"Könnte der Anfang vom Ende der NATO sein" – Russland hat das Schicksal der Allianz entschieden
Von Wiktorija Nikiforowa
Robert Siley, ein prominenter britischer Politiker, hat in einem Leitartikel bei Foreign Affairs jüngst seine Sicht darauf dargelegt, welche Ziele Russland mit seiner militärischen Sonderoperation verfolge. Siley ist kein Russlandfreund und ruft die Briten ständig dazu auf, sich "auf einen Krieg gegen Russland vorzubereiten". Schon interessant, die Sonderoperation mit den Augen eines Feindes zu sehen: Wovor hat der Militär aus einem alten englischen Adelsgeschlecht denn derartige Angst?
Als eines der Ziele Russlands im Ukraine-Konflikt sieht Siley eine unweigerliche Schwächung der NATO, und darüber lässt sich kaum streiten: Die Produktionskapazität der westlichen Rüstungsindustrie hat sich als für lang anhaltende Feindseligkeiten unterdimensioniert gezeigt – mal fehlt dies, mal jenes. Und Gespräche über die Notwendigkeit, das Herstellungstempo von Artilleriegeschossen zu erhöhen – und erst recht, Standards von Waffensystemen oder wenigstens deren Herstellung zu unifizieren –, bleiben Gespräche.
Massenhafte Zerstörung von NATO-Gerät auf dem Schlachtfeld hat die Regierungen der Herstellerstaaten sichtlich demoralisiert. Das Sterben von Söldnern ebendort erfreut sie ebenso wenig. Und schon der Gedanke, mit den eigenen Heeren in einen richtigen Krieg zu ziehen, versetzt sie gar in Angst und Schrecken – der Ruf der Allianz, die dies einst mit der ganzen Welt tat, ist nun angeschlagen.
Schlimmer noch: Die Niederlagen des ukrainischen Militärs haben Chaos in den Reihen der Allianz ausgelöst, Hysterie, Zweifel und Geflenne: Lasst uns doch jegliche Hilfe an die Ukraine ganz einstellen – nein, lasst uns ihr noch etwas geben – nein, lieber nicht, haben ja selber nicht genug. Der NATO-Monolith zeigt Sprünge – die Bündnispartner misstrauen sich gegenseitig und spähen mit Argusaugen nach dem Ersten, der das sinkende Schiff verlässt.
Welche Mittel dienen Russland nun nach Ansicht des britischen Militäranalysten zur Schwächung der NATO? Siley fasst die Lage ganzheitlich ins Auge: Ihm zufolge sind dies neben militärischen auch wirtschaftliche, politische, diplomatische und sogar kulturelle Mittel – buchstäblich alles, vom Export von Energieträgern über Drittstaaten über das Anheizen der Inflation in Europa und das Befüllen der Regale in den russischen Geschäften mit guten und erschwinglichen Waren bis hin zur Veröffentlichung von Kriegsgedichtsammelbändern.
Kriegsgedichtsammelbänder … Ja was hat das denn mit der Sache zu tun, fragt man sich? Aber an sich hat Bob Siley ja recht. Das alles gehört zur Soft Power (auch zur nach innen angewandten, Anm. d. Red.) und vermag als solche das Weltbild neu zu formen, arbeitet also für die Zukunft. Nur: Die Entscheidung, den Ukraine-Konflikt global zu machen, fiel nicht in Russland – sondern es war der Westen, der den totalen Krieg erklärte. Doch dort fängt man eben stets sofort mit dem altbekannten Gemaule an, sobald sich die Niederlage abzeichnet: Och menno, die Russen missachten bei der Kriegsführung schon wieder die "Regeln" (genau die, auf denen die "Weltordnung basiert", nicht wahr? Anm. d. Red.), wie kann man nur?! Und so heulten sie alle schon immer herum, von Napoleon bis Hitler.
Zum Schicksal des Nordatlantik-Bündnisses in der nächsten Zukunft lässt sich gern ein weiterer Militäranalyst befragen – der norwegische Diplomat Jo Inge Bekkevold schrieb hierzu ebenfalls einen Leitartikel, und dieser wurde in der Foreign Policy veröffentlicht. Bekkevold ist ebenso wenig Russlandfreund wie Siley, er hat keinerlei Motiv, die NATO verfrüht zu Grabe zu tragen. Doch ist der Tenor am Anfang seines Leitartikels eindeutig "vivat NATO", so malt der Wikinger am Ende gleich drei Ragnarök-Szenarien im Spektrum "schreckliches Ende" bis "endloser Schrecken".
