Reich durch Rentenansprüche? Wie kreative Wirtschaftsexperten Arme zu Vermögenden umdefinieren
Von Susan Bonath
Mehr arme Kinder und Rentner, mehr Obdachlose und vier Millionen Niedriglöhner mit Einkommen, die dank Inflation zum Leben kaum noch reichen? Keine Panik, alles Einbildung, suggeriert jetzt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). In einer Studie will es nämlich herausgefunden haben: "Die Unterschicht in Deutschland ist vermögender als bisher gedacht". Ganze 7,5 Billionen Euro habe das DIW bei "der ärmeren Hälfte" der Bevölkerung neu entdeckt. Dieses Geld sei "in der Bilanz bisher schlichtweg vergessen" worden.
Gebunkerte Billionen bei den Armen?
Darüber berichtete am Mittwoch die Welt unter Berufung auf die Süddeutsche Zeitung, der ein Vorabdruck der DIW-Studie vorliege. Man reibt sich die Augen: Wo, um alles in der Welt, hat die Unterschicht 7,5 Billionen gebunkert? Antwort: In der Zukunft, nämlich in gesetzlichen und betrieblichen Rentenansprüchen. Wie konnten all die Forscher zuvor das nur übersehen?
Dem DIW sei Dank ist quasi über Nacht jeder Einzelne aus dieser rund 42 Millionen Menschen umfassenden Gruppe im Schnitt um fast 180.000 Euro reicher geworden. Die Welt resümiert auf Basis der Studie: "Wurden der ärmeren Hälfte der Bevölkerung bislang nur zwei Prozent des Vermögens zugerechnet, seien es mit Rentenansprüchen nun gut neun Prozent." Das ist geradezu ein Wunder. Nun, bekanntlich versicherte schon der frühere CDU-Sozialminister Norbert Blüm: "Die Rente ist sicher."
Statistische Kreativ-Ökonomie
Natürlich, ein paar Kleinigkeiten hat das DIW ignoriert. Wer weiß zum Beispiel schon, wie viel dieses fiktive "Anspruchsvermögen" in 20, 40 oder 60 Jahren überhaupt noch wert ist und welche Rentenkürzungspläne die Politik als Nächstes aus dem Hut zaubern wird? Dass das viele Geld noch nicht mal existiert, weil es von künftigen Generationen erst erwirtschaftet werden soll – man erinnere sich an das Konzept "Generationenvertrag" – erscheint den Forschern ebenfalls vernachlässigbar.
Nun wird sich vielleicht der eine oder andere Normalbürger fragen: Muss man ein Vermögen nicht sehen, anfassen und nach Belieben verbrauchen oder auf dem Markt verkaufen können? Mancher denkt hier wohl an Luxusjachten, Villen und gebunkerte Goldbarren, andere an riesige Aktienpakete, die jährlich Millionen-Dividenden abwerfen, oder an Immobilien, die Mieteinnahmen generieren, und Ähnliches.
Doch die bürgerlichen Ökonomen sind hier kreativer. Nicht nur was die Märkte betrifft, denen sie rege allerlei menschliche Eigenschaften zuschreiben: So "glauben" diese Märkte beispielsweise gerade intensiv an Zinssenkungen und seien von ihren Hoffnungen darauf geradezu "beflügelt".
Auch die Rechenkünste dieser Experten muten zuweilen bizarr an. Abstraktion ist bekanntlich das A und O moderner Marktmythologie, Verzeihung: Wirtschaftswissenschaften.
Von abstrakt bilanzierenden Putzkräften
Da werfen hochdotierte Experten munter milliardenschwere Kapitalvermögen, Omas kleines Häuschen und Tante Ernas Sparstrumpf in einen Topf, um Arme reich- und die soziale Kluft wegzurechnen. In diesem Sinne ist es wohl ein genialer Einfall, in ferner Zukunft erwartete, noch nicht einmal vorhandene, also fiktive "Vermögen" von noch unbekanntem realen Wert genauso wie die offene Forderung eines bilanzierenden Konzerns zu behandeln. Diese wird nämlich dessen betrieblichem Eigenkapital erst einmal zugerechnet.
Otto-Normal-Lohnabhängige wie zum Beispiel Putzkräfte sind zwar keine bilanzierenden Unternehmen. Auch ist die künftig erwartete Rente weder frei verfügbar noch von späteren politischen Entscheidungen unabhängig und so sicher wie behauptet. Aber macht ja nichts, merkt vielleicht gar keiner, denkt man sich wohl beim DIW. Statistik ist alles, und wenn der Clou gelingt, die wachsende Armut statistisch kleinzurechnen, ist das von Vorteil für die Herrschenden.
Im Wahnsinn des Fiktiven
Oder um es im übertragenen Sinne früherer Einlassungen von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) zu Insolvenzen auszudrücken: Arme sind in Wahrheit gar nicht arm! Sie können nur erst in vielen Jahren über ihr Vermögen verfügen, falls dieses andere dann erarbeiten haben sollten und es noch etwas wert ist.
Allerdings: Müsste das DIW in seine kreativen Rechenkünste dann nicht auch sämtliche in den nächsten 50, 60 Jahren erwartete Gewinnausschüttungen, Honorar-, Lohn- und Gehaltsansprüche, Kindergeldzahlungen und vieles mehr mit einbeziehen und als "Vermögen" ausweisen? Die real existierende Kaufkraft scheint ja für die Abstraktionskünstler des Instituts keine Rolle zu spielen, um Vermögen zu bewerten.
Je weiter man das denkt, desto mehr läuft man Gefahr, sich im Wahnsinn des Abstrakten und Fiktiven zu verlieren. Vielleicht sollte man die DIW-Studie oder zumindest das, was genannte Medien darüber berichtet haben, einfach als das bezeichnen, was es wohl ist: Bullshit. Vermutlich will da jemand die nicht zu Unrecht frustrierte Bevölkerung für dumm verkaufen. Das wäre ja nicht der erste Versuch dieser Art.
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