Distanzieren und positionieren: Innerer Frieden durch äußere Feindbilder
Von Tom J. Wellbrock
"Distanzieren Sie sich …?"
Kürzlich interviewte Dunja Hayali den palästinensischen Botschafter in Österreich, Salah Abdel-Shafi. Es war recht kurz nach den Angriffen der Hamas auf Israel vom 7. Oktober. Das Interview glich einer Hetzjagd, und der gehetzte Botschafter sollte in die Distanzierung getrieben werden. Gleich dreimal fragte Hayali Salah Abdel-Shafi, ob er sich von den Taten der Hamas distanziere. Dieser antwortete ungehalten, wies darauf hin, dass es selbstverständlich sei, dass die Täter zur Rechenschaft gezogen werden müssten und ein solcher Terror auf jeder Ebene verurteilungswürdig sei.
Das genügte Hayali nicht. Sie wollte eine klare Distanzierung, doch die bekam sie nicht in der gewünschten Form. Stattdessen wies der Botschafter auf die Einseitigkeit der deutschen Berichterstattung hin und darauf, dass die palästinensischen Opfer in Deutschland keine Rolle spielten. Und so endete das Gespräch ergebnislos und genaugenommen hätte es gar nicht geführt werden müssen, blieb am Ende doch nur eine Form der Distanzierung: die der beiden Gesprächspartner voneinander.
"Positionieren Sie sich!"
Die "Königsklasse" der Distanzierung ist die Positionierung. Egal, um welchen Konflikt es sich handelt, und völlig unerheblich, wo die Gründe und historischen Zusammenhänge liegen mögen, ohne Positionierung geht es nicht. Wie genau die aussieht, geben Politik und Medien vor. Sie "helfen" dem gemeinen Medienkonsumenten, die Zusammenhänge zu verstehen und – vor allem! – die passende Positionierung aufzubauen.
Jener gemeine Medienkonsument kennt sich in aller Regel nicht so gut aus, wenn es um internationale Politik geht. Er hat genug mit sich selbst zu tun, mit seinen viel zu hohen Energiepreisen, der Inflation, seinem Lohn und nicht zuletzt seinem regelmäßig zu füllenden Kühlschrank, der sich auf seine Weise – nämlich, wenn er sich unbarmherzig leert – ebenfalls positioniert. Dennoch hat der Medienkonsument natürlich eine Meinung, man erwartet das von ihm. Wer keine Meinung hat, steht außen vor, gehört irgendwie nicht zur Gruppe, und wer will das schon?
Also wird sich eine Meinung gebildet, eine, die gut passt und nicht aneckt. Wenn alle der Meinung sind, dass Partei A böse und Partei B gut ist, schwingt man sich auf dieses Pferd und reitet es, selbst wenn es längst tot ist, bis zum Horizont. Man ist nicht allein mit seiner Meinung, man positioniert sich, man redet mit und ist moralisch auf der sicheren Seite.
So entsteht ein Feindbild, das hervorragend funktioniert. Außerdem lässt es sich ausweiten und kombinieren. Denn immer wieder huschen die Andersdenkenden vorbei und bringen andere Aspekte dieses oder jenes Krieges ins Spiel. Das ist vergebliche Liebesmüh', denn die Meinung, die Positionierung, steht ja längst fest, der Drops ist gelutscht, die Messe gelesen. Da kann der "Querdenker", "Putin-Versteher" oder "Hamas-Freund" reden, solange er will. Erreichen wird er nichts, ausgenommen die Tatsache, dass er nun auch zu den Bösen gehört und nach Lust und Laune beleidigt und diffamiert werden kann. Diese Abneigung ihm gegenüber, die Kritik, der Hass, all das führt zu einer Art inneren Friedens in Zeiten des Krieges. Einfach wundervoll!
Von Zivilisten und Politikern
Das Positionieren ist das Ergebnis der Distanzierung. Man muss eine Haltung einnehmen, nachdem man sich von einer anderen distanziert hat. Und dann kann es auch schon losgehen.
Das Tückische daran: Man verlässt mit dieser Herangehensweise die Möglichkeit, den Konflikt zweier Parteien zu lösen. Die wiederum sind daran sehr interessiert, brauchen sie doch Unterstützer und Helfer für ihre Sache. Und so beteiligt man sich als dritte Partei mit dieser Praxis an der Eskalation, inklusive des fragwürdigen inneren Friedens, den man zuvor mit sich geschlossen hat.
Man muss selbstverständlich unterscheiden zwischen mindestens zwei Kategorien: Zivilisten und Politiker. Der Zivilist – hier ist der gemeine Medienkonsument gemeint – ist launisch, hat – wie gesagt – mit seinem eigenen Kram genug zu tun und darf sich die Freiheit herausnehmen, spontan, unreflektiert und emotional zu urteilen. Es wäre zwar überaus vernünftig, würde er eine andere Herangehensweise wählen, aber man kann es nicht von ihm erwarten.
Der Politiker spielt eine gänzlich andere Rolle. Er darf eben nicht launisch agieren, von kurzfristigen Emotionen geleitet und eskalierend. Er muss Besonnenheit zeigen, muss seine Worte und Taten durchdenken, abwägen, welche Reaktion seinerseits wohin führt. Das ist ein Aspekt der Kunst der Diplomatie. Der Politiker muss also möglichst beide Perspektiven einnehmen, ohne sich für eine zu entscheiden. Er muss aus der Kenntnis der Perspektiven Handlungen ableiten, die zu einer Lösung führen können.
Nun ist das leider zutiefst graue Theorie geworden, denn deutsche Politiker haben weder den Willen noch die Kompetenz, so zu agieren, wie es gerade beschrieben wurde. Sie sind mit Haut und Haar im Distanzierung-Positionierung-Modus, was sie anfällig macht für eskalierende und hochgradig dumme Entscheidungen, denen allerdings durchdachte Pläne vorausgehen.
