Wie eine inkompetente Staatsführung die Ukraine in die Katastrophe getrieben hat
Von Sergei Poletajew
Am vergangenen 21. November feierte der Westen den zehnten Jahrestag des sogenannten "Euromaidan". An diesem Tag im Jahr 2013 gab der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch bekannt, dass die Ukraine die Vorbereitungen für die Unterzeichnung eines Assoziierungsabkommens mit der EU aussetzt. Daraufhin rief der Journalist und Politaktivist Mustafa Najjem über die Sozialen Medien die Kiewer Bevölkerung dazu auf, sich auf dem zentralen Platz in Kiew, den Maidan, zu versammeln, um gegen den Entscheid von Janukowitsch zu protestieren.
Er versprach den Menschen Tee und eine gute Zeit. Zu Beginn nahmen nur wenige die Ereignisse ernst, die sich in den darauffolgenden Tagen entwickelten. Die Ukrainer waren Zeltlager auf Kiews zentralem Platz seit der Orangenen Revolution im Jahr 2004 gewohnt, als sich damals der politische Zirkus oft über die Mauern der Werchowna Rada, des nationalen Parlaments, hinaus bewegte und oft in Schlägereien ausartete. Die Opposition hatte jeweils zahlreiche Demonstranten auf diesem Platz zusammengetrommelt, als Janukowitsch das Abkommen über die russische Schwarzmeerflotte mit Moskau verlängerte; nach der Aufhebung der Verfassungsreform des ehemaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko; nach der Verhaftung der ehemaligen Premierministerin Julia Timoschenko und nach einem Dutzend anderer, weniger wichtiger Ereignisse. Auch dieses Mal schien es zunächst so, als würde es sich wieder so abspielen wie bisher: Die Demonstranten würden ein paar Tage etwas Lärm veranstalten, danach würde es ihnen draußen auf der Straße zu kalt werden und sie würden wieder nach Hause gehen. Außerdem waren im Vergleich zu den Massenprotesten früherer Jahre diesmal nicht so viele Protestierende anwesend.
Es sind bloß Kinder!
Am 30. November 2013 kam es zu einem Ereignis, das den Lauf der weiteren Geschichte der Ukraine mitbestimmen sollte. In dieser Nacht lösten Spezialeinheiten der Sonderpolizei Berkut gewaltsam das Zeltlager rund um das Unabhängigkeitsdenkmal auf. Das ganze Land sah im Fernsehen die "brutalen Prügelpolizisten" die mit Schlagstöcken auf die "Studenten" einschlugen und dies löste in weiten Teilen der Bevölkerung eine tiefe Empörung aus – einige waren entsetzt, andere befürworteten das Vorgehen der Sicherheitskräfte. Es spielte dabei eine Rolle, dass die meisten der sogenannten "Studenten" ihren Universitätsabschluss bereits zu Sowjetzeiten gemacht hatten und einige von ihnen sich sogar bereits im Ruhestand befanden. Die Ereignisse auf dem Maidan lösten einen Schneeballeffekt aus, der Ende Februar 2014 in einem großem Blutvergießen und einem Staatsstreich endete.
Es gibt viele Verschwörungstheorien rund um die Ereignisse, die sich in dieser Nacht vom 30. November abspielten. Manche behaupten, es habe sich um eine bewusste Provokation gehandelt, die vom Chef der Präsidialverwaltung, Sergei Ljowotschkin, organisiert worden sei. Er habe die Vorfälle auf seinem eigenen Fernsehsender InterTV übertragen lassen, wohl wissend, welche öffentliche Reaktion sie auslösen würden. Ljowotschkin wollte angeblich, dass die Opposition seinen Chef Janukowitsch aus dem Amt fegt.