Das erste Szenario sagt voraus, dass in den USA Donald Trump oder einer seiner Mitstreiter Präsident wird – und die USA sofort die NATO ver- und ihre europäischen Verbündeten ihrem eigenen Schicksal überlassen. Ohne den nuklearen Schirm der USA fänden sich die Mitglieder der Rest-NATO in einer schwierigen Lage wieder. Bekkevold schließt nicht aus:
"Dies kann sogar das Ende der NATO bedeuten."
Im zweiten Szenario verlassen die USA zwar nicht die NATO, dafür aber die Ukraine mit ihrem Krieg, dessen alle schon überdrüssig sind – denn dort können sie ja eh nichts reißen – und disponieren alle Kräfte zum Konflikt mit China um. Und wenn der Diplomat schreibt "alle Kräfte", dann meint er auch wirklich alle, weil bei einer derartigen Wendung auch die europäischen NATO-Mitglieder mitziehen müssten. Doch für sie wäre eine militärische Konfrontation mit China wirtschaftlich ruinös und überhaupt das Verderben – und angesichts dessen würden sie sehr schnell protestieren und miteinander in Streitigkeiten geraten. Insbesondere osteuropäische Bündnispartner wie Polen kommen dem Norweger hier unzuverlässig vor. Differenzen bis hin zu Spaltungen werden die NATO bis zur Handlungsunfähigkeit lähmen, nimmt er an.
Das dritte Szenario ist gewissermaßen eine extreme Abwandlung des zweiten (ob mit oder ohne China): Bekkevold nennt es sehr höflich "die zersplitterte NATO". Jeder Bündnispartner werde plötzlich eigene Interessen entwickeln – oder bestehender gewahr werden – und Streitigkeiten alle gegen alle beginnen: Griechenland streitet mit der Türkei, Italien und Frankreich laden sich selbst in Afrika ein, Großbritannien reißt sich darum, ein wenig Krieg gegen China zu führen. Und werden davor noch die Ukraine, Georgien, Moldawien und – wer weiß, wie sich alles entwickeln kann – auch Serbien in die NATO aufgenommen, dann werden allgemeine Differenzen noch akuter. Eine "zersplitterte NATO" bedeutet auf gut Deutsch ebenfalls den Zerfall der einst mächtigen Kriegsallianz.
Befürchtungen wie die obigen sind natürlich absolut realistisch – doch dass man sie im Westen entwickelt, bedeutet für Russland nicht etwa einen Sieg, sondern nur eine weitere Herausforderung. Der kollektive Westen hat gut verstanden, dass es um seine dauerhafte Hegemonie geht, die mit der NATO als Hauptwerkzeug aufrechterhalten und durchgesetzt werden soll. Darum geht es letztendlich auch auf dem Schlachtfeld im Donbass und der Ukraine. Für die westliche Weltherrschaft ist die NATO ist aber gleichzeitig auch die sprichwörtliche Ferse des Achill, zu der Moskau sich die Schussbahn freiräumen will. Natürlich wird man dort um die Bewahrung der eigenen Macht kämpfen – ernsthaft, bis zum Tod. Nicht umsonst erteilt etwa besagter Rob Siley jeglichen Versuchen eine Absage, mit Moskau zu verhandeln. Mit Schrecken auf Russlands Erfolge blickend betont er, Russland werde jede Feuerpause nutzen, um die eigene militärische Macht weiter auszubauen:
"Jedes Finale, das einen bedeutenden Teil ukrainischen Gebiets in Putins Besitz zurücklässt, wird ihm die Aussage erlauben, er habe die NATO an Russlands Grenzen aufgehalten. Er wird den Sieg verkünden und neu aufrüsten, um sich für neue Konflikte vorzubereiten."
So wird dem kollektiven Westen nahegelegt, sich auf einen "intensiven kalten Krieg" gegen Russland vorzubereiten, der sich mindestens bis zum Ende der Präsidentschaft Putins hinziehen werde – "und möglicherweise auch in die Zeit danach". Schlechte Nachrichten für die NATO – Generalsekretär Stoltenberg sollte schon einmal beginnen, sich Sorgen zu machen.
Übersetzt aus dem Russischen und zuerst erschienen am 6. Dezember bei RIA Nowosti.
Wiktorija Nikiforowa ist eine russische Buchautorin, Dramaturgin, Drehbuchautorin und Journalistin. Sie begann ihre Karriere als Theaterkritikerin. Seit diesem Jahr schreibt sie als politische Beobachterin analytische Kolumnen für RIA Nowosti, erlangte Bekanntheit mit dem Artikel "Wofür Russland in der Ukraine kämpft" vom 06. April 2022. Sie steht unter persönlichen Sanktionen mehrerer EU-Staaten, der Schweiz und der Ukraine.
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