Mindestlohn wird erhöht – um ganze 3,4 Prozent
Von Dagmar Henn
Es gab einmal Zeiten, da brauchte es in Deutschland keinen Mindestlohn, weil die Löhne ohne gesetzlichen Zwang hoch genug waren, um mehr als das blanke Überleben zu sichern. Diese Zeiten sind lange vorbei, spätestens seit der Einführung von Hartz IV gibt es einen "blühenden" Niedriglohnsektor, und die Einkommen vieler rutschten langsam, aber sicher immer weiter ab. Der Mindestlohn soll zumindest nach unten eine Begrenzung ziehen.
Zum ersten Januar soll er nun von zwölf Euro auf 12,41 erhöht werden. Brutto, wohlgemerkt. Das ist eine Erhöhung um ganze 3,4 Prozent. Augenblicklich liegt die Inflation bei 3,8 Prozent; aber dadurch sind die ganzen Preiserhöhungen im letzten und in diesem Jahr, die nicht aufgefangen wurden, nicht verschwunden, und dann ist da noch das kleine Problem, dass die realen Preissteigerungen für die Bezieher niedriger Einkommen deutlich höher sind, weil der Anteil von Energie und Nahrungsmitteln besonders hoch, der Anteil des Geldes, das für langlebige Güter ausgegeben wird, aber besonders niedrig ist. Mit anderen Worten, diese Erhöhung ist keine.
Nun, würden manche sagen, im europäischen Vergleich ist der deutsche Mindestlohn trotzdem nicht so schlecht. Schließlich liegt er nur in Luxemburg höher, mit 13,80 Euro. Aber meistens wird, wenn man den Mindestlohn betrachtet, vergessen, dass es sich dabei um den Bruttolohn handelt. Selbst wenn gar keine Lohnsteuer gezahlt wird, betragen die Abzüge für Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung 19,6 Prozent (das ist nur der Arbeitnehmeranteil), wodurch nur ein Netto von 9,97 Euro übrig bleibt. Netto sind das also weniger als zehn Euro die Stunde.
Beim Unterschied zwischen Brutto und Netto liegt übrigens auch der Knackpunkt im europäischen Vergleich. Es gibt eine ganze Reihe Länder in Europa, in denen diese Abzüge niedriger sind; darunter auch beim Mindestlohn-Spitzenreiter Luxemburg. Der Mindestlohn in den Niederlanden liegt knapp unter dem deutschen, aber das Netto liegt deutlich höher.
Und es sind gar nicht so wenige Menschen, die von der Frage, wie hoch der Mindestlohn ausfällt, betroffen sind. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind es 6,2 Millionen Beschäftigte. Das sind 13,4 Prozent der rund 46 Millionen Menschen, die in Deutschland zu den Erwerbstätigen gezählt werden.
Übrigens lag die Forderung der Beschäftigtenvertreter in der Mindestlohnkommission, die die Erhöhungen vorschlägt, höher. Die Regierungsvertreter haben mit der Unternehmerseite gestimmt. Die Sozialverbände fordern schon seit Jahren deutlich mehr. Ihrer Meinung nach müsste der Mindestlohn so hoch liegen, dass er nach einem vollen Berufsleben wenigstens eine armutsfeste Rente ermöglicht; dafür berechnen sie eine Schwelle von mindestens 14 Euro. Haushaltspolitisch macht das Sinn, schließlich senkt das die Zahl der Menschen, die Grundsicherung benötigen, weil ihre Rente nicht reicht. Aber wer erwartet schon bei dieser Regierung Einsicht in Zusammenhänge.
So ist es natürlich auch mit einem anderen Punkt. In der EU gibt es eine Armutsgrenze, die bei 60 Prozent des Medianeinkommens liegt. Der Median ist der Wert, der die Menge der Bezieher von Lohneinkommen genau in zwei Hälften teilt. Wenn man nach den aktuellsten Zahlen für das Einkommen abhängig Beschäftigter in Deutschland ausgeht, bei denen der Median bei 44,407 Euro im Jahr liegt, ergibt sich als Umsetzung der Armutsgrenze auf den Stundenlohn ein Wert von 13,80 Euro. Das ist der Betrag, der erforderlich wäre, damit das Einkommen bei einer Vollzeitarbeit zum Mindestlohn überhaupt die Armutsgrenze übersteigt.
