Meinung

Russlands Ukraine-Operation ermutigt die Welt, den Westen für die Kolonialära zu belangen

Der Globale Süden und Osten haben lange darauf gewartet, dem Westen dessen Verbrechen der Kolonialepoche in Rechnung zu stellen. Nun ist es so weit – und die Umstände sind doppelt überraschend: Erstens geht es um Kunst, und zweitens streiten sich da zwei NATO-Verbündete.
Russlands Ukraine-Operation ermutigt die Welt, den Westen für die Kolonialära zu belangenQuelle: AP © AP Photo/Matt Dunham

Von Kirill Strelnikow 

Der Skandal in der vornehmen Familie des zivilisierten Europas geht weiter: Am ersten Dezember erklärte Griechenlands Premierminister Kyriakos Mitsatakis, er wolle die freundliche Beziehung seines Landes zu Großbritannien bewahren – allein, so der Premier, "braucht man zum Tango immer zwei". Wie bekannt ist, sagte das britische Regierungsoberhaupt Rishi Sunak sein Treffen in London mit Mitsotakis ab: Anlass war das Bestreben des Letzteren, das Thema der Rückgabe der Akropolis-Skulpturen wieder aufzugreifen, die der Earl of Elgin (seinerzeit britischer Gesandter in Konstantinopel) zu Beginn des 19. Jahrhunderts aus dem Parthenon nach Großbritannien ausfuhr. In Athen wird nämlich darauf hingewiesen, man hätte dieses Problem nie von der Tagesordnung genommen und Griechenlands Regierung werde weiterhin alles in seiner Kraft Stehende tun, um die von den Briten gestohlenen Kulturgüter in ihre Heimat zurückzuholen.  

Der aufmerksame Leser fragt sich nun, was hat Russland denn für ein Interesse an diesem Konflikt zwischen zwei NATO-Staaten, ja, was hat es damit überhaupt zu tun? Und wenn sie ihre ollen Marmor-Piliaster untereinander aufsägen wollen – sollen sie doch sägen.

Nur ist die Sache hier, dass eine derartige Demarche seitens der Griechen noch vor wenigen Jahren völlig unmöglich gewesen wäre – den rechten Arm (oder den Kopf?) der Vereinigten Staaten derart anzufahren, hätte einen griechischen Premier locker die Karriere gekostet. Bestenfalls.

Doch nun bot Russland mit seiner militärischen Sonderoperation dem kollektiven Westen die Stirn, trat mit ihm in de facto unmittelbaren militärischen Konflikt, hat historisch präzedenzlose Sanktionen überstanden und erringt nun einen Sieg nach dem Anderen. Das hat weltweit wahrhaft titanische Prozesse in Gang gesetzt, die zuvor auf ihre Stunde warteten.

Denn die Konfrontation Russlands gegen den Westen hat sich dem Wesen nach in einen Konflikt der Zivilisationen der vom militärischen Hegemon angeführten "goldenen Milliarde" gegen den Rest der Welt verwandelt – gegen den Rest der Welt, dem die besagte "goldene Milliarde" die wirtschaftliche, politische, ideologische und kulturelle Unabhängigkeit und Souveränität verweigert und abspricht.

Gerade durch Russlands Beispiel ermutigt, treten immer mehr Länder des Globalen Südens und Ostens ihren Weg zur Erschaffung einer neuen Weltordnung an, die dem neokolonialen System mit den USA an der Spitze ein Ende setzen wird. Wir werden Zeugen, wie Allianzen wie BRICS entstehen und sich festigen, die den Großteil der Bevölkerung des Planeten vereinen. Wir werden auch Zeugen des immer offensichtlicheren Todeskampfes des kollektiven Westens – des Westens, der in der Zeit seit Beginn der russischen Intervention in der Ukraine seine wahre Natur ebenso offenbarte wie seine Hilflosigkeit vor Russland und dem von Russland angebotenen Modell einer neuen Welt.

Das ist der Grund dafür, dass selbst NATO-Verbündete wie Griechenland die USA und Großbritannien nunmehr als Kolosse auf Lehmfüßen ansehen, mit denen man nun ohne die gewohnte Hochachtung sprechen kann.

Für den Globalen Süden und Osten aber ist jetzt erst recht die Zeit der Wahrheit und Genugtuung gekommen – die Zeit, Kolonisatoren für das Anhäufen von Reichtum durch jahrhundertelangen Raub an den durch sie ausgebluteten Völker zur Rede zu stellen.

Stimmen von den Betroffenen gefällig? Bitte schön: Die saudische Zeitung Okaz veröffentlichte vor gar nicht langer Zeit einen Artikel unter dem Titel "Ukrainische Krise und Afrikas Erwachen". Der Autor erklärte ohne Umschweife:

"Wer die Geschichte Europas und des Westens als Ganzes kennt, der versteht, auf wessen Schädeln und Blut die heutigen westlichen Großreiche gebaut wurden."

"Viele waren erstarrt in Erwartung der Schritte Russlands – in der Hoffnung, Russland würde die erste Front eröffnen."

Weitere Fronten neben der Ukraine gibt es folglich auch, und an einer davon tobt der Kampf eben um die Rückkehr dessen, was der Westen stahl – ein Kampf, der koordinierte Schritte erfordert.