Dieses Szenario ist jedoch höchst unwahrscheinlich. Erstens bleibt das Motiv von Ljowotschkin unklar. Noch wichtiger ist jedoch, dass die Ukraine noch nie – weder vor noch nach 2013 – einen so cleveren "Strippenzieher" hatte, der in der Lage gewesen wäre, einen derart listigen Plan auszuarbeiten und auszuführen; der sowohl die Sicherheitskräfte als auch die Opposition dazu zwingen würde, nach seiner Pfeife zu tanzen. Die Ukraine wurde nicht von einer Geheimloge regiert, sondern von einem politischen Sammelsurium. Die Handlungen ihrer Politiker dienten immer kleinlichen und kurzfristigen Zielen – das war das Hauptproblem der Ukraine und der Grund, warum sie ein so tragisches Schicksal erleiden musste.
Im Jahr 2010 wurden auch ukrainische Unternehmer, die in der Nähe des Unabhängigkeitsdenkmals gegen die Steuerreform protestierten, von der Polizei auseinander getrieben, unter dem Vorwand, dass der Weihnachtsbaum aufgestellt werden müsse. Zu diesem Zeitpunkt war Ljowotschkin bereits Chef der Präsidialverwaltung – bedeutet das, dass Janukowitsch drei Jahre lang einen offensichtlichen Verräter auf einem so wichtigen Posten hatte?
Offenbar gab es noch einen anderen Grund für die oben genannten Ereignisse. In der Nacht des 30. November kam es in der ukrainischen Gesellschaft, die bereits zu diesem Zeitpunkt von Widersprüchen zerrissen war, zu wütender Empörung. Schließlich flog der Deckel von dem überhitzten Dampfkessel weg und der Inhalt lief über. Die lokalen Eliten waren indes zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu bekämpfen und entweder verstanden sie nicht, was gerade geschah, oder sie konnten nichts dagegen tun.
Der Marsch in den Abgrund
Von diesem Moment an war jede neue Entscheidung der Kiewer Behörden schlimmer als die jeweils vorangehende. Und jede neue Entscheidung stürzte die Ukraine immer tiefer in den Abgrund. Janukowitsch machte die Spezialeinheiten der Berkut für die Gewalt am 30. November verantwortlich und beraubte sich damit nicht nur der Unterstützung der Sicherheitsdienste, sondern zog sich auch die Verachtung jenes Teils der Bevölkerung zu, der gegen den Maidan war. Um die Demonstranten zu bekämpfen, griff Janukowitsch auf die Dienste der sogenannten Tituschki zurück – bezahlte Provokateure. Er ließ diese "harten Kerle" gegen eine geringes Honorar aus den südöstlichen Regionen der Ukraine nach Kiew verfrachten und legitimierte damit praktisch die Gewalt gegen Zivilisten, die in der Ukraine bis heute andauert.
Janukowitsch konnte mit den schweren Unruhen der Pro-Maidan-Aktivisten in Kiew nicht klarkommen. Die regulären Polizeikräfte wurden zusehends schwächer und in die Ecke getrieben, während die Berkut, die von den Behörden weiterhin für die Gewalt verantwortlich gemacht wurde, schließlich aufhörte Regierungsbefehle auszuführen. Ebenso konnte er die Besetzung regionaler Verwaltungsgebäude im Westen des Landes nicht verhindern. Angesichts der offen zur Schau gestellten Schwächen der Behörden, nutzte die Opposition ihre Chance und ging zum Angriff über.
Janukowitsch floh aus Kiew, wo bereits Gewehrkugeln über seinen Kopf hinwegzischten, während die Demonstranten die Straßen gewaltsam eroberten. Damals hätte er den Umsturz noch verhindern können, da er weiterhin der legitime Präsident war und die Anhänger der Anti-Maidan-Bewegung in Charkow bereit waren, ihm zu Hilfe zu eilen. Doch Janukowitsch entschied sich, im Schutze der Nacht nach Russland zu fliehen und die Ukraine einer aggressiven Minderheit zu überlassen, was das Land unausweichlich in einen Bürgerkrieg stürzen sollte.