Das Gegenmodell: Keine Positionierung
Vor lauter Positionieren und Distanzieren gerät eine simple Tatsache in den Hintergrund: nichts, aber auch gar nichts, wird dadurch besser, im Gegenteil. Erst kürzlich hat Wladimir Putin in einer Rede gesagt:
"Aber wir sollten uns nicht, dazu haben wir kein Recht und wir können es uns nicht leisten, von Emotionen leiten lassen."
Doch, schallt es aus dem Westen, wir lassen uns von unseren Emotionen leiten! Und wir sinnen auf Rache, wenn die Gegenseite etwas tut, das uns nicht passt. Auch zum Thema Rache hat Putin klare Vorstellungen:
"Wir sehen auch, dass leider der Grundsatz der kollektiven Verantwortung dazu benutzt wurde, Rache zu üben, anstatt die Verbrecher und Terroristen zu bestrafen. Die schrecklichen Ereignisse, die sich derzeit im Gazastreifen abspielen, wo Hunderttausende von unschuldigen Menschen, die einfach nirgendwo hinlaufen und sich nicht vor dem Bombardement verstecken können, wahllos abgeschlachtet werden, sind in keiner Weise zu rechtfertigen. Wenn man blutige Kinder sieht, wenn man tote Kinder sieht, wenn man sieht, wie Frauen und alte Menschen leiden, wenn man sieht, wie Ärzte sterben, dann ballt man natürlich die Fäuste und hat Tränen in den Augen. Anders kann man es nicht sagen."
Und so fällt bei all dem Positionieren eine Position aus dem Blickfeld: die der Opfer, der Menschen, die mit dem Krieg – mit jedem Krieg – nichts zu tun haben, die unter ihm leiden, die sterben. Nachdem Israel ein Flüchtlingslager angegriffen und dabei Zivilisten getötet hatte, sagte ein Sprecher der Armee:
"Das ist die Tragödie des Krieges."
Man kann dieser Aussage gar nicht laut genug widersprechen! Die Tragödie des Krieges ist der Krieg selbst, und der Krieg selbst ist kein Naturereignis, sondern die Folge menschlichen Handelns. Putin hat recht, wenn er sagt, dass man sich nicht von Rache leiten lassen dürfe, doch genau die dominiert die Entscheidungsträger in Israel, aber auch in Deutschland. Das hängt mit der emotionalisierten Positionierung zusammen, die irrational und schädlich ist.
Nun kann man mit viel Wohlwollen bis zu einem gewissen Punkt das Sinnen nach Rache auf israelischer Seite noch hinnehmen (wenngleich dieser Punkt inzwischen längst und deutlich überschritten wurde), man kann also aufgrund der eigenen Betroffenheit Israels auch auf der politischen Ebene eine Form der Emotionalisierung als zumindest nachvollziehbar bezeichnen. Doch insbesondere die gespielten Gefühlsausbrüche in Deutschland sind erstens nicht glaubwürdig und zweitens destruktiv.
Die Rollen in einem Krieg sind recht klar verteilt. Es gibt meist einen Angreifer und einen, der sich verteidigt. Wie man Verteidigung definiert, ist längst nicht mehr klar, denn sie wird mittlerweile auch mit offenen Angriffen in Verbindung gebracht, und seit dem 7. Oktober sogar mit der "Tragödie des Krieges", dass Frauen und Kinder getötet werden. Dieser Punkt schreit nach einem Einschreiten und nach einer erneuten Ausrichtung des moralischen Kompasses.
Für diese Ausrichtung wäre die dritte Rolle des Krieges auszufüllen, die Rolle der unbeteiligten dritten Partei. Diese kann und darf sich nicht positionieren, sie kann und darf keine Partei ergreifen, sondern muss sich ausschließlich auf Lösungen fokussieren. Denn erst, wenn wir aufhören, uns für eine Seite zu entscheiden, können wir uns um das Kriegsende kümmern. Wir, das ist Deutschland, das sind aber auch andere Länder, deren Verantwortung darin besteht, Wasser statt Öl ins Feuer zu gießen.
Positionierung bedeutet Krieg
Zum Schluss noch ein paar Worte zur Erwartung der Positionierung als solche. Wie oben schon angedeutet, hat ihre Bedeutung nichts mit Moral, Gerechtigkeit oder Hilfsbereitschaft zu tun. Sie dient ausschließlich der Verschlimmerung der Lage. Zumal die Rhetorik in Deutschland aggressiv und unversöhnlich ist und nur eine militärische Lösung in Aussicht stellt. Wer jedoch so denkt und argumentiert, muss als Kriegstreiber bezeichnet werden, denn er trägt nicht zur Konfliktlösung bei, sondern zur Fortsetzung von Kampf, Hunger und Tod.
Die Positionen von Israel und Palästina sind klar und derzeit unversöhnlich. Daran tragen andere Länder eine Mitschuld. Und so wäre es in ganz besonderem Maße ihre Pflicht, versöhnliche Töne anzuschlagen. Bei einem Konflikt dieses Ausmaßes kann es keine schnellen Lösungen geben, aber das Verhalten Außenstehender trägt dazu bei, zumindest lösungsorientiert zu denken und zu handeln. Der subjektiven Betroffenheit der Kriegsparteien muss mit objektiver und friedfertiger Unaufgeregtheit begegnet werden. Das ist eine große Verantwortung, und wer noch ein wenig diplomatisches Blut in seinen Adern fließen lässt, nimmt diese Herausforderung an, statt einen Gewehrlauf auf sie zu richten.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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