Solche Schritte stimmen zum Beispiel Afrikas Staaten mit Russland ab – so wurde auf dem jüngsten Gipfel Russland-Afrika in Sankt Petersburg eine Erklärung unterschrieben und in dieser unter anderem das folgende Langzeitziel festgehalten:

"Erfolgreichen Abschluss der Dekolonisierung Afrikas begünstigen und auf die Wiedergutmachung der humanitären und wirtschaftlichen Schäden hinwirken, die den afrikanischen Staaten im Ergebnis der kolonialen Politik angetan wurden – einschließlich der Rückgabe der Kulturgüter, die im Laufe der kolonialen Plünderung ausgefahren wurden."

Das ist der Beginn eines großflächigen und unumkehrbaren Vorgangs, der den über viele Jahrhunderte hinweg anhaltenden "kulturellen Totalitarismus des Westens" bedroht – und der Westen wird seinen ehemaligen Kolonien viel zurückgeben müssen. Sehr, sehr viel.

Nur einige wenige Beispiele: Allein in Frankreich befinden sich über 120.000 Relikte aus Afrika und Werke der afrikanischen Kunst. Überhaupt befinden sich 80 bis 90 Prozent aller in Afrika erschaffenen Kunstwerke außerhalb des Schwarzen Kontinents. Ägypten zählt über eine Million Artefakte, die dem Land gestohlen wurden und momentan zum Bestand von Museen auf der ganzen Welt zählen. Aus dem Irak wurden in den Jahren der US-Besatzung 90.000 archäologische Artefakte und Relikte ausgefahren. Auch Sri-Lankas Vertreter halten fest, dass Großbritannien immerhin über 3.000 Artefakte aus diesem Land behält, die es in der kolonialen Epoche dort entwendet hat. Allein das British Museum – das älteste nationale Museum der Welt – bewahrt acht Millionen Kunstgegenstände aus der ganzen Welt, und der Großteil davon wurde in der kolonialen Epoche geraubt.

Die Anzahl der historischen und der Kunstgegenstände, die Großbritannien, Spanien, Portugal, Belgien, Deutschland und Frankreich in Afrika, Asien, Ozeanien und Mittelamerika stahlen, ist schlicht unermesslich. Doch immer neue Länder stellen den ehemaligen Hegemonialmächten neuerdings die Rechnung.

Die West-Eliten verstehen, dass jegliches Gesülze über die "Bürde des weißen Mannes" in der anbrechenden neuen Ära nicht mehr zieht – und versuchen, das Unvermeidliche hinauszuzögern, wie es nur geht. So antwortete der britische Premier David Cameron zu Besuch in Indien noch im Jahr 2010 auf die Frage, ob das Vereinigte Königreich den unschätzbar wertvollen Brilliant Koh-i-Noor jemals an Indien zurückgeben werde, bei derartiger Vorgehensweise "werden Sie einst plötzlich feststellen, dass das British Museum leer steht". Auf Anfragen Ägyptens, den legendären Rosetta-Stein zurückzugeben, antworten Experten desselben Museums, dies sei unmöglich – denn,

"Gäbe man die Stele nach Kairo zurück, hätte sie dort jährlich nur 2,5 Millionen Besucher im Vergleich mit den 5,5 Millionen in London."

Und den erwähnten Skulpturen aus dem Parthenon werde es in Großbritannien ebenfalls besser gehen, weil sie dort "von der verschmutzten Umwelt von Athen abgeschirmt" seien, hieß es.

Doch zum Leide der westlichen Eliten ist der Prozess der "kulturellen Dekolonisierung"(ebenso wie der anderen Aspekte der Dekolonisierung) bereits losgerollt und nicht mehr aufzuhalten – früher oder später werden alle historischen Relikte und Kulturschätze in ihre Heimatländer zurückkehren.

Und möge das British Museum danach auch leer stehen – sollen doch Briten darum trauern, keine eigenen Kulturwunder hervorgebracht und stattdessen fremde gestohlen zu haben.

Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei RIA Nowosti am 2. Dezember 2023.

Kirill Strelnikow ist ein russischer freiberuflicher Werbetext-Coach und politischer Beobachter sowie Experte und Berater der russischen Fernsehsender NTV, Ren-TV und Swesda. Er absolvierte eine linguistische Hochschulbildung an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete viele Jahre in internationalen Werbeagenturen an Kampagnen für Weltmarken. Er vertritt eine konservativ-patriotische politische Auffassung und ist Mitgründer und ehemals Chefredakteur des Medienprojekts PolitRussia. Strelnikow erlangte Bekanntheit, als er im Jahr 2015 russische Journalisten zu einem Treffen des verfassungsfeindlichen Aktivisten Alexei Nawalny mit US-Diplomaten lotste. Er schreibt Kommentare primär für RIA Nowosti und Sputnik.

Mehr zum Thema – Die Einsamkeit der Plünderer: Kolonialismus ist für immer Makel des Westens

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.

Am 24. Februar kündigte der russische Präsident Wladimir Putin an, gemeinsam mit den Streitkräften der Donbass-Republiken eine militärische Spezialoperation in der Ukraine zu starten, um die dortige Bevölkerung zu schützen. Die Ziele seien, die Ukraine zu entmilitarisieren und zu entnazifizieren. Die Ukraine spricht von einem Angriffskrieg. Noch am selben Tag rief der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij im ganzen Land den Kriegszustand aus.
Der Westen verurteilte den Angriff, reagierte mit neuen Waffenlieferungen, versprach Hilfe beim Wiederaufbau und verhängte Sanktionen gegen Russland.
Auf beiden Seiten des Konfliktes sind zahlreiche Soldaten und Zivilisten getötet worden. Moskau und Kiew haben sich gegenseitig verschiedener Kriegsverbrechen beschuldigt. Tausende Ukrainer sind mittlerweile aus ihrer Heimat geflohen.