Alexander Turtschinow – einer der Anführer auf dem Maidan, der unter Umgehung aller Gesetze zum amtierenden Präsidenten der Ukraine ernannt wurde – setzte den "glorreichen" Marsch in den Abgrund fort.
Turtschinow versuchte nicht, mit den Gegnern des Maidan zu verhandeln, die, von Janukowitsch im Stich gelassen, sich nach Donezk und Lugansk zurückgezogen hatten. Die meisten von ihnen waren Mitglieder der Partei der Regionen und ihrer Kampfeinheit – der Oplot-Miliz von Alexander Sachartschenko. Stattdessen befahl Turtschinow der Armee, gegen sie vorzugehen – obwohl sich die Ereignisse im Donbass im Frühjahr 2014 nicht wesentlich von den Protesten unterschieden, die im Winter desselben Jahres in den westlichen Regionen der Ukraine ausbrachen. Diese aber hatten die volle Unterstützung des Westens, der Anführer des Maidan und Turtschinows selbst.
Die Gewalt in der gesamten Ukraine richteten sich gegen diejenigen, die nicht bereit waren, die neu an die Macht gekommene Regierung zu akzeptieren. Dies gipfelte schlussendlich am 2. Mai 2014 in massiven Ausschreitungen in Odessa und dem anschließenden Brand im lokalen Gewerkschaftshaus, bei dem viele Menschen – Gegner des Maidan – bei lebendigem Leib verbrannten. Die neue Regierung billigte die Aktionen der Randalierer, während in Pro-Maidan-Medien und in den sozialen Netzwerken von einem "gut ausgerichteten Grillfest" und "geräucherten Kolorady" geschwärmt wurde – "Kolorady" ist ein abfälliger Begriff für pro-russische Aktivisten. Die Gewaltspirale drehte sich in der Folge immer weiter, und schließlich brach der Krieg im Donbass aus.
Die Ukraine als Schlachtfeld
Petro Poroschenko, der im Juni 2014 zum ukrainischen Präsidenten gewählt wurde, versprach, den Konflikt in der Ostukraine zu beenden, und er hätte tatsächlich die Gelegenheit dazu gehabt. Er entschied sich jedoch stattdessen für den Einsatz von noch mehr Gewalt – mit voller Unterstützung des Westens.
Nach einer vernichtenden Niederlage im Donbass, sah sich Poroschenko im Herbst 2014 gezwungen, die erste Minsk-Vereinbarung zu unterzeichnen. Statt diese jedoch umzusetzen, führte er den Krieg im Osten weiter. Ob dies seine eigene Entscheidung war oder ob er dazu von ukrainischen Radikalen oder vom Westen gedrängt wurde, ist rückblickend nicht mehr von Bedeutung.
Die zweite Niederlage Kiews folgte Anfang 2015 und führte zu den zweiten Minsk-Vereinbarungen, die wiederum im Laufe der Jahre durch unzählige Provokationen sabotiert und nie umgesetzt wurden. Besonders zynisch war die Anschlagsserie im Donbass im Jahr 2018, kurz vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Russland. Zivilisten in Donezk, Gorlowka und in anderen ostukrainischen Städten wurden getötet, nur weil Kiew das Sportereignis in Russland stören wollte. Im Donbass haben diese Aktionen nur noch mehr Hass gegen Kiew ausgelöst und die letzte Chance auf eine Wiedervereinigung endgültig zunichte gemacht.
Im Jahr 2019 wurde Wladimir Selenskij zum Präsidenten gewählt. Wie sein Vorgänger versprach er, den Krieg zu beenden und eine konstruktive Ebene mit Russland zu finden – und wie sein Vorgänger tat er genau das Gegenteil. Tatsächlich führte jahrelange inkompetente Politik dazu, dass die Ukraine ihre eigenstaatliche Unabhängigkeit vollständig verlor und zu einem Rammbock des Westens gegen Russland wurde. In der Position von Selenskij hätte selbst der kompetenteste Politiker und Staatsmann nichts daran ändern können.
