu bewahren, die von der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte profitierte. Je nachteiliger diese Politik für das Leben der einfachen Menschen im Westen wird, desto lauter ertönt das Geschrei von den "Werten", und desto eifriger werden alle Verbindungen nach außen abgebrochen.

Man könnte die ganze Episode mit all den Sätzen, die die üblichen Sprechpuppen von sich geben, schlicht als Seifenoper abhaken, wäre da nicht ein kleines Detail. Am deutlichsten formulierte das RFE:

"Am 19. Oktober trafen sich NATO-Botschafter in Budapest, da die Bedenken wegen der ungarischen Beziehungen mit Russland zunehmen, nachdem zu Beginn der Woche Gespräche zwischen den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin stattgefunden hatten."

Es ist der erste Teil dieses Bandwurmsatzes, der die entscheidende Information enthält. Ist das jetzt üblich, dass die Botschafter der NATO-Länder zusammenglucken? Machen die das auch in, sagen wir, Indien oder Malaysia? Nein, tun sie nicht. Botschafter stehen üblicherweise für ihr Land und nicht für die NATO.

An der Abfolge der Presseartikel lässt sich unschwer erkennen, dass dieses Treffen der Ausgangspunkt für eine PR-Kampagne war. Aber man wäre äußerst blauäugig, nähme man an, sie hätten nichts anderes getan, als ein paar hübsche Zitate für die Presse zu verabreden. Die erfolgten nämlich, wie man oben entnehmen kann, durch die Regierungen und, abgesehen von Pressman, nicht durch die Botschafter.

Nein, es steht eher zu fürchten, dass dieses Treffen der Koordinierung der Handlungen der unzähligen "Nichtregierungsorganisationen" diente, sprich, dass sie gemeinsam versuchen werden, ihren Apparat in Richtung einer Farbrevolution zu drehen. Es wäre nicht verwunderlich, wenn in den nächsten Wochen dann Berichte über "demokratische Proteste" in Ungarn auftauchten. Es ist traurig, aber die lustig-bizarren Äußerungen in dieser PR-Kampagne haben einen äußerst ernsten Hintergrund. Ungarn wurde gerade zum Feind erklärt.

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