Diese beiden Ansätze, die Möglichkeit, Altersarmut zu vermeiden und die Armutsgrenze in der Gegenwart, ergeben also beide einen Wert um die 14 Euro. Danach genügt der derzeitige Mindestlohn nicht, um das zu verhindern, was er verhindern soll – dass trotz Arbeit der Armut nicht entronnen werden kann.
Und dabei geht es um Vollzeitstellen. Tatsächlich arbeiten viele Mindestlohnbezieher aber nur Teilzeit. Das Portal Sozialpolitik Aktuell hat jüngst berechnet, wie viele Stunden man an verschiedenen Orten tatsächlich zum Mindestlohn arbeiten muss, um mit dem Nettoeinkommen zuzüglich Wohngeld überhaupt den Bedarf nach dem SGB II zu decken. Durch die sehr unterschiedlichen Mieten ergaben sich dabei große Abweichungen, aber schon der unterste Wert für Neustadt a.d. Waldnaab lag bei mindestens 21,4 Wochenstunden, also über einer Halbtagstätigkeit, während der obere, für die Stadt Fürstenfeldbruck, bei 25,3 Stunden pro Woche lag.
Das sind die Zeiten, für die eine einzelne Person zum Mindestlohn arbeiten muss, um aus dem Bedarf für aufzahlendes Bürgergeld herauszukommen. Dabei muss das Wohngeld überhaupt erst einmal fließen – die Bearbeitungszeiten sind berüchtigt und liegen teils bei mehr als sechs Monaten.
Als die Ampelregierung die letzte Erhöhung des Mindestlohns einführte, die auf zwölf Euro pro Stunde, war diese Forderung übrigens bereits einige Jahre alt. Die SPD hatte sie schon 2017 beschlossen, also vier Jahre, ehe diese Erhöhung dann realisiert wurde. Ohne sie in der Zwischenzeit anzupassen, versteht sich. Der Einsatz für Niedriglöhner hält sich in engen Grenzen.
Dabei ist der Mindestlohn auch eine wichtige Stellschraube, was das Lohnniveau insgesamt angeht, und an diesem Lohnniveau hängt eine ganze Reihe weiterer Dinge.
Die Kassenlage der Sozialversicherungen beispielsweise, die deutlich besser wäre, wären die Löhne in Deutschland nicht schon lange unterdurchschnittlich gestiegen. Oder der Binnenmarkt, der vor bald zwanzig Jahren gezielt einer Exportwirtschaft geopfert wurde, die, dank der Selbstverstümmelung durch die Russlandsanktionen, nun an Auszehrung leidet.
Klar, den Unternehmervertretern konnte man das noch nie vermitteln, die interessieren sich nur für ihre eigenen Zahlen und wollen schlicht immer möglichst niedrige Löhne. Aber Politiker, die noch ein wenig Einblick in volkswirtschaftliche Zusammenhänge haben, müssten erkennen, dass eine deutliche Anhebung des Mindestlohns der einfachste Schritt wäre, um das Lohnniveau insgesamt zu heben und damit den Binnenmarkt wieder etwas zu beleben, damit er die Ausfälle im Exportsektor zumindest teilweise kompensieren kann. Für das Land ist ein höherer Mindestlohn um Vieles besser als die Abermilliarden, die gerade in die Rüstung gepumpt werden.
Zumindest früher hatten Sozialdemokraten wenigstens diese Zusammenhänge im Kopf. Eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12,41 Euro erreicht aber nicht mehr, als einen Teil der realen Lohnsenkung durch die Inflation für die Mindestlohnempfänger abzufangen. Eben das übliche Trauerspiel.
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