Moskau erkannte, dass die Dinge einen Punkt erreicht hatten, an dem sie nicht mehr friedlich gelöst werden konnten, und dass die Ukraine – deren Bevölkerung mit einer antirussischen Ideologie indoktriniert und vom Westen gedrängt und unterstützt wurde – dabei war, den Worten Taten folgen zu lassen. Dies zwang Russland dazu, Maßnahmen zu ergreifen, um seine eigenen nationalen Interessen zu schützen und die Bedrohung an seiner Westgrenze zu beseitigen.
Es ist bloß ein Kratzer
Die Militäroperation Russlands war der Höhepunkt der neunjährigen Reise Kiews in den Abgrund, die auf dem Maidan begann und zur militärischen Konfrontation mit Russland und zur Zerstörung der Ukraine führte. Aber selbst im Jahr 2022 – nach Ausbruch der Feindseligkeiten – hatte das Team von Selenskij noch eine Chance, dem Ganzen Einhalt zu gebieten. Bei den Verhandlungen in Istanbul wurde der Ukraine vonseiten der Russen ein äußerst vorteilhafter Kompromiss angeboten. Hätte Kiew diesen akzeptiert, hätte es vermutlich viele Russen schwer enttäuscht, dass ihre Regierung bereit war, solche Zugeständnisse zu machen.
Aber wieder einmal entschied sich die Ukraine gegen den Frieden und beschloss, weiterzukämpfen und auf dem Weg in den Abgrund zu bleiben. Dadurch wurde das Land nicht nur wirtschaftlich und militärisch schwächer, es schrumpfte auch physisch. Hunderttausende Menschen starben an der Front oder wurden verkrüppelt, während Millionen Ukrainer ins Ausland flohen.
Im Herbst 2022 führte die ukrainische Armee zwei erfolgreiche Militäroperationen durch und hätte dadurch erneut die Chance gehabt, von dieser Situation zu profitieren und zum Kompromiss von Istanbul zurückzukehren. Damals hatte Moskau die Gebiete jenseits des Donbass und der Krim noch nicht so fest im Griff wie heute, und höchstwahrscheinlich hätte die Ukraine diese Gebiete zurückbekommen können.
Stattdessen beschloss Kiew, einen Bombenanschlag auf die Krim-Brücke zu verüben. Dadurch wurde das eroberte Gebiet nördlich der Krim, das als Landkorridor für die Versorgung der Halbinsel wichtig war, von noch entscheidenderer Bedeutung, sodass die Ukraine zwei weitere Regionen verlor – Cherson und Saporoschje.
Im Sommer 2023 versuchte die Ukraine eine abenteuerliche Gegenoffensive und scheiterte damit. Dieses Ergebnis schockierte die westlichen Sponsoren der Ukraine nachhaltig und kostete Kiew zunehmend die Unterstützung des Westens – und es verlor damit die Chancen auf einen militärischen Sieg. Russland nutzte die Arroganz des Feindes aus und gewann diese entscheidende Schlacht des Jahres 2023, indem es sich auf Verteidigungstaktiken konzentrierte, was offenbar das Blatt wendete.
Jetzt, wo der zweite Kriegswinter beginnt, schießt sich die Ukraine immer wieder selbst ins Bein. Anstatt ihrer geschwächten Armee zu befehlen, sich auf die Verteidigung zu konzentrieren, drängt Kiew seine Soldaten aus Propagandagründen zu nutzlosen und blutigen Angriffen.
Niemand kann vorhersagen, wie der Krieg in der Ukraine verlaufen wird oder wann und wie er endet. Was wir jedoch mit Sicherheit sagen können, ist, dass die Ukraine von allen möglichen Optionen, die sich ihr bieten, immer und immer wieder die schlechteste wählt.
Aus dem Englischen.
Sergei Poletajew ist Mitbegründer und Herausgeber des Vatfor Project.
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